Er nennt’s Vernunft
Elke hat Kapitel 36: Das Achterdeck gelesen:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst
Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;
Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen,
Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.Faust I. Prolog im Himmel. Mephistopheles.
Und was für einer in der Inszenierung der Jagd auf den weißen Wal! Mit Pathos und großem Auftritt und Monolog des entmasteten Helden und Rächers, für und wider dessen Heldenstatus weiter gestritten werden darf. Ein Aufzug mit grummelndem Konflikt und kursiv geklammerter Regieanweisung…
Das Achterdeck des Schiffes ist – ein Sternbild, in unseren Breiten nicht vollständig am südlichen Winterhimmel sichtbar. Bei den alten Griechen gehörte es noch – wie sich das für ein ordentliches Achterdeck (Puppis) auch gehört – zu einem ganzen Schiff im Sternenmeer, dem Argo Navis nämlich. In trauter Gemeinschaft mit dem heute der himmlischen Übersichtlichkeit halber sich ebenfalls eigenständig blähenden Segel (Vela) und dem am Grunde funkelnden Kiel (Carina) des Schiffes. Und der zum Navigieren des Himmelsseglers nötige Schiffskompass (Pyxis) ist ein paar läppische Lichtjahre neben der Bordwand in die Fluten der Milchstraße gefallen – na, wenn das mal gut geht!
Nun, der mythologische Ausgang der Mission des später am Firmament vertäuten Heldenklippers ist bekannt: Es ging gut, jedenfalls solange, bis Captain Jason später seine hilfreich angetraute Medea mit einer neuen Flamme und Zweckehe betrog, Orpheus stimmte einen Shanty nach dem andern an und die Mannschaft entriss dem tödlichen Drachen den Pelz des güldenen Widders. Wofür die von astraler Heroenarchitektur nur so strotzende Antike sich mit einem Platz am Himmel für Schiff und Schafbock nicht lumpen ließ.
Doch Nantucketer Waljäger sind nicht die alten Griechen und keine Argonauten, Ahab ist nicht Jason und der weiße Wal erst recht nicht das Goldene Vlies, sondern für den Walbeinernen wohl eher der blutrünstige Drache. Wie auch, was einem hoffentlich nicht als fieser Spoiler ausgelegt wird, die Pequod in die entgegengesetzte Richtung der Argo segeln wird, nicht himmel-, sondern direktemang höllenwärts.
Die “heroische” Mission, über die der zugegeben nicht mehr ganz arglose Moses von Leser hier zusammen mit der arglosen Mannschaft ins Bild gesetzt wird, gemahnt ihn denn auch gleichsam an einen Pakt mit Satans Stellverteter persönlich. Der zieht alle Register der Versuchung und Argumentation. Nagelt den materiell aufgezogenen Fischerschädeln blankgeputztes Gold an den Mast. Kitzelt mit dröhnenden Engelszungen die Draufgänger an ihrer heldischen Verwegenheit, den berechtigten Zweifler und Warner Starbuck an der braven Handwerkerehre. Und wo die nicht reicht, rhetorikt er mit seiner manisch gepäppelten Entschlossenheit, “selbst die Sonne [zu] schlagen”, dessen (schon vor zehn Kapiteln ausgemachte) schwächelnde Seelenstärke in Grund und Boden und ihn selber ins Gefolge zurück. Diesem hämmert er wie ein Feldherr seinen Soldaten vor dem Kampf die vertrauten Schlachtrufe der ewigen Waljäger in den Isolatohirnen zurecht. Und lässt es auch an pathetischen Gesten vom Lanzenkreuzen bis zum Treueeid und an Feuerwasser im Harpunenschaft zum Besiegeln desselben nicht fehlen.
Ein Spektakel, das ungeachtet der versteckten Lacher aus der Mannschaft, der hilflos aufzuckenden Vernunft des Einen und des gelegentlichen Gedankens ‘Der hat sie nicht mehr alle!’ seine Wirkung nicht verfehlt. Er hat sie, alle! Hat das Zeug zum Volksverführer und Seelen(ver)käufer. Und er, Ahab, allein weiß, wozu er diesen Auftritt braucht: Ohne sie ist er nichts auf der nun anhebenden Hatz gegen Moby Dick, diese Mauer, hinter der nichts mehr ist. Doch er kann den uferlosen Hass gegen “dies unfassbare Ding”, der sein Ahab-Universum beherrscht, noch so großtönend als hehres Ziel verkaufen (“Wer steht denn über mir? Wahrheit kennt keine Grenzen.”), kann noch so sehr den Kolumbus spielen, der dem ersten Aussänger des Landes Wal die Belohnung verspricht. Oder den Helden, der das in seiner entmasteten Kapitänswelt ausgemachte Böse herausfordert, sei es nun Urheber oder Werkzeug.
Es bleibt der erschauernde Einwand der Vernunft:
“Rache an einem stummen Tier! […] das einfach dich aus blindem Trieb getroffen! Ein Wahnsinn! Zu wüten gegen ein stummes Ding, Kapitän, erscheint mir grad wie Gotteslästerung.”
Starbuck im Jendis, Seite 273.
Es bleibt… der Zweifel, was von einem Helden übrig bleibt, der keine Grenzen kennt. Der seine Fehde mit dem Leben, die Rettung seiner Welt und Ehre auf dem Rücken anderer austrägt. Anderer, die ihre eigenen Gründe haben, mit ihm auf einem Schiff zu fahren. Mit deren Leben er die seinen Dublone für Dublone bezahlen und sich verschulden wird. – Wovon aber die andern auch nichts mehr haben werden…
Was rumort da in ihm und kann nicht aufhören, was treibt ihn, diesen Ahab?
Der Nantucketer Nathaniel Philbrick, zwar Schreiber, doch als alter Segler (see)fest mit zwei gesunden Beinen auf schwankenden Achterdecks stehend, diagnostiziert es knallhart als Psychotrauma, die “quälende Erinnerung” geheißen. Und sein vorsorgliches Hinzuzitieren eines Philosophen (den wir uns hier schenken) lässt die darum nicht mystischer werden:
Für die meisten Unglücksopfer sind die wiederholten Rückblenden einer quälenden Erinnerung therapeutisch hilfreich, da sie die Leidenden nach und nach von Ängsten befreien, die andernfalls ihre Fähigkeit weiterzuleben beeinträchtigen könnten. Manche werden die Erinnerung allerdings nie los. Gestützt auf Chases Bericht, schuf Herman Melville mit seinem Kapitän Ahab einen Mann, der aus den seelischen Abgründen, in denen sich Chase in jenen… schlaflosen Nächten wand, nie auftauchte. Genau wie Chase glaubte, dass der Wal, der die Essex angegriffen hatte, mit “entschlossener, berechnender Bosheit” vorgegangen war, wurde Ahab von der Vorstellung verfolgt, der weiße Wal sei ein Wesen, bei dem sich “grenzenlose Kraft mit unerforschlicher Arglist” paarte. Eingesperrt in sein privates Horrorkabinett, war Ahab der festen Überzeugung, sein einziger Ausweg bestehe darin, Moby Dick zur Strecke zu bringen. “Wie kann der Gefangene nach draußen kommen, wenn nicht durch die Mauer? Für mich ist der weiße Wal diese Mauer, die dicht vor mir steht.”
Nathaniel Philbrick: Im Herzen der See, Karl Blessing Verlag München 2000, Seite 146.
Ein Franzose sucht es uns aus dem Moby-Dick der politischen Ökonomie des Kapitalismus, Marxens “Kapital”, herauszuoperieren, mit überraschenden und lesenswerten Erkenntnissen:
Jede Wette, dass er – abgesehen von der persönlichen Rechnung, die er mit der sublimen Käscherin, der riesigen fahlen Schneppe, der ewigen Aufreißerin der Weltmeere offen hat –, dass er also den großen Kuchen anpeilt, die legale Sprengung der Allgemeinen Seekreditbank, das Geschäft der Geschäfte, an das alle denken, seit der Kopf des Pottwals ausgeweidet wird: der ganze Reichtum, das ganze virtuelle Kapital, das das Untier im Kopf hat, der unendliche Reichtum, den eine Mutter Courage, Libuše, Zigeunerin, Gipsy von Prag in der Tasche trägt in Form eines nicht übertragbaren Talismans. […]
Ahab ist der Ungeist der List ökonomischer Vernunft, die bewirkt, dass das Vorankommen der Menschheit, ihr besseres Befinden, die Verlockung des Gewinns, die verfluchte Gier nach Gold durchmacht (auri sacra fames, wiederholt Marx kapitellang, wenn er nicht Shylock zitiert) […] ist ein Menschenführer, der die Seinen ins Verderben steuert unter dem Vorwand, er biete ihnen eine Möglichkeit zum Geldverdienen. Darin reicht seine Geschichte an die großen historischen Farcen heran: oder ähnelt dieser Hitchcock-Sequenz, in der ein toll gewordenes Karussell nicht mehr zum Stehen kommt. […] es gibt Dutzende Tote! Hier wird nur Ishmael übrigbleiben. Bis auf ihn gehen alle baden: Seeleute, Reeder, Bankiers, Versicherer.
Jean-Pierre Lefebvre: Die Arbeit des Wals. Red Moby &/or: Das Kapital, im Rathjen-Moby, Zweitausendeins. Frankfurt am Main 2004, Seite 835 f.
Erstdruck in: Schreibheft, Zeitschrift für Literatur 37, Essen 1991.
[Anmerkung: Der Rote Moby wird hier nochmal ausführlich und gehörig zu repetieren sein, der Lefebvre stellt um den kapitalen Wal und den schon mal so daherzitierten Profitjäger Ahab noch so viel anderes auf, das man selber bis zu ihm noch gar nicht gedacht hat. Und außerdem: wo wir doch Rotschopfwochen haben, oder?]
Hmm… ist er nun also eine arme, gequälte Kreatur, der finstere Ahab, ein gefährlicher Irrer, dämonischer Visionär und Verweser oder nur eine suchende verlorene Seele? Ein Mensch, der irrt, solang er strebt?
Und was hätte er denn nun endlich dem Drewermann auf der Couch erzählt, wenn der sich jemals steuerbord einer solchen therapeutisch betätigt haben täte?
Wir wissen es (noch) nicht.
Wenn wir eins wissen, dann, dass wir im Angesicht monumentaler Melvillescher Kapitel als mikroskopische Mensch- und Leserlein manchmal mit Bloggerverdrängungssymptomen reagieren – über Monate. Dass wir dann – manchmal – lieber mit den Augen am Himmel nach Argo Navis suchen. Und uns, wenn unser Walfischprinzip wieder halbwegs funktioniert und der Spuk vorbei ist, staunend und mit einem leisen Lächeln nach ihm umsehen…
Die Winde wehten wieder, die Segel blähten sich, das Schiff stampfte und schlingerte wie zuvor.
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Ach, und fällt jemandem vielleicht noch ein passenderer Soundtrack ein als der hier?
Denn scheint dieser Ahab nicht irgendwie… nicht erwachsen genug (als wäre das ein Makel), nicht tragisch genug und seine Fantasie nicht düster genug – kurzum: Ist er nicht zuuu alternativ?
Aber eine lichte und hübsche Vorstellung ist’s schon: Ismael hockt auf dem Bugspriet, bläst melancholisch in seine Mundharmonika und summt vor sich hin:
And if I ever lose my legs,
I won’t moan, and I won’t beg,
Oh if I ever lose my legs, Oh if
I won’t have to walk no more.
Yeeeah-aye. Oder?
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Bilder: Jan Ridpath’s Star Tales; Old Etcher; Jim Nichols UFO Art
sowie als Tribut an die laufenden Rotschopfwochen und des Roten Lefebvres Filmschaffen:
Leah Ingoetzel mit dem Lenin: Alice in Austinland, 27. November 2009.
Soundtrack: Cat Stevens: Moonshadow aus: Teaser and the Firecat, 1971.
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