Moby-Dick™

Leben mit Herman Melville

O Mädchen mein Mädchen (10, 30, 50, 70, 250, 260)

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Update zu Entschluss, Amerikas Goethe zu werden
und The Sorrows of English-Speaking Goethe Fans
(und zu Lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt auch irgendwie):

Es wird wohl 1999 gewesen sein: Die New Economy wusste noch nicht, dass ihre sprühende Energie ein letztes Aufbäumen war. Die florierende Softwareklitsche, in der ich als Drehbuchschreiber alt werden wollte, unternahm geschlossen einen Spontanausflug in den Englischen Garten, um die Sonnenfinsternis zu bewundern, und weil es eine Softwareklitsche war, nahm sie nicht mal den für Silvester angekündigten Y2K-“Virus” ernst. Fin de siècle war ein parodistischer Anklang an den letzten Jahrhundertwechsel; im schaulustigen Summen und Brummen des Englischen Gartens sprach mich zehn Minuten vor Eintritt der totalen Sonnenfinsternis ein durchaus ansehnliches Mädchen an, ob ich mit ihr hinter diesem Busch da drüben, wo sie einst ein prägendes Erlebnis hatte, noch einmal “Liebe machen” wollte, bevor wir alle tot seien, und ich schlug es aus. Den Menschen ging es ein letztes Mal gut.

Goethe, Mayfest, 1775, AusschnittDas hat Altvater Goethe sich zu seiner Zeit schon selbst ausrechnen können, dass am Ende des Jahrtausends sein 250. Geburtstag anstand: 1999 feierte man nebenbei auch noch Goethejahr. 2009 stelle ich weder fest, dass es irgend jemandem meiner Bekanntschaft auffallend “gut” ginge, noch dass der Buchhandel etwelche Saltos schlüge, um Goethen zum heutigen 260. zu gratulieren. Schlimm genug, dass die vollständige Coverage der Feierlichkeiten zu einem deutschen Nationalfeiertag von einem Freizeitblog kommen muss, der sich tunlicher mit dicken Fischen befassen sollte.

Etwas frischer in der Erinnerung auch der Jüngeren liegt das Mozartjahr 2006: Aus dem war auch schon im Sommer 2005 die Luft raus vor lauter Ankündigungen, wie toll alles wird, und Beteuerungen, wie zeitgemäß und mitreißend Mozart schon immer war. Und da entsinne ich mich einer Website, die Telephonklingeltöne aus Mozart-Themata zum kostenpflichtigen Download anbot; meine dadurch induzierte psychosomatische Akne klingt mittlerweile ab.

Dem Herrn Geheimrat, wie man vermuten darf, geht es gut, mit seinen 260 wahrscheinlich noch am besten von allen. Über Gedenktagen steht der drüber, allen voran über seinen eigenen. Eine Souveränität, die er mit fleißiger Vorsorge erreichen konnte: Als literarisches Debüt ein Bestseller, den man bis heute im Deutschunterricht kaputtquatschen oder wahlweise aus anderen als allein historischen Gründen lieb haben, den man sich kapitelweise telephonisch schicken lassen kann — was einen kategorialen Unterschied zu mozarteischen Klingeltönen darstellt! —, der jedenfalls zeitlos gültig geblieben ist und einen nie in Ruhe lassen wird — und im Spätwerk ein Pandämonium, das dem Sinn des Lebens ziemlich nahe kommt, so lässt sich in Frieden ruhen. Um den muss man sich also nicht verstärkt kümmern.

Wären wir zwanzig Jahre jünger, so segelten wir noch nach Nordamerika“, hat er 1819 der Aufzeichnung anheim gegeben, da war er 70. Mit 50, stellte er sich demnach vor, hätte er noch gern an der Besiedlung des Wilden Westens mitgewirkt.

Heute sind die Zeiten wieder danach, dass niemand von einigem Verstand einen Grund sieht, an seinem Geburtsort auszuharren, bis ihn die Sinn- oder die Wirtschaftskrise dahinrafft. Der amerikanische Westen ist erfolgreich besiedelt und riecht schon allenthalben nach Zusammenbruch, der Unterschied zu 1819 ist also: Weder mit 70 noch mit 50 wird jemand in Aufbruchsstimmung verfallen. Weil so eine Karriere heutzutage mit 30 gemacht ist.

Kamelopedia, Busenfreundin StrandkamelWeiter in der Rechnung: Junge Menschen werden heute unter dem Einfluss gehaltvoller Ernährung mit 10 Jahren geschlechtsreif, heiratsfähig im Sinne des Vermögens, eigene Nachkommschaft zu ernähren, werden sie mit 30 — einer psychologischen Altersschwelle, hinter der einem im Zug des gesellschaftlichen Lebens mit viel Glück vielleicht noch ein Stehplatz angeboten wird: In modernen Biographien klafft eine organisatorische Lücke von zwei Generationen.

Goethe erlebte, wie man, von der Bravo sozialisiert, sagen würde, “sein erstes Mal” mit 16 Jahren, was damals wie heute als statistisch normal und gesund angesehen wird. Und zwar mit einer drei Jahre Älteren, was als piquant angesehen wird, vor allem von beteiligten Personen um dieses Alter. Da war Goethe Jurastudent in Leipzig (was zusätzlich Naserümpfen über das herrschende Schulsystem aufwirft, in dem man kaum unter 18 sein Abi kriegt) und durfte immerhin theoretisch auf Erfüllung seiner naheliegenden Sehnsüchte hoffen. Und wie wir rückblickend wissen, ist aus beiden jungen Liebenden später noch was geworden.

Eine Definition von Normalität ist das statistische Mittel. Eine andere: das Wünschbare. Im Sinne der letzteren — gerechnet in Wertmaßstäben, die man nach diesem Vierteljahrtausend hinterfragen mag oder nicht — lebte Goethe bedeutend normaler als jeder rezente deutsche Michel, der einen Lebensunterhalt anstrebt und dazu noch unverschämt genug ist, nach einem Sexualleben in maßvollem Umfang zu schielen.

Nein, um Goethe, lebendig oder tot, muss man sich nicht sorgen. Danken wir ihm für seine durchwachsene Vorbildwirkung und wünschen wir das Glück uns selber, die wir es bitter brauchen können. Näheres dazu im Link der Woche, dem erfreulich breiten und tiefen Goethezeitportal der Münchner Uni.

Zur Fortführung einer angemessenen Goethe-Rezeption ergeht erneut die Frage von letztem Jahr: Was sind eigentlich die maßgeblichen englischen Übersetzungen und erreichbaren Ausgaben des Werther in den Fassungen von 1774 und vor allem 1787, was nicht mal der Metafilter so genau wusste?

O Mädchen mein Mädchen: Richard Tauber 1929 via Franz Lehár: Friederike, 1928 richtet sich schon an Goethes Zweite, 1770, diesmal eine drei Jahre Jüngere, der alte Feinschmecker.

O Mädchen Mädchen: Johann Wolfgang Goethe: Mayfest, 1775 (Ausschnitt);
Busenfreundin Schönkopf: Nu anonyme, 19. Jahrhundert, via Kamelopedia.

(Trivialwissen über junge Leute: Adolf Dallapozzas Enkelin heißt auf Youtube DistreSSedGirL und ist stolz auf ihren Opa.)

Written by Wolf

28. August 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

5 Responses

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  1. Ich wusste es!
    Dass man sich in Sachen Goethe-Jahr 2009 und gebührende Würdigung des Meisters auf dich verlassen kann – wenigstens auf dich. Und wie man sieht, in jeder Beziehung. ;o)
    Sehr, sehr fein das. Drei Lesenswert-Pünkte.***

    hochhaushex

    29. August 2009 at 6:32 am

  2. Hee — heißt das, ich steh hier unter Prüfungssituation, ohne davon zu wissen? Is das legal? .ò)

    Wolf

    29. August 2009 at 9:09 am

  3. Aber na klar, weißt du doch – das Böse ist immerrr und ü-berall! ;o))
    Neee… Quack. Aber es hätte mich schon sehr überrascht (viel mehr als andersrum), wenn du ihn n i c h t gefeiert hättest, uns’ Dichterfürschten.

    Grmbl, mein Beitrag für ihn ist noch nicht fertig. :o( Wird aber heut noch – hoff ich.

    P.S. Hmm… und wieso sind die hier eigentlich unable to find deinen Goethe, wenn man auf den Kommentar-Antwortbutton klickt? Tsss…

    hochhaushex

    29. August 2009 at 3:41 pm

  4. […] zu O Mädchen mein Mädchen und Sophokles’ Bruder ab orbe […]

  5. […] zu O Mädchen mein Mädchen und anlässlich Goethes 180. Todestag (das ist: heute): Johann Peter Eckermann: Helgolander […]


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