Dass alles tiefe, ernste Denken nur der Seele unverzagtes Mühen ist
Elke hat Kapitel 23 gelesen trällert ehrfürchtig vor sich hin:
Bulkington und kein Ende, so scheint es. Nicht dass er nun gerade mir im dritten Kapitel sonderlich aufgefallen wäre. Doch erstaunlicherweise habe ich auch eine ihn betreffende Bleistiftnotiz am Rand – ganz woanders.
Im Göske-Nachwort nämlich. Aber haben eigentlich schon alle positiv auf die das dreiundzwanzigste Kapitel dominierende Frage geantwortet?:
Sollte einer das verneinen müssen, wird er in der weiteren Handlung auch keine Gelegenheit mehr haben, ihn näher kennenzulernen. Denn er wird nie wieder vorkommen. – Warum?
Das Los des armen Bulkington, der doch als Bild von einem Seemann, edler Charakter und bei allen bisherigen Bordkameraden als “überaus beliebt” beschrieben wird (Seite 53) ist es, zu den Melvilleschen Ungereimtheiten des Buches zu gehören. (Wir haben an anderer Stelle schon über solche fabuliert.) Auf Deutsch: er wird als Romanfigur überflüssig, fällt den zahlreichen Änderungen und neuen Ideen während des Schreibens zum Opfer.
Bei Göske/Jendis (und genau da steht mein Kritzelvermerk) heißt es dazu:
Manche Motive […] werden aufgerufen, probeweise erkundet, abgewandelt anverwandelt und wieder verworfen. Dies gilt auch für die Figurengestaltung. Im dritten Kapitel zum Beispiel trifft der noch unerfahrene Ismael im Wirtshaus einen hünenhaften, bei den Seeleuten überaus beliebten Virginier namens Bulkington, der, wie er sagt, “bald schon mein Bordkamerad werden sollte (wenn auch nur sozusagen als stiller Teilhaber, was diese Erzählung betrifft)”. Der eingeklammerte Zusatz ist sicher späteren Datums, denn Bulkington steht zwar in Kapitel 23 urplötzlich am Ruder der Pequod, wird aber danach nie mehr gesehen.
Die Mutmaßung des Nachwortschreibers: Der gute Bulkington ist als Nebenfigur und Begleiter Ismaels entbehrlich geworden, da Melville ihm inzwischen seinen Blutsbruder Queequeg erfunden hat. Damit erhält die “grabsteinlose Gruft”, die er ihm in diesem Kapitel zimmert, neben dem tiefen Sinn der ihm verliehenen Symbolik eine ganz eigene Bedeutung. Er “hat die Figur des edlen (weißen) Seemanns […] nicht sang- und klanglos aus dem Manuskript entfernt. Nein, Bulkington kommt zu höheren Ehren. In diesem hymnischen “Westentaschenkapitel” setzt Ismael ihm ein Denkmal, […] stilisiert ihn zur Verkörperung furchtloser Wahrheitssuche, zum trotzigen “Halbgott” jener See, die die symbolische Gegenwelt des “trügerischen” sklavischen Lebens an Land bildet. Zugleich bleibt uns der heroische, allseits beliebte Bulkington als Alternative zu Ahabs menschenverachtender Ich- und Rachsucht in Erinnerung – eine Alternative freilich, die in jener Gesellschaft an Bord der Pequod keinen Platz hat.” (Seite 892)
Wow, da hat er die allegorische Verwobenheit unseres verlorenen Helden ja gleich kompakt mit ausgeleuchtet, der Herr Nachwörtler. Nur den Ahab haben sie mir fast ein bisschen arg festgezurrt: Kennt ihr nun (etwa) Ahab? – Ach, und mir hätte höchstens noch der unbändige Freiheitsdrang gefehlt, den das Bild des Meeres in einem solchen Vergleich immer verströmt. Besonders in der großen und atemberaubenden Melvilleschen Poesie des ganzen Kapitels, die mich hinsinken lässt – darf ich?:
Kennt ihr nun Bulkington? Flüchtige Blicke meint ihr zu erhaschen auf diese den Sterblichen unerträgliche Wahrheit, dass alles tiefe, ernste Denken nur der Seele unverzagtes Mühen ist, ihr Meer sich weit und unabhängig zu bewahren, derweil des Himmels und der Erden ungestümste Winde sich verschwören, um sie am trügerischen Sklavenufer auf den Strand zu werfen?
Jedoch: So wie nur fern von jedem Land die höchste Wahrheit wohnt, die uferlos und unbegrenzt wie Gott, so ist es besser auch, in jener heulenden Unendlichkeit zu sterben, als bar des Ruhms an Leegestaden zu zerschellen, und wär dies auch die sichre Rettung! denn wer, o wer wohl, würde wie ein Wurm kratzfüßig krumm ans Ufer kriechen wollen! Schrecken des Schrecklichen! Ist all die Not und Pein denn ganz umsonst? Fass dir ein Herz, o Bulkington, fass dir ein Herz! Bewahr dir deinen Trotz, du Halbgott! Hinauf aus dem Geschäum, wo du im Meer versunken, schwingt deine gottgewordene Gestalt sich geradewegs empor!
Hach, man möchte es in Versform schreiben – und murmelt es wie ein Poem vor sich hin. Was für ein wunderbares Stück Sprache verdanken wir somit einem der unbekümmerten loose Ends im Moby-Dick!
Und nirgendwo würde es besser hinpassen, dieses Kapitel, als vor das stolze, ehrfürchtige und angriffslustige Plädoyer des Anwalts der Walfänger, oder?
[…] mir, glaub ich, zum ersten Mal so richtig um Weihnachten (Chapter 22) und beim schaumgewordenen Bulkington bewusst […]
Nemo contra Moby nisi Ahab ipse « Moby-Dick™
11. November 2008 at 4:30 am