Moby-Dick™

Leben mit Herman Melville

Archive for June 2009

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

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Douglas Adams hatte Recht: Der Mensch sollte, egal wo innerhalb des Universums er sich bewegt, ein Handtuch mit sich führen. Besonders, wenn er sich schnell zu bewegen gedenkt. Am Münchner Stadtlauf zum Beispiel.

Das glaubt mir jetzt wieder kein Mensch — weder dass ich da angetreten bin, noch dass ein Handtuch dabei hilfreich sein soll. Vor Jahrzehnten hab ich aber schon Maude zu Harold sagen hören, dass man im Leben ab und zu was mitmachen muss, damit man nach dem Spiel in der Umkleidekabine was zu erzählen hat, und nachdem mein Training für den Viertelmarathon, was einfach professioneller klingt als “zehn Kilometer”, darin bestand, in der Woche davor zwei Zigaretten pro Tag weniger zu rauchen, hab ich mir wenigstens für den Weg das Handtuch um den Hals gehängt. Sieht gut aus, wenn man an einer Kamera des Regionalfernsehens vorbeihetzt, muss gegen den Schweiß nicht unterm Laufen aus der Hosentasche (hat Ihre Laufhose Hosentaschen? Sehen Sie!) gezwurgelt werden, und beim Festhalten mit beiden Fäusten weiß man, wohin mit den Händen. Das dämpft den Luftwiderstand, weil es die Silhouette reduziert, und man steht nicht ständig unter Versuchung, seinen lahmen Vordermann in die Schulterblätter zu boxen.

Die Gefahr ist nämlich enorm. Wer sich für den Stadtlauf in München anmeldet, bekommt für seine 28 Euro ein etwas windiges T-Shirt gestellt, neonorange und voller Werbung. Hauptsächlich für Sport-Scheck, den offensichtlichen Hauptsponsor, dann für die Abend-Zeitung, BMW, DAK und noch einige, kurz: Man rennt buchstäblich herum wie ein Fußballprofi. Am Start stellt man sich in drei Blocks auf. Am Sonntag, den 28. Juni pünktlich um 11.00 Uhr sind Marienplatz, Rosenstraße, Rindermarkt und Petersplatz bis weit in die Sendlinger Straße hinein (wer’s kennt) neonorange vor Lauflustigen. Allein meine Neugier trieb mich nach vorne in Block 1. Block 1 bedeutet, dass ich mir zutraue, zehn Kilometer in weniger als 40 Minuten zu laufen.

Das ist eine Kategorie, in der ich normalerweise nie denke. Zehn Kilometer sind eine Strecke, für die man in München die U-Bahn nimmt. Und die braucht dafür 20 Minuten oder was weiß ich wie lange, jedenfalls hat die etliche PS mehr als ich. Will man tatsächlich so weit zu Fuß, ist das eine Beschäftigung für einen Nachmittag.

Block 2 ist für Leute, die zwischen 40 und 60 Minuten brauchen, Block 3 für die Loser, die über eine Stunde rumtrödeln wollen. 40 oder 60 Minuten, wo soll da der Unterschied sein? Block 1 also — das bedeutet vier Minuten für fucking eintausend Meter. Und zwar zehnmal hintereinander.

Das neonorange Menschenmeer, das Sie jetzt beim Weiterlesen immer vor Ihrem geistigen Auge behalten dürfen, zählt begeistert den Countdown mit, und plötzlich laufe ich von Tausenden Vorder- und Hintermännern und -frauen angeschubst unter lauter sportlich trainierten Menschen mit, die in 40 Minuten, lieber noch weniger, als die schnellsten Helden von München gefeiert werden wollen. Na bitte, was zick ich denn die ganze Woche rum, denke ich innerhalb des ersten Kilometers ums Alte Rathaus, über den Odeonsplatz und in den Hofgarten hinein, läuft sich doch ganz flüssig.

Block 1 ist gar nicht so unpraktisch, denke ich weiter, da hat man mehr Leute hinter sich, die einen erst noch überholen müssen, und fängt nicht schon als Gearschter an. Heißt das im Sport nicht “Pole Position”?

Macht sogar Spaß, mal mitten auf der Straße laufen zu dürfen, die man sonst nur von eiligen Autos missbraucht kennt. Zwischen Absperrungen und unter Polizeischutz! Hinter den Absperrungen: Angehörige, denen die 28 Euro für ein zu dünnes Werbehemdchen zu blöd waren. Sehr viele Angehörige, Schaulustige, und ein paar Verblüffte, die so wie ich vor vier Wochen noch wie was von einem Stadtlauf gehört und auch keinen vermisst haben.

Noch innerhalb Kilometer 1 und 2 hat auch der letzte Verblüffte kapiert, was hier abgeht, und sie feuern uns Läufer von hinter den Absperrgittern aus an. Am meisten nerven die mit Augustinerflaschen in der einen und Zigarette in der anderen Hand, die es trotz dieser Behinderung fertig bringen, in sie zu klatschen und “Hopp! Hopp! Hopp!” zu rufen. Die meinen es sicher nett, halte ich ihnen zugute und schalte bewusst den größten Teil meines Wahrnehmungsapparates aus.

Das ist der zweite Tipp nach dem mit dem Handtuch: Gar nicht hinhören. Nicht hinschauen. Nicht empfinden. Der Trick ist, einen Fuß vor den anderen zu setzen, das kann doch nicht so schwer sein.

Und man tut es ziemlich oft. Auf Kilometer 3, das ist im Englischen Garten irgendwo um den Monopteros, fällt mir das auf: Es ist verdammt oft. Schon drei Kilometer gerannt und verfluchte Scheiße, da bleiben ja noch sieben.

Ich lege innerlich Musik auf. Manche Mitläufer (wie selbstverständlich ich solche Wörter schon benutze, gell?) führen ihre iPods aus, nur ich hab schon 1980 bei den Walkmans Musikkonsum abgelehnt, für den man Kopfhörer braucht. Man kapselt sich zu sehr vom Leben ab, denke ich immer, das ist unnatürlich und asozial. Statt dessen hab ich mir die Woche über geistig ein paar Lieder zurechtgelegt, die man als beflügelnden Ohrwurm auflegen kann. Nicht zu hektisch, nicht zu einschläfernd, nichts im Dreiertakt. Die Pogues natürlich, ein bisschen Carter Family, der Radetzkymarsch wurde nur kurz erwogen und verworfen. Und plötzlich finde ich mich in einer Menschenmasse wieder und denke Gedanken, die garantiert kein anderer zwischen Marienplatz und Kleinhesseloher See denkt: “Bury me underneath the willow, under the weeping willow tree.” Ganz toll. Aber iPod ist asozial, häh?

Mich beruhigt nur, dass jeder meiner paar tausend Vorderleute auf dem Rücken “Mach deinen Lauf!” stehen hat. Das liest man andauernd. Gar nicht so blöd eigentlich. Stimmt ja: Ich mache einen Lauf, und ob das meiner ist, 28 Euro hab ich dafür gelöhnt, also verpisst euch, ihr Frühschoppengesichter am Rand. Im Ohr Carter Family, die Fäuste um meine Handtuchenden. Huch, schon vier Kilometer. 40 Prozent, das geht doch schon fast als Hälfte durch.

So viele wir auch sind, läuft jeder für sich allein, macht jeder seinen Lauf, der Claim gefällt mir bei jedem Lesen besser. Die Schlange von Menschen außer Atem hat keinen Anfang und kein Ende, kein sichtbares jedenfalls, keine Ahnung, wie weit ich schon hinten liege. Hinter mir sind noch genug, dass ich keine Angst bekomme, als Schlusslicht ins Ziel zu laufen wie in der Schule immer, wo die Ersten schon auf der Hochsprungmatte Kamerun geklopft haben, während ich mit hängender Lunge bei 700 von 1000 Metern rumgegurkt bin.

In der Schule hab ich aufgegeben und mir leichten Herzens einen Sechser eintragen lassen, war ja kein Versetzungsfach, das doofe Sport. Der Gedanke ans Aufgeben kommt mir auch jetzt wie das Teufelchen auf der linken Schulter, aber der Gedanke an meine 28 Euro wie das Engelchen auf der rechten, und mal ehrlich: Wo soll ich denn jetzt mitten im fünften Kilometer noch hin? Nach Hause muss ich so oder so irgendwann, da bin ich doch nicht bescheuert und kehr jetzt noch um. Liedwechsel nach Woody Guthrie: “At my window sad and lonely often do I think of thee, and I wonder, little darling, if you ever think of me”, Fäuste fester ums Handtuch.

Im Sekundentakt werde ich links und rechts überholt, das bleibt nicht aus. Was mich aufbaut: Gelegentlich überhole auch ich jemanden. Manche Gesichter sind schon richtig vertraut, manche Hinterköpfe erst recht. Ein blonder Pferdeschwanz vor mir baumelt Hunderte von Metern meditativ vor meiner Nase herum, was mich vor einer Gehpause bewahrt: Lass ich mich jetzt schon von sehnenbeinigen Blondis abhängen, die grade mal halb so alt wie ich sind oder was? Nach einer ausreichenden Phase der Meditation setze ich zum Überholen an. Leider muss ich dazu zwei Leuten in die Hacken steigen. Das macht mir nichts mehr aus, schließlich steht mir auch dauernd jemand in den Schuhen. Das ist unvermeidlich, es wird hingenommen.

Auf Kilometer 5 die Versorgungsstation. Viele halten an, halten sich die Seiten und schwingen die Arme, weil ihnen das mal irgendein Sportlehrer beigebracht hat, die Pappbecher mit Mineralwasser werden zahlreich von den auf etwa hundert Meter aufgebauten Tapeziertischen gerissen und in Gesichter und über T-Shirts gekippt. Keine Zeit zum Anhalten, ich hab keine Lust, mir den Rhythmus zu versauen, und reiße mir nur einen Becher Wasser aus der Hand eines Sanitäters hinterm Tapeziertisch, die Apfelschorle dümpelt am nächsten Tisch in Waschwannen, wie sie meine Oma benutzt hat. Trinken unterm Laufen ist schwierig, aber nicht sehr wichtig. In meinem Gesicht landet viel weniger Wasser als auf meinem Hemd, durchsichtig ist es sowieso schon lange vom Reinschwitzen. Noch ein Tisch mit angefaulten Bananenfragmenten, wo sollen sie auch am heiligen Sonntag frische Bananen her haben, ja, die Krise, die Krise, auch da gilt die Marktruhe, und auch für Kalzium, und ihr, ihr lasst mal stecken, selbst wenn eure Exbananen in den 28 Euro mit drin waren. Das war die Halbzeit.

Die Schaulustigen säumen die ganze Strecke. Je größer die Kamera, desto nerv, am sympathischsten sind die Rentnerpaare im Regenschutz, die nicht groß anfeuern und nur in stillvergnügter Beobachtung den endlosen Gaudiwurm vorbeiziehen lassen. Woraufhin mir das Wetter auffällt: So muss ideales Laufwetter aussehen: weder Bullenhitze noch Hagelschlag, ob mir die Brille ein bisschen von oben vollgenieselt wird oder ob ich sie selber von innen vollschwitze, ist auch schon wurscht.

Besorgniserregend finde ich mit der Häufung den Leistungsgedanken, der offenbar viele antreibt. Bei meinen Mitläufern fällt er nicht so auf, außer bei den zwei IT-Solutions-Consultants, die in der GQ gelesen haben, dass man sich beim Laufen noch unterhalten können muss. “Letztes Jahr”, keucht der eine, “waren welche dabei, die haben ‘ne Stunde achtzehn gebraucht!” Der andere weiß: “Ach, da warn auch welche mit eins vierundzwanzig dabei. Und das warn noch nicht mal die Letzten!” Und dann lachen sie sich kaputt. Vorsichtshalber überhole ich mit einem souveränen Sprung übers dackelhohe Geländer in die Grasnarbe. Ich bin so gut.

Wir tragen alle das gleiche inzwischen durchnässte Hemd. Das verbindet, wie von den Sponsoren beabsichtigt. Die am Rand haben sich tatsächlich die Arbeit gemacht und Transparente gebastelt: “Durchhalten, Klaus!” Es wird gehalten von einer Mittdreißigerin, die anscheinend ihrem Männe beistehen will. Erschreckend ist die fünfjährige Krabbe mit dem Holzschild: “Schneller, Papa!” Welche Erwartungshaltung an Autoritäten wird hier gezüchtet? Sind überhaupt die 40 Minuten schon um? Oder die ganze Stunde? Eigentlich interessiert es mich gar nicht so richtig, niemand bezahlt mich hier für eine einzige eingesparte Minute. Ich will einfach nur lebendig wieder hier weg.

Zwischen Kilometer 6 und 7 entwickle ich einen Widerwillen gegen Massenveranstaltungen. Anscheinend ist es das, was mir statt einem toten Punkt passiert; übertrieben lebhaft war ich mit meiner Raucherlunge ja schon zu Anfang nicht. Es wird einen Grund haben, warum ich solches sinnentleerte Herumgehammel in meinem Leben bis heute so sorgfältig gemieden habe. Warum muss ich für eine Leistung, die ich erbringe, auch noch bezahlen? Und mir dabei in die Hacken steigen und von kahlrasierten Sonnenbrillenmonstern ins Genick pusten lassen? Die betrachten mich doch nur als Hindernis. Natürlich bin ich eins, und sie sind auch eins. Sie sind viele. Ich versuche diesen existenzialistischen Ekel zu unterdrücken, ich mag mich nicht damit. Aber wenigstens für einen guten Zweck hätte man die Kohle von all den Rennverrückten stiften können, doch nicht für Sport-Scheck und Abend-Zeitung, dass ich nicht müde grinse. Lieber für den Schutz der Grauwale oder irgendwas. Oder Querschnittsgelähmte, hahaha.

Ist das der Kleinhesseloher See, um den wir da herumrennen? Dann muss die Strecke hier langsam die Haarnadel machen. Da ist wieder das sportlich-dynamische Ehepaar, das einen Rennkinderwagen vor sich her schubst, die kleine junge Türkin hab ich schon mindestens dreimal an den belebtesten Ecken fast über den Haufen gerannt, wo sie gerne steht und den Kopf zu den Knien hinunterkrümmt, Stretching oder Seitenstechen. Der Geruch nach gärenden Parisern im Gebüsch kündet vom Sommer, der nach Maronen und Rotkappen sogar schon vom Herbst.

Sie haben die Strecke so verschlungen angelegt, dass ich nicht mehr durchblicke, ob der Teil der Schlange hinter dem Grünstreifen vor oder hinter mir liegt. Immer öfter lockt eine Abkürzung über eine Wendefläche für landschaftsarchitektonische Nutzfahrzeuge. Solche Stellen werden von Sanitätern und Security umstellt, nicht dass ich mich hinreißen lasse. Keine Angst, Jungs, ihr helft mir nicht und ich bescheiß euch nicht. Muss ich alles wissen? Nein, ich muss meinen Lauf machen.

Der Weg führt über eine Brücke über die Stadtautobahn, vor zehn, zwölf Jahren, als ich mir München systematisch erschlossen hab, wusste ich mal ihren Namen. Dass sie elend steil ist, weiß ich noch. Egal, ich nehme extra Anlauf, damit ich schnell drüberkomme. Ich spinne wirklich.

Die Strecke verlässt den Englischen Garten und wird wieder städtisch, die Fernsehteams und Transparentehalter ballen sich wieder. Ein Pulk Teenager thront auf einem Absperrungsgitter, sie johlen, betrachten das Zuschauen als Event und schwenken Schilder mit “Schneller, ihr faulen Säcke!” und “Wir grüßen die schnellsten Männer von Schwabing!” Die Frauen grüßen sie nicht.

Wie jetzt, schon acht Kilometer? Das war doch gar nix, ich renn gleich nochmal, 28 Steinchen sind auch Geld. Nochmal Zeit für Musikwechsel, mir fallen keine Lieder mehr ein, ein Intermezzo mit Shane MacGowan hab ich schon auf Höhe Bogenhausen verfeuert: “Kahaya! You fuck! To hell or to high water! I may have fucked your missus, but I never fucked your daughter!” Hopphopp, noch eins von Carter Family: “My Dixie Darling”. Das ist so eins, das sie auf Youtube gesperrt haben, fällt mir dazu ein, das unschuldigste Kinderliedchen der Welt. Ich vermisse das Internet, da kennt man sich wenigstens aus.

Hier war ich schon mal, vor 40 oder 60 oder 120 Minuten in entgegengesetzter Richtung. Der Rest ist ein Klacks, die Fußgängerzone zwischen Hofgarten und Marienplatz rennt man jeden Monat ein paarmal auf und ab, wenngleich weniger verschwitzt, und man bläst sich nicht im eigenen Atemrhythmus einzelne Schweißtropfen von der Nase auf seine Nachbarn. Und es stehen weniger Krankenwagen im Weg rum, wo sich die ganzen Zusammenbrecher von durchtrainierten Sanitätern mit Massagen und Pfefferminztee päppeln lassen. Und verfickte Scheiße nochmal denkt man nicht die ganze Zeit in lauter Flüchen.

Ins Ziel einlaufen ist unspektakulär bis zur Enttäuschung. Wahrscheinlich wurden noch die ersten paar hundert unter Jubel von Regenschutzträgern und Medienlumpen empfangen, inzwischen ist der Marienplatz so voll von neonorangen T-Shirts wie vorher, das Interesse an den jetzt noch Einlaufenden hat sich nivelliert. Mit An- und Heimreise ergibt das einen Zeitaufwand von keinen drei Stunden, und dafür macht man sich wochenlang vorher ins Hemd, manche trainieren allen Ernstes. Vollmarathon ist im Oktober, stand auf einem Flyer in den Teilnahmeunterlagen, alles im Preis. Tod, wo ist dein Stachel?

Kurz vor dem Ziel treffe ich den vernünftigsten Menschen des Tages: Eine knuffige rothaarige Studentin in knielangem Faltenrock hat sich ihr sichtlich nicht unter zehn Jahre altes neonoranges Stadtlauf-T-Shirt übergezogen und nickt jedem einzelnen Läufer freundlich zu. Ohne aufreizende Bierflasche in der Hand, und ohne aufdringliche Durchhalteparolen zu skandieren. Hübsches Gesicht mit vereinzelten Sommersprossen. Ein Mädchen, das Glück bringt. Sie steht in der Theatinerstraße rum und beweist Selbstironie. Beweis, beweis, beweis. In ihr breites, sonniges Feixen steht geschrieben: “Na? Wollt ihr nächstes Jahr nochmal?” Wenn du da auch wieder kommst, schon, hätte ich fast zu ihr gesagt, da bin ich schon vorbei.

Die Absperrung, die ums Alte Rathaus herumführt, heißt im Fachjargon von uns Sportlern Auslauf, glaub ich. Das Ziel ist kein bestimmter Punkt, sondern eine ganze Zone. Na gut, irgendwo werden sie schon gestoppt haben. Ich knie mich hin und fiesle mir den Single Use Chip vom Schnürsenkel, der akribisch meine Pinkelpausen und Querfeldein-Abkürzungen festgehalten hätte, und nach dem der Sport-Scheck meine persönliche Urkunde zum Download bereitstellen wird.

War’s das? Glaub schon. Ich stelle mich mit hinter eine Absperrung und schaue zu, wie nach mir Eintreffende von ihren significant others immer noch empfangen werden, als hätten sie gerade ohne Sauerstoffgerät alle bekannten olympischen Rekorde gebrochen, widerlich, gerade dass sie sich nicht sofort gegenseitig hinterm Fischbrunnen flachlegen.

Viele ziehen sich auf dem offenen Platz um. Würde ich auch gern. Hängebusen in Sport-BHs, bierbäuchige Silberrücken. Das hier bleibt besser mein Privatvergnügen, beschließe ich, mein Vater wäre nicht stolz auf mich. Der würde fragen, was ich dabei verdient hab, die 28 Euro würde er mir nochmal extra um die Ohren hauen.

Menschen, die sichtbar niemals barfuß gehen, stehen wackelig barfuß auf nieselnassem Pflaster. Ich mag Füße, wirklich, ich sehe gern hin und betrachte sie mit Sachverstand, manche Füße charakterisieren einen Menschen so gut wie sein Gesicht. Nur was sich hier klamm, geschwollen und gerötet in frische Socken krampft, ist zum Abgewöhnen. Macht aber nichts, meine Modelzehen haben bestimmt auch gelitten, wenn ich meine Hände so anschaue, und es gibt hier keine Preise für Schönheit. Für was anderes auch nicht. Meine Schuhe sind wirklich gut, bemerke ich dankbar. Keine Schmerzen. Logisch, kaum gebraucht. Außerdem von Sport-Scheck, Ihrem offiziellen Sponsor des 31. Münchner Stadtlaufs zwotausendneun. Was haben die Treter eigentlich damals gekostet? Jedenfalls noch D-Mark. Ich habe keine Wäsche zum Wechseln dabei, nur mein Handtuch. Mir hätte auch keiner auf den Turnbeutel aufgepasst, solange ich meine 40 und mehr Minuten als Leistungsträger unterwegs bin.

Mit geübter Handbewegung stecke ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen, nach dem Feuerzeug muss ich ungewohnt lange fummeln. Nicht zusammengeklappt, keine Minute Seitenstechen, und hinter mir laufen immer noch welche ein wie ein Kampfwespengeschwader — eigentlich okay für mein Trainingslevel, oder? Als ich aufgeraucht habe, bin ich wieder bei Atem.

Ich hab auch Lust auf Sex, fällt mir plötzlich auf, aber was für welche, aua, verflixt, das sind ja körperliche Schmerzen, dabei hätte ich gerechnet, dass mir die Schenkel von was ganz anderem weh tun. Muss an den geweiteten Blutgefäßen liegen. Das sind die Sachen, die einem im Schulsport keiner sagt. Machen wir uns nichts vor, morgen hab ich den Muskelkater meines Lebens, in die Badewanne muss ich also sowieso. Ich fasse mein Handtuch noch einmal fester um den Hals und walke zum Bus.

Fachliteratur: Alan Sillitoe: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, 1959.

Rennsemmellied: The Carter Family: Bury Me Under the Weeping Willow, Bristol/Tennessee 1927.

[Edit:] Ist eben doch für einen guten Zweck:

Für jeden gelaufenen Kilometer wurden fünf Cent an das soziale Projekt ”Sport im Hort” gespendet. Dieses unterstützt ein breiteres Bewegungsangebot an Kinder- und Jugendtagesstätten. Der Spendentopf in Höhe von 13.245 Euro wurde im Anschluss an die Veranstaltung den Horten an der Rotbuchenstraße, der Konrad-Celtis-Straße und der Kindertagesstätte Starnberg am Hirschanger zugelost.

Sagen München 24 und Ganz München. Danke an Lara für die Aufmerksamkeit![/Edit]

Written by Wolf

29. June 2009 at 6:12 am

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Mein harmlos Sonettlein von den Katzen und Walen

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Update zu Von zum Beispiel den Walfischen:

Katzen sollten ewig leben!
Es würde mehr von ihnen geben
und öffentlich mit aller Kraft
würde ihre Weltherrschaft.

Wale sollten ewig leben!,
vom Nordmeer in die Südsee streben,
im Golfstrom aneinanderpappen
und die Meere überschwappen.

Katzen sollten Wale mögen!
Und Wale Katzen! Denn dann pflögen
all die Pelzschwänze und Fluken
die es je gab, mit uns zu spuken.

Es wär, das Meer, so nett, so voll.
(Nein, es ist schon, wie es soll.)

Nicolas Maher, Singende Wale nerven, Moby Dick das Musical, Titanic April 2009

Bild: Nicolas Mahler in: Titanic, April 2009.

Written by Wolf

24. June 2009 at 7:02 am

Posted in Mundschenk Wolf

Nichtschwimmerlied

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Das ist jetzt ein komplexes Kinderlied. Wenn ihr das vertonen wollt, müsst ihr viel Platz für Modulationen in der Lautstärke lassen. Es sollte klingen wie etwas, das Funny van Dannen mit Heinz Rudolf Kunze für die Toten Hosen geschrieben hat, um ihre Bühnenpräsenz zu testen und zu gucken, ob sie sich seit ihrem Crossover mit der Biermösl Blosn endlich was Achtsaitiges gekauft haben. Das führende Instrument sollte eine donnernde Stromgitarre bleiben. Oder nehmt besser zwei. An den ruhigen Stellen darf gern eine Spieluhr zum Einsatz kommen, da könnt ihr zur Not mit dem Synthi was tricksen. Dafür lass ich euch Freiheiten im Text: Ist ja die reine Zumutung, das à point auswendig zu lernen, wir sind ja nicht bei Eichendorffs. Hauptsache, ihr schmeißt die verschiedenen Chorusse nicht durcheinander, die sollten schon nach hinten zu an Irrsinn gewinnen. Der Verschönerung ist am meisten damit gedient, dass ich dafür kein Bild ausgesucht hab.

~~~|~~~~~~~|~~~

1. Franz war von denen, die wir hatten,
und an die ich mich finster erinnern kann,
einer von den stillsten Spielkameraden.
Er saß einfach neu in der Klasse und dann
hat ihn einer für den Nachmittag ins Freibad eingeladen;
dort saß er auf der Decke und erzählte, dass er gar nicht schwimmen kann.
          (Bridge)
          Natürlich dachten wir, das sagt der nur, damit ihn keiner nackig sieht,
          und ich schrieb in mein Aufsatzheft das salzkrustige Lied:
                    (Refrain)
                    Moby Dick — Walfischspeck —
                    fette Haare, Nageldreck,
                    wasserscheue Wasserratte warmer Bruder Franz,
                    komm mit in die Dusche und zeig uns deinen Monsterschwanz!

2. Franz, so sehr wir ihn nach Strich und Faden
verarscht haben — da hätte jeder andre bald
mal Opas Uzi mitgebracht und in unserm ganzen Laden
die Raufasern mit Blut und Hirn frisch angemalt —
Franz hörte gar nicht hin und erzählte uns, dass die Piraten
alle nicht schwimmen können, und hätten’s nicht so mit Gewalt.
          (Bridge)
          Sie kopierten mir im Lehrerzimmer mein Piratenlied.
          Wir stellten uns im Kreis um ihn und alle sangen mit:
                    (Refrain)
                    Moby Dick — Käpt’n Kidd —
                    dicke Eier, fit im Schritt,
                    Sabber am Sack, kein Haar am Kranz,
                    komm mit in die Koje und schwing deinen Monsterschwanz!

3. Franz kam immer mit schwimmen und hat nie den Rochen gebraten.
Während wir vom Fünfmeter hupften, passte er auf die Klamotten auf.
Einmal ging er mit mir im Nichtschwimmerbecken baden,
da sang er mir ein Lied von sich ins Ohr und ich schnallte, der Kerl hat mehr als ich drauf.
Er strafte mich mit seiner Freundschaft, das bedeutete sozialen Schaden.
Da trat ich nach ihm und schrie: “Hau ab, bevor ich dich verkauf!”
          (Bridge)
          Wegen zwei Minuten im Nichtschwimmerbecken, wo die ganze Schule es sieht,
          bin ich jeden Abend vor dem Bettchen gekniet:
                    (Refrain)
                    Moby Dick — Lebensglück —
                    Gott, ich will mein Geld zurück!
                    Mein Herz ist rein, erspar mir ab sofort die Geißel Franz
                    und erhäng das linke Schwein an seinem Monsterschwanz!

4. Franz kam mit uns in die Jahre, und wir taten
als ob wir gar nicht merkten, wie die Mädchen auf ihn stehen.
Nicht die schönsten, doch die meisten, und uns schwollen die Gonaden
und wir blieben trotzdem Jungfrau und auf einmal waren wir siebzehn.
Ich lag im Freibad vorm Gebüsch mit ein paar anderen Schwachmaten
und hab Franz da drin mit Lisa und ihrer Mutter rumfummeln gesehen.
          (Bridge)
          Was ein Seemann ist, der kann auch fischen, notfalls mit Dynamit,
          und unter seinem Fenster sang der Mädchenchor mein Lied:
                    (Refrain)
                    Moby Dick — Liebestrieb —
                    alle Bräute legt er flach und keiner hat ihn lieb.
                    Ein Matrose fängt sich alles was er will, aber nicht ganz,
                    und ein Harpunier bei rauer See peitscht mit dem Walfischschwanz.
                    (Fade-out)
                    Moby Dick — durchgefickt —
                    den Hafen und die Werft und das ganze Küstenstück.
                    Nebelschwaden, Gottesgnaden, Mädchenwaden, Strauchtomaten, Sozialdemokraten, süßer Leichtmatrose Franz
                    rumpelt in der Koje gedankenverloren zwei lesbischen Fischweibern eine Buddel voll Menses aus den Ohren und flucht auf seinen Monsterschwanz.

Written by Wolf

20. June 2009 at 12:01 am

Posted in Vorderdeck

Rogue’s Gallery: The Art of the Siren, #31

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Song: Ricky Jay & Richard Greene: The Fiddler/Roll the Old Chariot (1:34 minutes)
from Rogue’s Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, ANTI- 2006.

Official websites Ricky Jay, Richard Greene; song playlist.

Buy CD in Germany and elsewhere.

Image: The Mother Teresa of New Orleans: Fiddle Girl.

Fiddle tune: Roll the Old Chariot. Lyrics of the story of the fiddler:

Why upon this lovely day
must that wretched fiddler play?
All the sky once stainless blue
every note he strikes untrue.

Summer deep, embowered in flowers
silent music, in the hours
in the east a feather moon
man that fiddler out of tune.

God’s hand never slipped a mar
at the making of a star.
There no truce excuse yet made
for the bungler at his prey.

Explanatory liner notes by ANTI-:

One of the realities of shipboard life is being cooped up in a small space with the same people day after day. This fiddler is playing Roll the Old Chariot. Perhaps he’s playing it over and over and over. Murders have been committed for less.

Explanation for fiddle tune Roll the Old Chariot according to Arrr!:

The story goes that after Lord Nelson fell in the Battle of Trafalgar he was sealed in a cask of rum to preserve his body and, hearing this, the crew decided to drink their fill.

Written by Wolf

18. June 2009 at 6:29 am

Posted in Siren Sounds

Junigewinnspiel: Noch 101 bis Kapitel 136

with 8 comments

Update zum hiesigen From hell’s heart I stab at thee
und Jürgens Ahabs Bein(e):

Uns steht die letzte angekündigte Abhandlung zu Kapitel 35 ins Haus. Was man so hört, ist sie fast schon angefangen — hallo Elke! — und birgt die schöne Gewissheit, dass wir danach nur noch 100 Kapitel vor uns haben, das bisschen Epilog nicht eingerechnet. Hochgerechnet gibt es Moby-Dick™ bei gleichbleibender Lesegeschwindigkeit, damit es seinen Zweck erfüllt hat, also nur noch bis Ende 2017.

Die Zeit drängt, da wollen Sie in den verbleibenden achteinhalb Jährchen sicher noch mitnehmen, was geht. Da war your humble Logbuchschreiber nicht faul und hat ein 136. Kapitel konzipiert, und Sie dürfen mitschreiben. Die Illustration kann sich ohne weiteres mit denen von Rockwell Kent messen, fehlt noch der Text. Der kommt von Ihnen.

Captain Ahab rollt von Bord, Kapitel 136

Das ist ein Entwurf, den Sie ausgestalten helfen. Eine Reinzeichnung mit schwarzer Tinte auf zeitlosem Moleskine ohne die hässlichen Kästchen mach ich, wenn der Text steht. Ahabs Fortbewegungshilfen sollen etwas realistischer in Proportion zu seiner geclippten Person stehen, sein Gesichtsausdruck noch angepisster wirken und die Gangway von der Pequod etwas seemannspittoresker. Wie Abraham Lincoln sieht Ahab im kollektiven Gedächtnis ja schon immer aus.

Gesucht wird

  1. eine Kapitelüberschrift und
  2. was Captain Ahab in der angedeuteten Sprechblase sagt.

Schreiben Sie beides in den Kommentar und gewinnen Sie, mein willkürlich verteiltes Wohlwollen vorausgesetzt:

  • Karl May: In den Kordilleren, Band 13 der Bamberger Grünen Ausgabe — das Original! Altersbedingt angestaubt (1228. Tausend), sonst top erhalten; oder
  • Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbaumeister, ein ausgemustertes Büchereiexemplar, daher mit allerlei Narben, die so ein Bücherschicksal schlägt, aber einwandfrei lesbar, jedenfalls mit intakter Bindung — noch ein weißes dtv mit Umschlagillustration von Piatti. Ein einziger grandioser Irrgarten aus Abschweifungen, keine Ahnung mehr, wovon. Es gab eine Rahmenhandlung im Nymphenburger Park zu München; das Beste war eine Parodie auf E.T.A. Hoffmann (schon wieder was mit Bamberg), die besser war als der Meister selbst.

Als preiswürdig wird jede Idee eingestuft, über die ich mindestens so sehr grinsen muss wie über meine eigene, die ich beizeiten schon verraten werde. Sie sind allesamt kluge Leser, bis unter die Ohren angefüllt mit dem, was im Feuilleton der zum Beispiel Bamberger Nachrichten “hintergründiger Humor” heißt, und schütteln sowas doch souverän aus den Fingerkuppen. Nichts anderes, als was Sie ständig beim New Yorker Cartoon Caption Contest tun. Belehren Sie meinen Glauben an die Faulheit der Menschen, dass ich nicht zwei, sondern mindestens zehn Preise vergeben müsste! Bis 30. Juni um Mitternacht ist Ihnen was eingefallen, ist das okay?

Dazu der sinnigste Soundtrack, der nur jemandem einfallen konnte:
MissinCat aka Caterina Barbieri: Back on My Feet aus: Back on My Feet 2009, hihi.

Written by Wolf

12. June 2009 at 6:58 am

Posted in Kommandobrücke

Nennt mich Arion

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Elke gratuliert Gospodin Puschkin nachträglich zum 210. in Gestalt eines Updates
zu Die Welt spricht Moby (und Moby spricht russisch)
und Und siehe! Zart wie Mondstrahlgluten, weiß wie der Schnee auf Bergesgrat:

Elke HegewaldAls Nachkomme eines äthiopischen Beuteprinzen in dritter Generation, welcher als des Großen Peters Mohr in die Geschichte einging, setzte er offenbar höchste Priorität in die Frage der Ehre. Diese wurde ihm am Ende zum Verhängnis, denn er starb jung, mit nur 37 Jahren, in einem Duell mit dem französischen Gospodin und Offizier Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès – was ein Jammer für die Poesie der Russen und die ganze Weltliteratur ist.

Alexander Sergejewitsch Puschkin machte die russische Muttersprache, vor allem die des Volkes, gegenüber der “Sprache des Feindes” hof- und literaturfähig. Wurde doch bis zu Napoleons Einmarsch in Moskau 1812 in der russischen Oberschicht nur französisch gesprochen. Er war Goethes Zeitgenosse und seinen Namen, seinen Eugen Onegin oder sein Märchen vom Zaren Saltan kennen sogar Leute, die mit der russischen Literatur kaum was am Hut haben.

Seine Russalka-Variationen sind als Beitrag zur Mermaid-Szene auf Moby-Dick™ hier seinerzeit schon verewigt worden. Und auch sonst macht er sich gar nicht so schlecht unter uns Waljägern. Denn als Sankt Petersburger Küstensohn und – von dort verbannt – zeitweiliger Schwarzmeerreisender war er mit allen maritimen Wassern gewaschen und neben allem andern auch ein großer Poet des Meeres.

Ilja Repin, Iwan Aiwasowski, Puschkins Abschied vom Meer, 1877

Arion

Wir waren viele auf dem Kahn;
Die einen hingen in den Wanten,
Es stemmten unter Deck die andern
Die Ruder. Unser Steuermann
Stand weise schweigend auf der Brücke
Und steuerte das Frachtschiff still;
Und ich – von Glauben tief erfüllt –
Sang sorglos Lieder … Als voll Tücke
Uns eine Sturmbö überfiel …
Steuermann und Schiffer kamen um! –
Nur mich, den Sänger, hat’s im Sturm
Geheimnisvoll zurück zum Strand verschlagen, …
Ich sing die alten Lieder weiter
Und trockne meine nassen Kleider
Im Sonnenlicht, wo Felsen ragen.

(1827)

Wenn mal Zeit ist, raffe ich mich auch noch irgendwann zu einer Übersetzung resp. Nachdichtung seiner romantisch flammenden Ode „An das Meer“ (К море) von 1824 auf.

Er ist einer von denen, die für immer jung bleiben. Auch wenn er gerade am 6. Juni 210 geworden ist. С Днём рожденя, Александр Пушкин.

Bei seinen Erben (ja, auch die Sparte der neuzeitlichen Gitarrenlyrik darf sich getrost zu denen zählen) klingen Schiffsuntergänge so:

Auch dazu notieren wir uns den guten Vorsatz einer gelegentlich nachzuliefernden Übersetzung.

Bild: Ilja Repin (Puschkinfigur) und Iwan Aiwasowski (Landschaftshintergrund):
Прощание А.С. Пушкина с морем (Puschkins Abschied vom Meer), 1877.

Written by Wolf

9. June 2009 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

Chiemgirl Blues

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Update for First Song (Und Die Indianer Kriegen Amerika Zurück):

Anika Lindtner, immergut

1. Walked from my landlubbing home to Übersee
          back in 1984
Walked from Übersee to my homebound station
          back the same day once more
                    Even it was that hole around old Chiemsee
                    blue kingfisher birds flittered around the Kampenwand souvenir store.

2. And there she was sitting in the railway station beer garden
          resting her Meindls on her rucksack and a chair
When she was sitting in the beer garden of the railway station
          restauration licensed full-time open-air
                    Her looks were not friendly but her eyes closed anyway
                    and as the trains passed by the Chiemgau winds played in her hair.

3. She didn’t take the 7:03 to Rosenheim–Munich
          nor did she take the 7:50 to Traunstein–Freilassing too soon
She was one who wouldn’t grow to be a machine operator on the oceans
          nor ride in the sky fast and wild in a hot-air balloon
                    She neither belonged to Frauen- nor to Herrenchiemsee
                    and as she watered her Radlers down her glasses qualified her for a raccoon.

Anika Lindtner, immergut

These song lyrics are free for musical composition. Add solos, use melody twists, sound preferably like the Bananafishbones (Bad Tölz) doing Rocky Raccoon, and let me know your setting. The copyright be mine, sayeth the poet.

Lit.: The Beatles: Rocky Raccoon from the White Album, 1968;
Sten Nadolny: Netzkarte, 1980;
Tom Waits: Mule Variations, 1999.

Images: Anika Lindtner: das schöne an einem blog, May 24, 2009;
das erste mal ist immer gut, May 27, 2009;
Carsten Volkwein: Ein Waschbär am frühen Morgen auf dem Dach eines Wohnhauses, Albertshausen/Nordhessen, June 4, 2007.

Waschbär auf dem Dach

Written by Wolf

7. June 2009 at 12:01 am

Posted in Vorderdeck

Warum wir trotz allem Thomas Mann lieb haben

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Update zu Kein Wunsch, 125 zu werden: And Anxiety’s Plenty For Me:

Man kann viel gegen Thomas Mann einwenden und tut es auch. Ein widerwärtiges Großbürgerschätzchen muss er gewesen sein; kein Problem — oder eben doch eins —, dass er schwul war, aber dazu stehen hätte er ruhig dürfen, statt sich selbst samt seiner Familie mit dem aggressiven Depri aus seiner ungelebten Sexualität zu sekkieren. Damit hat er Frau und Kinder bis mindestens ins dritte Glied mit in seinen Sumpf gezogen, mehr Glieder sind es aus zeitlichen Gründen bis jetzt nicht. Ein richtig gelungenes Leben hat niemand aus seinem Umfeld, alle waren sie überschattet von diesem übellaunigen Monument von Oberhaupt, das eigentlich Goethe sein wollte und sich wahrsacheinlich für ihn gehalten hätte, wenn er nicht entschieden zu gescheit dafür gewesen wäre. Ein Hoher Sohn, ein übersteigerter Vater. Der Mann verkörpert alles, was man aus begründetem Selbstschutz hasst. Einfach ekelhaft.

Nicht einmal der Nobelpreis 1929 konnte ihn befriedigen: Daran hatte er zu mosern, dass er ihn für seinen Erstling, die Buddenbrooks bekam statt für sein Lieblingsbuch, den Zauberberg, das 800 Seiten lang einem jungischen Großbürgerschätzchen zuschaut, wie es sich sieben Jahre lang langweilt.

Und das ist die Stelle, an der wir aufhorchen sollten: Da hat er doch Recht, der Mann. Einen Nobelpreis für diesen belanglosen Schnelldurchlauf einer Familiengeschichte von Buddenbrooks? Der Zauberberg dagegen, die thematisierte Langeweile, die er jedoch mit einer so bestechenden Klarheit ausgewalzt hat, dass sie tatsächlich auf keiner der 800 Seiten langweilig wird, nur eins von ziemlich vielen, ziemlich dicken Folgebüchern? Sagt, was hatten die in Stockholm für Übersetzungen? Alles was recht ist: Da konnte sich der verknieste Krauterer ganz gut selbst einschätzen.

Alle Vorwürfe gegen Thomas griffen, wenn er sich mit seiner geradezu sprichwörtlichen allfälligen Ironie (allein schon das Wort…) von oben herab raushängen ließe, dass er sich gerade nur gemein macht. Das tut er nicht. Er schont sich nicht, er weiß, was er für ein Arsch ist, selbst noch in jedem Moment seiner Sitte, jedes Wort, und er braucht viele davon, in moralische Anführungszeichen zu setzen. Er ist unglücklich geblieben dabei. Er hat seine Lieben noch mitgerissen, was ihm vermutlich nicht recht war, aber es hat sich nun mal nicht anders ergeben. Für sein Leben war alles, was er tat, sinnlos, jeder heutige Freizeitpsychologe könnte ihm Besseres raten — aber ich glaube, dass er aufrichtig war. Er hat nichts geändert, er hat nur getan, was er am besten konnte: auf verdammt hohem Niveau schreiben.

Seine Bücher sind ernst, meist sogar tragisch, es geht viel um die Schmerzen des Künstlers, an denen er sicher selbst litt, und gegen die er mit einem Schnäpschen am Morgen anging, das er sich ins Arbeitszimmer hinterhertragen ließ. Wenn man sich auf den Tonfall einlässt, findet man an allen Ecken und Enden was zu grinsen. “Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit” (Der Zauberberg, Vorwort) schickte er mehr oder weniger latent schwule Schreiber in Tod, Elend, Verdammnis, Bedeutungslosigkeit oder mehreres davon, und wenn er es mit seinen letzten paar Freunden verderben musste (in Wälsungenblut die dekadentesten Adelsbengel der Literaturgeschichte im Inzest aufeinanderhetzen! gegen Schluss von Doktor Faustus noch den süßesten aller Himmelsknaben ins Kindergrab senken! anhand allzu leicht entschlüsselbarer realer Vorlagen!) — aber so, wie er es sagt, liegt in allem ein menschlich umfassender Trost. Er hat Epigonen in Legion, aber das konnte nur er.

So gesehen ist er gar nicht so weit weg von Goethe, nur dass seine wenigen Gedichte noch mieser sind. Ver-dichten lag ihm nicht, er brauchte Platz, und davon jede Menge.

Jener Zauberberg und Doktor Faustus gehören zu den paar Büchern erheblichen Umfangs, die ich gleich zweimal durchgehalten hab und nicht anstehen werde, ein drittes Mal zu lesen, was ja alles Lebenszeit bedeutet; wegen dem letzteren hätte ich ums Haar angefangen, Musikwissenschaft zu studieren (Kontrabass vielleicht, Kontrabass ist cool. Im Seniorenstudium vielleicht), und im Tod in Venedig, der uns allen einst zahlreiche Deutschstunden sinnlos verlängern half, tritt eine Nebenfigur auf, und zwar zwei Mal, die er beim ersten Mal unnötig lang und breit beschreibt. Beim zweiten Mal noch einmal — aber jetzt mit einem vollständig anderen Wortschatz. Man muss sehr genau dabeibleiben, um überhaupt mitzukriegen, dass es die gleiche Person ist. Diese beiden Stellen haben mich, der ich über der Kunst der Personen- und Landschaftsbeschreibung die Vorzüge des Mediums Comic schätzen gelernt habe, sogar noch einmal zu Karl May getragen, der seine zusammenerfundene Schießbude der amerikanischen Great Plains mit einer sächselnden Geisterbahn bevölkert hat. Und es wurde besser davon. Ob Thomas Mann das gewollt hätte?

Es war sicher nicht seine Absicht, wohl aber sein Verdienst. Wahrscheinlich hätte er sich das dünne Haar gerauft und es als weiteres Zeichen künstlerischen Scheiterns gedeutet, oder schlimmer: von Missachtung und Unverständnis selbst noch des interessierten Publikums. Mein Wohlwollen für Vater Thomas Mann ist angelernt, aber solide, helfen kann ich ihm aber nicht. Und seine Künstlerschmerzen sind so echt wie die leise laufenden Tränen über seinem etwas verkniffenen, zwanghaft ironischen Lächeln.

Und das rettet ihn. Der Mann ist — leider — gut.

1929, vor 80 Jahren, bekam er seinen zähneknirschend angenommenen Nobelpreis. Von seiner Reise nach Schweden stammt ein Pressefoto, das ihn mit seiner Frau Katia am Bahnhof zeigt.

“Ja grüß Sie Gott, Herr Mann! Gut, dass wir Sie hier treffen. Wollen Sie nicht kurz mit Ihrer Frau für eine Photographie posieren?”

“Wir haben leider nicht viel Zeit, junger Mann. Die Bahn fährt auch ohne uns ab, wenn Sie verstehen.”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Stellen Sie sich einfach hier auf und tun Sie so, als ob Sie Ihre Frau leiden könnten, es dauert ja nicht lange, ha, ha, ha…”

“Mir scheint, wir haben es hier mit einem Scherzbold zu schaffen, meine liebe Katia. Wir wollen ihm den Gefallen tun.”

“Belieben Sie doch gefälligst die werten Beine über Kreuz zu stellen, Herr Mann! Das wirkt sicher besonders intelligent!”

“Etwa so, junger Freund?”

“Ganz famos, Herr Mann! Man merkt sogleich den Fachmann, wenn ich so sagen darf, Herr Mann! Und rücken Sie doch Ihr kleidsames Henkelkissen ins Bild! Das weist Sie als besonders ausgebufften Weltreisenden aus!”

“Ganz wie meinen. Nun muss es dennoch genügen. Die Bahn, Sie wissen…”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Wir haben Sie bereits ‘im Kasten’, wie wir Pressephotographen sagen. Haben Sie recht vielen Dank und viel Glück auf Ihrer Reise!”

So springt Deutschland mit seinen Helden um. Der Stern hat das Bild Ende 2001 aus den Tiefen des Ullstein Bilderdienstes ans Licht gezerrt, und selber bin ich ja auch nicht besser. Und Sie speichern es wahrscheinlich und empfehlen es als funny forward herum, wenn sich schon mal dergleichen von einem Dichterfürsten findet. Alles für die Kunst. Das hängt ihm jetzt 80 Jahre lang nach, dem Mann.

Heute wird er 134. Vielleicht waren das Gründe genug, 2010 zu einem kleinen Thomas-Mann-Jahr auszurufen. Der Buchhandel arbeitet zweifellos fieberhaft dran.

Thomas und Katia Mann 1929, Stern 51, 2001

Der Mann und seine Frau: Thomas und Katia Mann, Berlin 1929: Ullstein Bilderdienst für den Stern 51/2001.
Bildunterschrift: “Thomas Mann und seine Frau Katia 1929 in Berlin. Der Dichter mit Hut, Stock und Henkelkissen erhält in diesem Jahr den Nobelpreis.”

Written by Wolf

5. June 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Most vexatious delays

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Update zu Elizabeth Shaw Melville unterbindet den ersten Manuskriptentwurf (1850)
und Chez Pierre:

Water, water, every where,
Nor any drop to drink.

Samuel Taylor Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner, 1797

In ihrem Artikel “Herman Melville, Wife Beating, and the Written Page” (1994) [in American Literature, LXVI, 1 (1994) p. 123–150] warf dann Elizabeth Renker eine Frage auf, die nach der Dynamik der Publizistik nicht zum Verschwinden gebracht werden kann: Hat Melville, besoffen, seine Frau geprügelt und die Treppe hinuntergeworfen oder nicht? Bewiesen ist nichts, aber immer bleibt etwas hängen. Da seine Frau ihn 1868 verlassen wollte, muß es jedoch ziemlich schlimm gewesen sein.

Hans-Joachim Lang: Nachwort zu Pierre,
in: Herman Melville: Pierre, hg. Daniel Göske, Hanser 2002, Seite 660

Heute vor 133 Jahren, am 3. Juni 1876, erschien Clarel, das Produkt aus Melvilles Weltflucht bei G. P. Putnam & Company in New York. Elizabeth zu Catherine Lansing: “Congratulate us, for the book was published yesterday after a series of the most vexatious delays.” Das wird uns noch beschäftigen.

Written by Wolf

3. June 2009 at 4:55 pm

Posted in Moses Wolf

Rogue’s Gallery: The Art of the Siren, #30

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Song: Martin Carthy & Family: Hog-Eye Man (2:45 minutes)
from Rogue’s Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, ANTI- 2006.
Official artist site; song playlist.
Buy CD in Germany and elsewhere.
Image: Miss Marjorie Joesting: Rock On: 1926.
Marjorie, the future Mrs. Arthur Lange, was both Miss Washington, D.C., and a Miss America runner-up at Atlantic City in 1926.
National Photo Company Collection glass negative, August 2, 1926.

Lyrics:

1. Oh, hand me down my riding cane,
I’m off to meet my darlin’ Jane.

Chorus: And a hog-eye!
Railroad navvy with his hog-eye,
Steady on a jig with a hog-eye-o,
She wants the hog-eye man!

2. Oh, the hog-eye man is the man for me,
Sailin’ down from o’er the sea. — Chorus.

3. Oh, he came to the shack where Sally did dwell,
He knocked on the door, he rung a bell. — Chorus.

4. Oh, who’s been here since I been gone,
Railroad navvy with his sea boots on. — Chorus.

5. If I catch him here with Sally once more,
I’ll sling me hook, go to sea once more. — Chorus.

6. Oh, Sally’s in the garden sifting sand,
Her hog-eye man sittin’ hand in hand. — Chorus.

7. Oh, Sally’s in the garden, punchin’ dough,
The cheeks of her arse go chuff, chuff, chuff! — Chorus.

8. Oh, I won’t wear a hog-eye, damned if I do,
Got jiggers in his feet and he can’t wear shoes. — Chorus.

9. Oh, the hog-eye man is the man for me,
He is blind and he cannot see. — Chorus.

10. Oh, a hog-eye ship and a hog-eye crew,
A hog-eye mate and a skipper too. — Chorus.

Explanatory liner notes by ANTI-:

A hog-eye was apparently a type of barge used in the canals and rivers of America from the 1850’s onward. Thus, “hog-eye man” was used in derogation by the deep water sailors who used this chantey at the capstan. Many of the original verses to this chantey were far too obscene to have ever found their way into print.

Written by Wolf

1. June 2009 at 12:01 am

Posted in Siren Sounds