Proposing a city in which I would not, in fact, be allowed to exist
Update zu Happy Birthday, Herman,
The New York Rant,
New York 1660
und Vorabendvorstellung:
Bildende Kunst ist immer am schönsten, wenn ein bissel was zu grinsen mit drin ist. Staatstragende Farbflächen, Gouachen zur Kritik bourgeoiser Wahrnehmungsgewohnheiten — hübsch, und jetzt?
Die Manhattaner Künstlerin Melissa Gould, vulgo MeGo, hat aus den Stadtplänen von Mahnhattan und ausgerechnet Berlin eins von jenen Kunstwerken gemacht, mit denen man eine Ewigkeit nicht fertig wird. Ein Guckbild. Besser als Fernsehen (Kunststück…), und eine über den Inhalt hinausweisende Dimension obendrauf.
Die Lithographie Neu-York zeigt New York in den Grenzen von 1939 (also ohne Nachkriegsneuerungen wie das Lincoln Center) mit Straßennamen, die so tun, als ob sie im nazischen Berlin lägen. Papier und Farbgebung imitieren ein originales Zeitdokument:
An obsessively detailed alternate-history map, imagining how Manhattan might have looked had the Nazis conquered it in World War II.
Vierfarbdruck, 68 auf 109 Zentimeter, limitiert auf 20 Exemplare, 2.500 Dollar zuzüglich Porto und Zoll.
Für die historische (keineswegs politische) Korrektheit ihrer Fälschung hat MeGo zeitgenössische Straßenpläne eingescannt und digital die jüdischen Spuren daraus entfernt: Synagogen und Ortsnamen nach Juden. Das ist das Konzept der unbuilt landscape auf die Spitze getrieben.
Paradoxerweise will MeGo ihr Projekt ironisch verstanden wissen, bezeichnet es aber unter anderem als Hommage an die deutsche Sprache, die Sprache ihrer eigenen Vorfahren, und an die poetischen Aspekte der deutschen Kultur. Deutsch spricht sie selbst noch fließend, und in einem deutsch-österreichischen Umfeld könnte sie heute leben, wenn da nicht durch eine Verkettung saudummer Umstände die historische Kontinuität über den Haufen geraten wäre. Es ist nicht ihre erste Arbeit mit deutschem Bezug: Die Installationen From Adler to Zybler und Schadenfreude sprechen von ähnlichen Ausgangs- und Zielpunkten.
In Neu-York heißt der Hudson River Havel, der East River Spree, die Fifth Avenue Kurfürstendamm, überhaupt sind die Avenues allesamt etwas mit “Kaiserlich” und “Königlich”, die numerierten Querstraßen sind ausgeschrieben benannt. Unterhalb der 14. Street sind sogar geschlossene Berliner Stadtviertel durchgehalten. Unter den Straßennamen nach großen Deutschen finden sich auch Deutschjuden: ein Missgriff, der gerade für Nazigebräuche charakteristisch ist und die Sammlung umso authentischer macht. Am Columbus Circle steht das Brandenburger Tor, der Central Park ist der Tiergarten, mittendrin der Wannsee, der Times Square der Potsdamer Platz, das Museum of Natural History das Pergamon Museum. Mein persönlicher architektonischer Liebling in New York, die Brooklyn Bridge, heißt Potsdamer Brücke; eine der gelungensten Umdeutungen. Auch schön: Der Grunewald liegt in Bauernschädel-New-Jersey.
Als Muttersprachler stört mich, dass nirgends ein ß vorkommt — in diesem einen Falle gibt die Unsitte Sinn, die meisten “Strassen” als “Str.” abzukürzen — und die Straßennamen, die unter einem Albert Speer zustande gekommen wären oder wer immer unter den Nazis für dergleichen zuständig war, mit Leerschritt geschrieben sind statt zusammen oder bei längeren Wortgebilden mit Bindestrich. “Niebelungen Weg”! Nibelungenweg heißt das.
Die Website ist überaus liebevoll und interaktiv gestaltet; MeGo gibt alles, um ihre 20 Exemplare à 1.726,10 Euro (Stand vom 8. Februar 2008) zu inszenieren. Hilfreich ist die “Zeichen-Erklärung” mit Konkordanz in beide Sprachrichtungen nebst Übersetzung der deutschen Namen. Schlagen Sie ruhig mal die 21 Ausschnitte der Reproduktion auf und direktvergleichen Sie in Google Earth mit: ein lehrreicher Spaß.
Was den Melvilleaner interessiert: Die Pearl Street mit Herman Melvilles Geburtshaus und erstem Wohnort heißt “Monbijou Strasse” (grrr! Die Schreibweise!), sinnvoll oder nicht.
Ein paralleles Projekt mit New Yorker Hotels im Berlin von 1935 oder Berliner Hotels im New York von 1935 ist in Arbeit.
Bilder: Melissa Gould, Lower Manhattan;
Film: Insterburg & Co.: Ich liebte ein Mädchen.
Danke fuer Ihre denkvoll Post ueber NEU-YORK! Eine kleine Korrektur: Ich bin kein California Girl — Ich habe meine “Autobiographical Essay” in Kalifornia geschrieben weil ich war da fuer die Ur-Preparationen von meine “FLOOR PLAN” installation. Ich lebe immer in Manhattan, nicht so fern von Herman Melville’s Geburtshaus. Entschuldigen Sie mir meine schreckliche Deutsch! And, yes, there may appear to be some cartographic errors in the street name transcriptions, however the original 1939 Berlin map I used also wrote “Str.” nicht Strasse, zum Beispiel…
MeGo (Melissa Gould)
8. February 2008 at 5:08 am
PS Perfect song und slideshow!
MeGo (Melissa Gould)
8. February 2008 at 5:10 am
Das “California Girl” ist from sea to shining sea umgesiedelt, ihr Deutsch durchaus nachvollziehbar :o)
Der Song ist von Insterburg & Co., die heute kaum ein Deutscher mehr kennt. Welcome to our world of 1970’s German underground!
And on the weblog, of course.
Wolf
8. February 2008 at 5:43 am
Aach, das Lied kennen schon noch einige paar mehr Leut. Die Truppe (oder teile von ihr) haben ja später mit ihrem »Noch’n Tost, noch’n Ei,…« einen richtigen deutschlandweiten Hit.
Zur Neu-York-Karte: Mich als Liebhaber von richtig elaborierten Alternativwelt-Karten freut es, dass Ihr Melville-Seeleute hier so begeistert andockt in dieser etwas gruselig-contrafaktischen Stadt.
Übrigens: Tolle Linkliste habt Ihr hier! Endlich wieder mal eine Linkliste, in der man etwas länger stöbern kann.
Ich behalt Euch im Auge. Immerhin les ich selber schön langsam die neue Hanser-Ausgabe von »Moby Dick«.
molosovsky
8. February 2008 at 8:09 am
(Glad “I” could bring you two together, if you didn’t already know each other. Now, where is my “Billy” Kinderwurst avatar? Ich bin hungrig!)
MeGo
8. February 2008 at 12:18 pm
Ah! Da ist es! Endlich!
MeGo
8. February 2008 at 12:20 pm
Es ist Dein Verdienst, liebe MeGo.
molosovsky
8. February 2008 at 4:45 pm
Bloggen macht nicht einsam. Blogging makes things happen :o)
Die Gebrüder Blattschuss waren ein Insterburg-Derivat? Das erfährt man nach 30 Jahren Ohrwurm…
Wolf
8. February 2008 at 5:36 pm
Hab inzwischen nachgeguckt: Insterburg und Blattschuss waren zwei verschiedene Musikgruppen. Aber ich komm aus Bayern. Bei mir hatten die allte Exotenbonus-Wohlwollen, auch wenn ich die Jungens nichts unterscheiden konnt (damals … mittlerweile lass ich mir solche Feinheiten vom guten Prof. Wiki auseinanderpinzetten).
molosovsky
8. February 2008 at 7:39 pm
Dass ich Ingo Insterburg noch kenne, ist ja nicht ungewöhnlich, aber ihr jungen Menschen??? Ich habe dieses Lied geliebt! Die Diashow dazu ist genial.
Tante Milli
9. February 2008 at 7:42 pm
Bloggen makes eben nicht nur things happen, sondern hält auch jung .ò)
Ich kenn das Lied von einer Kassette aus der Stadtbibliothek meiner Kindheit. Hab ich sofort abgelauscht und fortan an Lagerfeuern vorgeklampft. Ein unfehlbarer Ankommer. Unangemeldet. Heute müsste man wahrscheinlich GEMA für sowas abdrücken.
Wolf
10. February 2008 at 3:18 pm
Ich bin nicht mehr so jung! Immerhin brauch ich einen Nasenhaarschneider und wurde bereits als Teen als ›alter Mann‹ gescholten.
molosovsky
10. February 2008 at 11:19 pm
[…] einen Kommentar » Update zu Proposing a city in which I would not, in fact, be allowed to exist und Ich verbitte mir solche zoologischen Spitzfindigkeiten! (Eine regelrechte Walschule): […]
Überall ist Entenhausen « Moby-Dick™
30. December 2008 at 12:02 am