Moby-Dick – The True Story
Elke segelt mit Owen Chase: Der Untergang der Essex
und macht ein Update zu Warum liegt hier überhaupt Stroh rum?:
… all their enchanted eyes intent upon the whale, which from side to side strangely vibrating his predestinating head, sent a broad band of overspreading semicircular foam before him as he rushed. Retribution, swift vengeance, eternal malice were in his whole aspect, and spite of all that mortal man could do, the solid white buttress of his forehead smote the ship’s starboard bow, till men and timbers reeled.
Moby-Dick Chapter 135: The Chase–Third Day.
Es ist der 15. Dezember 1820. In der endlosen Weite des Pazifik, auf 21° 42′ südlicher Breite.
Die Sonne brennt erbarmungslos auf die zwanzig Schiffbrüchigen in den drei zerbrechlich gewordenen Booten herab. Kein Schutz vor ihren sengenden Strahlen. Der Durst wird immer unerträglicher, schlimmer als der Hunger, aber sie können die winzige tägliche Trinkwasserration nicht noch weiter kürzen. Die Lage der Männer ist verzweifelt, denn seit Tagen herrscht Windstille; sie kommen dem rettenden Land, das über 1000 Seemeilen entfernt liegt, nicht näher und werden immer schwächer. Owen Chase, vor einem Monat noch Erster Maat des stolzen Walfängers Essex aus Nantucket, schreibt auf ein paar lose Blätter aus seiner Seemannskiste, die sein Logbuch sind:
Ständig redeten wir davon, wir müssten “Geduld haben und ausharren”. Wir nahmen uns vor – so fest die Entschlüsse der Seele eben sein können –, uns so lange ans Leben zu klammern, wie uns Hoffnung und die Luft zum Atmen blieben…
Owen Chase: Der Untergang der Essex. Verlag Die Hanse, 2000; Seite 78.
Owen Chase ist nicht der Abklatsch eines Starbuck aus einem billigen Vor-Melville und erst recht kein Ismael. Nein, den gab es wirklich. Und seine Geschichte ist kein Roman mit ausgeklügelter Dramaturgie, sondern der schlichte Bericht eines whaleman und unfreiwilligen Chronisten vom realen Untergang seines Schiffes und der Tragödie danach, die nur acht von zwanzig Seeleuten überstanden. Von einem Geschehen freilich, nie dagewesen und so unvorstellbar, dass die kollektive Erinnerung der über hundertjährigen Geschichte des Walfangs von Neuengland kein Beispiel dafür kannte: Am 20. November 1820 hatte ein riesiger Pottwal westlich der Galapagos-Inseln die Essex angegriffen, sie mit seiner gewaltigen Stirn zweimal gerammt und zum Sinken gebracht. Chase, rechte Hand seines Kapitäns George Pollard und Walbootführer, gehörte zu den Überlebenden der darauffolgenden monatelangen Strapazen.
Im Spätherbst 1821 veröffentlichte er, nach Nantucket zurückgekehrt, seine Aufzeichnungen von der Odyssee unter dem unaussprechlichen Titel
Owen Chase‘s Narrative of the Most Extraordinary and Distressing Shipwreck of the Whale-Ship Essex, of Nantucket; Which was Attacked and Finally Destroyed by a Large Spermaceti-Whale, in the Pacific Ocean; with An Account of the Unparalleled Sufferings of the Captain and Crew During a Space of Ninety-Three Days at Sea in Open Boats; in the Years 1819 & 1820.
in dem schon das ganze Buch steckte. Und man darf darüber spekulieren, ob es der authentische Bericht aus dem Boot war, womöglich dezent lektoriert, oder ob er – was bei einem whaleman, der die Harpune besser als die Feder führt, wahrscheinlicher ist – einen andern die Arbeit tun ließ. Bei Nathaniel Philbrick wird ein gewisser William Coffin, Jr. als Ghostwriter gehandelt (auch auf deutsch), und in Melvilles Randnotizen an seinem eigenen Owen Chase heißt es:
There seems no reason to suppose that Owen Chase himself wrote the Narrative. It bears obvious tokens of having been written for him; but at the same time, its whole air plainly evinces that it was carefully and conscientiously written to Owen’s dictation of the facts.
Von der Auflagenhöhe des Chase-Berichtes weiß man ja nix. Aber es fielen wohl auch ein paar Exemplare für den Familienclan ab, was für die Weltliteratur späterhin noch ein Segen werden sollte.
Denn 20 Jahre später geriet eins von denen in die Hände des Waljäger-Greenhorns und künftigen Schriftstellers Herman Melville und beeindruckte ihn so nachhaltig, dass der Angriff des tobenden Wals ihm zur Inspiration für den Handlungshöhepunkt seines dereinst berühmtesten Roman geriet. Frisch auf dem Walfänger Acushnet angeheuert, begegnete er 1841 mitten im Pazifik, sogar in der Nähe des Ortes, an dem die Essex untergegangen war, dem sechzehnjährigen William Chase, der auf dem Nantucketer Walschoner Lima unterwegs und der Sohn von Owen Chase höchstpersönlich war. Der hatte das Büchlein seines Vaters im Seesack und lieh es Melville zu treuen Händen – ohne es wohl jemals wiederzusehen. Verwurstet hat es Melville in mindestens zwei Kapiteln des Moby-Dick, wenn man mal voraussetzt, dass sein ganzes Buch an allen Ecken und Enden eine Hommage an solche Helden der Walfängerzunft wie die Crew der Essex ist. Und wenn man dabei nicht vergisst, dass die Geschichte von Moby Dick an der Stelle aufhört, wo die von Owen Chase anfängt.
Im Kapitel 45: The Affidavit bezieht er sich ausführlich und unmittelbar auf seine Kenntnis der Chase’schen Schilderungen, um dem ungläubigen Leser neben allem anderen zuvörderst die Wahrhaftigkeit schiffeversenkender Wale vor den Bug zu rammen. Dort erwähnt er auch seine Begegnung mit Chases Sohn auf hoher See.
Und das oben angeführte Zitat aus Kapitel 135 The Chase–Third Day, das den Augenblick des Angriffs Moby Dicks auf die Pequod wiedergibt, die nach seinem Rammstoß untergeht, lautet nahezu wörtlich wie die Darstellung des Maats der Essex. Den Vergleich hier daherzudeklamieren spar ich mir, da ich vom Chase (vorerst) nur im Besitz der deutschen Fassung bin und vom Moby (inzwischen) derer drei hab.
(Bei dieser Sachlage wundert man sich doch ein bisschen, warum die – vom Wolf zutreffend in der Literaturliste genannte – etwas rar und zögerlich erscheinende Haltung der Quellenforscher nicht weit nachdrücklicher daherkommt… was ja vielleicht inzwischen vonstatten geht, wenn man zet Be die Tatsache, dass die zur Zeit vergriffene deutschsprachige Ausgabe der Chase-Story bei Amazon kürzlich als Gebrauchtexemplar dreistellig gehandelt wurde, dahingehned deutet. Ätsch, ich hab sie voriges Jahr noch zu einem volkstümlichem Preis erhandelt.)
Aus dem unspektakulär schlichten Berichten des Owen Chase schriftstellerte Nathaniel Philbrick sein aufgepepptes In the Heart of the Sea. Was vielleicht etwas respektlos formuliert ist, denn schließlich erhielt er für das 2001 erschienene Buch den National Book Award. Philbrick, seines Zeichens Nantucketer, Segelfreak, Direktor des Egan Institute of Maritime Studies und Mitglied der Nantucket Historical Association, stellt die Geschichte in ihren wirtschaftlich-historischen Kontext. Er zeichnet fundiert und mit Liebe zum Detail das Bild der neuengländischen Walfangregion und der Nantucketer Gesellschaft jener Zeit und sortiert das Schicksal der Essex da hinein. Außerdem nutzt er – eine kleine Sensation – eine weitere Quelle des Ereignisses: das erst 1980 entdeckte Notizbuch des Schiffsjungen der Essex, Thomas Nickerson.
Zu dem gibts hier jetzt nix mehr, sondern vielleicht gelegentlich ein Update. Wie auch zu anderen Dokumenten um den Schiffsuntergang, dem sogenannten Paddack Letter beispielsweise, der die Rettung des zweiten Walbootes erhellt. Oder zu den Tagebuchaufzeichnungen der englischen Missionare Tyerman und Bennet, denen Kapitän Pollard irgendwo in der Südsee seine Geschichte erzählte. Weil – juchhei, was findet man nicht alles bei der ganzen Moby-Dick-Kramerei – in der aktuellen englischsprachigen Ausgabe des Chase-Buches bei Penguin Classics The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale sind diese und noch weitere und sogar die Melvilleschen Randbemerkungen enthalten. Weil, was noch viel besser ist, das Büchlein sich grad aus U.K. in mein Melvillealien-bestücktes Bücherregal aufgemacht hat, jahaaa.
So, und um die Schiffbruch-Odyssee zu Ende zu bringen, nu aber nochmal ein paar (Schiffs)Nägel mit Köpfen:
Kurz nach der Flaute vom 15. Dezember landeten die Seeleute auf einer kleinen Insel mit Trinkwasser und Essbarem, die heute Henderson Island heißt und von den Männern damals irrtümlich für das Nachbareiland Ducie gehalten wurde. Dort ließen sie drei ihrer Kameraden auf deren ausdrücklichen Wunsch zurück. Dass auch die gerettet wurden, erfuhr unser guter Chase erst, als sein Buch längst erschienen war.
Den anderen Mitgliedern der Crew stand das Schlimmste noch bevor: Die Boote wurden in einem Sturm getrennt und fanden nicht wieder zueinander, eines von ihnen fand vermutlich vollends aus dieser Welt – es ward nie wieder gesehen. Die Strapazen – widrige Winde, zur Neige gehende Rationen und einsetzender Wahnsinn – wurden unermesslich und sind menschlicher Vorstellung nicht zugänglich. Am Ende tranken sie den eigenen Urin und aßen das Fleisch ihrer gestorbenen Leidensgefährten. Und doch überlebten fünf von ihnen: Chase, Thomas Nickerson und Benjamin Lawrence wurden am 18. Februar vor der Küste Chiles von der Indian gerettet. Im Boot des Kapitäns Pollard inszenierte sich indessen noch eine Extratragödie: Ein Kamerad wurde ausgelost und erschossen, um den andern als Nahrung zu dienen. Die beiden Überlebenden nahm am 23. Februar die Dauphin an Bord.
Käpt’n Pollard erlitt auf seiner nächsten Reise einen weiteren Schiffbruch und fuhr nie wieder zur See. Melville traf ihn, einen stillen, bescheidenen und von Schuldgefühlen geplagten Mann, der inzwischen in Nantucket als Nachtwächter arbeitete, 1852 bei einem Besuch auf der Insel. Seine Sympathie für ihn war unverhohlen. Jahre später, selbst längst ein bescheidener Zollinspektor, setzte er ihm in ein paar Zeilen seines Poems Clarel (1876) ein Denkmal:
Nie lächelte er;
Rief man ihn, kam er;
nicht bitteren Geistes,
demütig und versöhnt;
Geduldig war er, widersetzte sich keinem;
Oft versank er in Gedanken an etwas Geheimes.Deutsch von Rainer G. Schmidt, 2006.
Owen Chase hingegen wurde ein erfolgreicher und angesehener Walkapitän.
Auf seiner letzten großen Fahrt klagte er jedoch über Kopfschmerzen. Ursächlich waren dafür wohl die Qualen, die er nach dem Schiffbruch der Essex durchgemacht hatte. Zwar lebte er nach seiner Pensionierung im Februar 1840 noch viele Jahre, doch die Kopfschmerzen peinigten ihn weiter. Zunehmend plagte ihn auch zum Ende seines Lebens die Furcht vor dem Verhungern. Dies führte unter anderem dazu, dass er auf dem Dachboden seines Hauses Hartkekse und andere Lebensmittel hortete. Am 7. März 1869 starb er im Alter von siebzig Jahren.
Nachwort von Iola Haverstick und Betty Shephard
in: Owen Chase: Der Untergang der Essex, Seite 137 f.
Bilder: Thomas Nickerson für Wikimedia Commons;
Nantucket Historical Association für PBS Ocean History;
Ellen Warner für Random House;
Elke.
Lied: The Pogues: Greenland Whale Fisheries aus: Red Roses For Me, 1984.
Klasse, Elke! Gut geschrieben, interessante Informationen, neue Literaturitpps. Bin begeistert.
BillyBudd
20. December 2008 at 8:24 am
Is there any information about this subject in other languages?
work and travel
29. December 2008 at 6:28 am
Yes, there is. In fact, this is the only information about this subject in German language. Elke’s article in some kind of English:
http://translate.google.de/translate?hl=de&ie=UTF-8&u=http%3A%2F%2Fismaels.wordpress.com%2F2008%2F12%2F20%2Fmoby-dick-the-true-story&sl=de&tl=en&history_state0=
Wolf
29. December 2008 at 10:37 pm
Soho, heute endlich mal ein Dankeschönchen an Frau BillyBudd. Nichts, was man lieber täte, als der geneigten Anhängerschaft Erbauung und Freude ins Haus zu tippseln. Zudem tut so ein herzwarmes Lob doch wohler, als man ahnt. :o)
Deshalb auch gleich noch eins an den Wolf für kundenfreundlichen Service am interessierten fremdsprachigen Leservolk.
Juhu, und außerdem kann ich dann ja auch gleich verkündigen, dass des Penguin Classics’ „The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale“ nun endlich nach langem Warten den Weg von der Insel zu mir gefunden hat. Mit einer fetten Überraschung obendrauf: denn es hat ein völlig anderes Cover als bestellt. Ich dachte immer, sowas können nur die Russen. ;o) Aber es ist alles drin, sogar viiiel mehr als erhofft – lauter todspannende Sachen und Leute, haaach… Es gibt sogar ein Poem über die Rettung – von einem Matrosen. Heißa, und Illus von den Originaltitelseiten. Jaha, ich glaub, das duftet heftigst nach lecker neuem Moby-Futter. :o))
hochhaushex
31. December 2008 at 1:48 am
Grübel… Und du hast mehr bezahlt als die derzeit mindesten 6,89…? *bestellfingerchenzuck*
Wolf
31. December 2008 at 3:19 am
[…] nannten. Nur, dass zwischen ihnen und dieser Küste tausende Seemeilen lagen. Es folgte eine Tragödie, an deren Ende sie kannibalisch ihre toten Kameraden aufaßen und die nur fünf Männer […]
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24. January 2010 at 12:05 pm
[…] zu Moby-Dick – The True Story und Bounty Day, Wal in Lee, Fayaway (beide von Elke und mit den nötigen […]
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12. February 2011 at 4:50 pm
[…] Essex, Sunk by a WhaleQuellen seiner Inspiration entdeckte: Tagebücher, die die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Moby Dick erzählen. 1819 startet das Walfangschiff Essex in Nantucket an der Ostküste Amerikas zu einer […]
All the sufferings of these miserable men of the Essex « Moby-Dick™
6. June 2011 at 3:55 pm
[…] sieht man vielleicht noch einem traumatisierten, im Kleinholz seines Schiffes schwimmenden Owen Chase nach. (Die paar von Melville herbeizitierten Naturforscher, die ihre diesbezügliche Weisheit […]
But while yet all a-rush to encounter the whale, could see naught in that brute but the deadliest ill. « Moby-Dick™
1. September 2011 at 12:03 am