Moby-Dick™

Leben mit Herman Melville

Archive for the ‘Ausguck’ Category

The rhythm of our rowing

with one comment

Update zu We are the masters; otherwise there could be no poetry:

Lewis Carroll and Alice Liddell kissing, 1858Child of the pure unclouded brow
And dreaming eyes of wonder!
Though time be fleet, and I and thou
Are half a life asunder,
Thy loving smile will surely hail
The love-gift of a fairy-tale.

I have not seen thy sunny face,
Nor heard thy silver laughter;
No thought of me shall find a place
In thy young life’s hereafter —
Enough that now thou wilt not fail
To listen to my fairy-tale.

A tale begun in other days,
When summer suns were glowing —
A simple chime, that served to time
The rhythm of our rowing —
Whose echoes live in memory yet,
Though envious years would say ‘forget’.

Come, hearken then, ere voice of dread,
With bitter tidings laden,
Shall summon to unwelcome bed
A melancholy maiden!
We are but older children, dear,
Who fret to find our bedtime near.

Without, the frost, the blinding snow,
The storm-wind’s moody madness —
Within, the firelight’s ruddy glow,
And childhood’s nest of gladness.
The magic words shall hold thee fast:
Thou shalt not heed the raving blast.

And though the shadow of a sigh
May tremble through the story,
For ‘happy summer days’ gone by,
And vanish’d summer glory —
It shall not touch with breath of bale
The pleasance of our fairy-tale.

Julia Margaret Cameron, Photographic study Pomona. Alice Liddell as a young woman, 1872Es ist nicht der Jubeltag von Alice in Wonderland. Es ist auch nicht der Jubeltag des Sequels Through the Looking Glass, auch wenn das Gedicht oben das Motto zum letzteren bildet und als Highlight beider Bücher alle Tage Grund zum Jubeln hergibt. Vielmehr ist der Jubeltag — der 150. — eines Ausflugs mit Ruderpartie und Picknick: Am 4. Juli 1862 lieh sich der mathematisch gebildete Dorfgeistliche Lewis Carroll drei kleine Mädchen befreundeter Eltern aus, um mit ihnen den schönen Sommertag zu begehen.

Unterwegs, muss man sich vorstellen, wurde am Flussufer gerastet und Brotzeit gehalten; der Große, Reverend Charles Lutwidge Dodgson (bürgerlich) musste Sandwiches schmieren (bitter orange marmelade und lemon curd auf gesalzener Butter, wie wir annehmen dürfen) und sich nach der ganzen Ruderarbeit auch noch eine Geschichte ausdenken — oder haben Sie noch nie drei zehnjährige Gören ausgeführt?

Da sprach Lutwidge Dodgson eine Geschichte ins Blaue, dass die Sonne hätte aufgehen müssen, wenn sie nicht ohnedies ganz unenglisch auf den Reverend mit seinen drei Leihelfen gelacht hätte — eine Geschichte von der anwesenden kleinen Alice, die sich auf einem — o Wunder — Picknick über einer allzu bilderfreien Geschichte langweilt und darob einem weißen Hasen ins Wunderland folgt — eine Geschichte, sage ich, eines Mathematikers, der Kind sein kann, von der Tragweite und der Tragfähigkeit nur der allergrößten Literatur — eine Geschichte, in der jeder kindische oder sagen wir treffender: kindgerechte Kalauer unfehlbar sofort ins Philosphische lappt — eine Geschichte, die kein Rätsel löst, die jedoch die richtigen Rätsel aufgibt, indem sie Namen für Lebewesen, Bewusstseinszustände und wieder andere Rätsel findet, die offenbar schon lange in der Welt waren und jetzt endlich bei ihren Namen genannt werden können. Lutwidge Dodgson erfand an diesem Sommersonnennachmittag ein unverwüstliches Stück Unterhaltung für kleine Mädchen und ein bis auf weiteres gültiges Vademecum für Weltphilosophie.

Die Welt aber, sie ist eine privilegierte allein deswegen, dass der Reverend zu Hause noch dem Wunsch seiner Hauptdarwstellerin Alice folgte, sein Extemporat niederzuschreiben. Zu Weihnachten war die Urversion Alice’s Adventures Under Ground fertig. Nach dem einzig richtigen Illustrator John Tenniel, der all diesen gelahrten Irrwitz in klare Strichzeichnungen übersetzen konnte, hat er lange gesucht und ihn beim Punch gefunden; alle Verbilderungen danach sind nur noch mehr oder weniger steile Abstiege von Tenniel. Und die viel späteren Filmversionen mit Spielkarten, die zur Blasmusik tanzen, waren schon nicht mehr so wichtig.

W. Coulbourn Brown, Alice Pleasance Liddell Hargreaves, 1932, Rosenbach Museum & Library, PhiladelphiaEin Wort noch zum Verhältnis von Geistlichen zu kleinen Kindern: In jüngerer Zeit wurden entschieden zu viele Medienberichte über fatal falsch verstandene Kinderseelsorge notwendig, was dem Zölibat oder organisierter Kinderprostitution oder etwas anderem geschuldet sein mag.

Lewis Carroll, wie ihm unterstellt wurde, war nicht pädophil. Vielmehr lebte er seine Sexualität aus, indem er sie gerade nicht auslebte: Er war glücklich dabei, in sehr jungen Mädchen ein weibliches Element in seinem Leben zu haben — und eben gerade nicht erotisch tätig werden zu müssen. Seine Energie leitete er in die philosphische Seite der Mathematik und die neue Technik der Daguerrotypie. Frei zugänglich sind bis heute seine photographischen Aufnahmen bestürzend leicht bekleideter kleiner Mädchen seiner Bekanntschaft in verkünstelten Posen, für deren Herstellung und Verbreitung man sich heute strafbar machen könnte. Nach allem, was man weiß, entstanden diese Aufnahmen grundsätzlich unter der Aufsicht der jeweiligen Eltern und sind als Kunst mit Hilfe der damals allermodernsten Technik zu verstehen. Heute wäre Carroll vermutlich Web-Programmierer oder etwas anderes Nerdiges, damals lebte und starb er — vorbildlich für einen Mann Gottes — als Jungfrau, nur dass er eben gut mit kleinen Kindern konnte — “außer Jungen”.

Ein gemutmaßtes Schreiben, in dem die besorgten Eltern Liddell dem kinderaffinen Geistlichen allen weiteren Umgang mit ihrer Tochter Alice untersagten, ist verschollen. Erhalten dagegen sind Aufzeichnungen der herangewachsenen Alice Liddell, verheiratete Hargreaves, in denen sie sich selbst als Matrone nur aufs liebe- und ehrenvollste über Reverend Dodgson äußert. Wohl oblag er einer exzentrischen — immerhin war der Mann Engländer — vielleicht sogar verqueren Form der Sexualität, war aber das glatte Gegenteil von übergriffig.

Ein Picknick von vergleichbarer Bedeutung fand kurz davor in den amerikanischen Berkshire Mountains statt, wenngleich unter lauter gestandenen Mannsbildern ganz ohne kleine Mädchen — am 5. August 1850, als Nathaniel Hawthorne auf Herman Melville traf, woraufhin dessen Moby-Dick das wurde, was er ist. Wenn Ihnen weitere Picknicks von einiger Spätwirkung auffallen, machen Sie uns darauf aufmerksam; es herrschte Viktorianismus, der in Deutschland Romantik hieß, als ein wirtschaftlich erstarkendes Bürgertum die Freizeit erfand und seinen Herrgott in den Kräften der Natur erkannte — da sollte es wunder nehmen, wenn da gar nichts mehr war.

Alice Pleasance Liddell wurde 1852 geboren. Mit ihren zwei gleichaltrigen Freundinnen und dem väterlichen Freund war sie 1862 picknicken, zehnjährig. Unser zweites Bild stammt von 1872, zwanzigjährig. Unser drittes von 1932, achtzigjährig. Jubilate.

Alice durch die Lebensalter: Unter Umgehung des allfälligen Lewis Carroll: Alice Liddell as a beggar-maid, 1858 from the story of Cophetua, supposed tear hole or ink-blot in photo digitally removed, first published in Carroll’s biography by his nephew Stuart Dodgson Collingwood: The Life and Letters of Lewis Carroll, T. Fisher Unwin, London 1898 — unter dessen Umgehung also wären das:
Lewis Carroll and Alice Lidell ca. 1858;
Julia Margaret Cameron: Photographic study “Pomona” (Alice Liddell as a young woman), 1872;
W. Coulbourn Brown: Alice Pleasance Liddell Hargreaves, 1932, Rosenbach Museum & Library, Philadelphia.

Written by Wolf

4. July 2012 at 12:01 am

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A reasonable portrait of a nice lady writer, but I instantly had a visceral reaction to it.

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Update for Emily Dickinson (and not so much for recent Jane Austen):

You can’t write in a public place withour being facebooked within finishing your sentence. Jane Austen’s latest biographer has found a “new” picture of Ms. Austen. A better one than all the known. Wtf is Facebook? “Fan art might not be fan art, but it’s hard to tell” (recommended AustenBlog).

Jane Austen

The previous portrait is a very sentimentalised Victorian view of ‘Aunt Jane’, someone who played spillikins, who just lurked in the shadows with her scribbling. But it seems to me that it’s very clear from her letters that Jane Austen took great pride in her writing, that she was desperate to be taken seriously This new picture first roots her in a London setting – by Westminster Abbey. And second, it presents her as a professional woman writer; there are pens on the table, a sheaf of paper. She seems to be a woman very confident in her own skin, very happy to be presented as a professional woman writer and a novelist, which does fly in the face of the cutesy, heritage spinster view.

Paula Byrne in Newly Unearthed Portrait Of Jane Austen Contradicts Her ‘Grumpy Spinster’ Image,
The Gloss, December 7, 2011.

Image by Paula Byrne for The Guardian, December 5, 2011.

Written by Wolf

9. December 2011 at 12:01 am

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Fauststoff: Eine ungeheure Menge Mumpitz

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Update zu Ahoi, Goethe:

So wie bei allen großen Genies findet man bei Goethe eine ungeheure Menge Mumpitz und im entsprechenden Ausmaß meiner Beziehung zu ihm, eine monströse Menge davon bei mir.

Herman Melville an Nathaniel Hawthorne, Juni 1851, Übs. Alexander Pechmann.

Heute vor 85 Jahren, 14. Oktober 1926: Uraufführung Faust — eine deutsche Volkssage.

Es ist denkbar, daß Melville erst über eine Erklärung Goethes zur Figur des Faust auf die Idee kam, die biblische Gestalt des Königs Ahab als Vorbild für den Kapitän der Pequod zu nehmen. Eine Anspielung auf die Beschreibung von Goethes Leichnam in Kapitel 86 des Moby-Dick beweist, daß Melville Eckermanns Gespräche mit Goethe gelesen hatte; die Übersetzung von Margaret Fuller, einer Anhängerin des deutschen Dichters aus dem Kreis der Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson, war 1839 erschienen.

Alexander Pechmann: Herman Melville. Leben und Werk, Böhlau Verlag 2003,
11. Kapitel: Ahab und der Wal, Seite 150.

Kurz darauf — keine hundert Jahre später — unterschrieb Friedrich Wilhelm Murnau auf seiner ersten Amerikareise einen Vertrag mit dem Produzenten William Fox. Bevor Murnau endgültig nach Kalifornien auswanderte, drehte er als letzten Film in Deutschland den Faust mit Emil Jannings als Mephistopheles.

Murnaus Vermächtnis in und für Deutschland, die für einen jetzt 85-jährigen Film außerordentliche Länge von 106 Minuten, ist angefüllt mit einer Ausstattung und technischen Finessen, die in ganz erstaunlicher Weise state of the art gewesen sein müssen. Die Kulissen erreichen nur aus dramaturgischen Gründen nicht die Opulenz wie die in Fritz Langs Nibelungen (1924) oder Metropolis (1927), weil sie (ähnlich wie in seinem eigenen Nosferatu) eher durch eine ungefähre mittelalterliche Glaubwürdigkeit wirken müssen — dafür arbeitete Murnau mit Doppelbelichtungen. Bis vor ein paar Jahren, seit praktisch alle Großproduktionen wie eine Art animierte Excel-Tortengraphik gebaut werden (“cgi-ed”), war das die Methode der Wahl, um Geisterwelten darzustellen.

Wie der volle Filmtitel sagt, orientiert sich Murnau für seinen Faust-Film weit mehr am originalen Volksbuch Historia von Doktor Johann Fausten – dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler von 1587 als an den durchgesetzten Bearbeitungen von Christopher “Kid” Marlowe und Goethe. Es gibt also auch für den postmodernen Filmverbraucher einige Neuentdeckungen gegenüber dem Fauststoff aus der Schule. Und zeitbedingt, worüber man in weiter beschleunigenden Zeiten nicht zu lange höhnen sollte, durchaus eine ungeheure Menge Mumpitz.

Amerikanisches Filmplakat F.W. Murnau, Faust -- eine deutsche Volkssage via Cinemalane

Amerikanisches Filmplakat via Zoë Walker: The Big Parade, 19. Januar 2010.

Written by Wolf

14. October 2011 at 12:01 am

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Ahoi, Goethe

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Update zu O Mädchen mein Mädchen
und Sophokles’ Bruder ab orbe Britannis:

Frolic April, 25 cents, Sirens in Silk via retro-space, 20. August 2011Alles Gute zum 262., Herr Geheimrat. — Woran erinnern wir uns bei Ihrem Namen? Dass Sie’s sehr mit dem Weybervolck hatten, lieber eine brave Zeitlang weit und gründlich untergetaucht sind, bevor Sie sich einem Problem stellen, und da am liebsten in die Provinz statt unter zu viele Ihresgleichen, die Ihnen den Rang als einsames Genie streitig machen könnten — damit verbunden Ihre Italienische Reise, ferner Ihre Erfindung des Bestsellers in Gestalt des Werther, Faust, der Tragödie erster und zweyter Theil, Wanderers Nachtlied (das war wirklich gut!), Wilhelm Meister, die Lehr– und Wanderjahre sowie Theatralische Sendung, die erlesenen Ferkeleien in den Römischen Elegien, das Zurückzucken davon in der Marienbader, die ganz drogenfrei wundersam weggedriftete Farbenlehre, ein bisschen Grundschulstoff (Erlkönig, Zauberlehrling), ziemlich viel Dichtung, allerhand Wahrheit — und dann noch der Versuch einer Seemannsgeschichte.

Alles kann man ihm zutrauen, dem Goethe, nur keine Seefahrergeschichten. Es gibt eine. Reise der Söhne Megaprazons heißt sie, ist Fragment geblieben und sehr spärlich dokumentiert. Die Textmenge, mit Nachweis eines früher entstandenen Kapitelschemas als umfangreicher Roman angelegt, umfasst 4652 Wörter, das entspricht einem neunseitigen Word-Dokument in durchschnittlich hässlicher Arial 12-Punkt, die Frankfurter Goethe-Gesamtausgabe braucht 15½ Druckseiten. In den meisten Gesamtausgaben fehlt sie; mir liegt sie in der praktisch nur für große Bibliotheken erschwinglichen Frankfurter Ausgabe vor, und auch das nur, weil die inzwischen teilweise als Taschenbuch bei Insel gemacht wird: im Band TB 11: Die Leiden des jungen Werthers [beide Fassungen als Paralleldruck!]/Die Wahlverwandtschaften/Novelle/Kleine Prosa/Epen. Herausgegeben von Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht.

Fiesta, Women Love to Read, Volume 17, Number 4, via retro-space, 27. April 2011Das ist eine ganze Menge auf den 1245 Seiten, dazu noch wegweisend durchkommentiert. Und im Teil mit der Kleinen Prosa finden sich die Söhne Megaprazons. In der Amalienausgabe, der geradezu sprichwörtlich vollständigsten von allen, müssten sie noch drin sein, in der meinigen, der Hamburger, sind sie nicht. Online komme ich auf genau zwei Volltexte: beim Gutenberg-Projekt und bei Wissen im Netz. Wer weitere Fundstellen ausmacht — ich zähle eventuell auf die Münchner Ausgabe –, kann sie gern in den Kommentaren vermelden.

Goethe selbst hat sich genau einmal zu seinem Seemannsversuch geäußert: in der Campagne in Frankreich: Pempelfort, November 1792:

Ich hatte seit der Revolution, mich von dem wilden Wesen einigermaßen zu zerstreuen, ein wunderbares Werk begonnen, eine Reise von sieben Brüdern verschiedener Art, jeder nach seiner Weise dem Bunde dienend, durchaus abenteuerlich und märchenhaft, verworren, Aussicht und Absicht verbergend, ein Gleichnis unseres eignen Zustandes. Man verlangte eine Vorlesung, ich ließ mich nicht viel bitten und rückte mit meinen Heften hervor; aber ich bedurfte auch nur wenig Zeit, um zu bemerken, daß niemand davon erbaut sei. Ich ließ daher meine wandernde Familie in irgend einem Hafen und mein weiteres Manuskript auf sich selbst beruhen.

Eine ganz ungewohnt selbstkritische Haltung Goethes: Auf der ersten Lesung hat sein jüngstes geistiges Kind nicht so den Erfolg, und darum lässt er es absichtlich, ohne Not liegen. Die erhaltenen Fragmente stehen auf dem Papier einer Mühle nahe bei Trarbach, wo Goethes Compagnie auf dem Weg in die Champagne durchkam. Demnach schrieb er es wohl im November 1792 — in Zelt- und Zivilstenquartieren auf dem Feldzug des Weimarer Herzogs. Kann sein, dass sich unter solcherlei Erlebnissen, wenn man Seidenkissen gewohnt ist, manches relativiert.

Fiesta Vol. 4, No. 6, via retro-space, 27. April 2011Woher und zu welchem Ende nun eine Goethische Seegeschichte? Lesen wir dazu tiefer in den “dicht[en], bestechend[en] und rücksichtslos formuliert[en]” (Süddeutsche Zeitung) Kommentar der Frankfurter Ausgabe hinein:

Wie mit zahlreichen anderen Werken der 1790er Jahre bemühte sich Goethe mit der Reise der Söhne Megaprazons um eine literarische Antwort auf die Französische Revolution, wobei sich das Genre des satirischen Reiseromans für ein solches Unternehmen durchaus anbot, hatten sich doch in der Gattungstradition sowohl Verfahren einer grotesken Transformation zeitgenössischer Konstellationen als auch Möglichkeiten einer Distanzierung vom unmittelbar politischen Anlaß herausgebildet. Beides, die Analyse des Geschehens und eine kritische Stellungnahme, ließ sich auf dem Wege allegorischer Verfremdung formulieren. Goethes Referenztext erwies sich als in dieser Hinsicht als besonders einschlägig: François Rabelais’ (1483–1553) Romanwerk Gargantua et Pantagruel, erschienen in fünf separaten Büchern zwischen 1534 und 1564.

Halten wir fest: Es sollte ein Reiseroman werden, und zwar ein satirischer, und zwar um aus sicherer Distanz das Zeitgeschehen aufzuarbeiten. Und sofort sieht es Goethen viel ähnlicher: Das große Vorbild Rabelais war auch 1792 schon lange genug verstorben, um dem gegenwärtigen Universalgenie keinen Abbruch zu tun, und mit zeitkritischen Aussagen will man sicher bei niemandem anecken, wenn man bequem beim Herzog haust.

Goethe kommt sichtbar nicht richtig in die Gänge, das Gargantua-Remake kommt reichlich behäbig daher: Die Hauptfiguren heißen allen Ernstes Epistemon, Panurg, Euphemon, Alkides, Alciphron und Eutyches, von deren mythologisch nicht belegten Vater Megaprazon aus dem Titel ganz zu schweigen. Was wird das? Ausweichen in eine aufgekochte Kritik an der jahrhundertealten Lutherischen Reformation statt an der brenzligen Franzosenrevolution? Mit Verlaub: Rabelais hätte diesem Breitarsch von Roman eines Feudalistenschätzchens ein ganzes saftstrotzendes Kapitel voller französischer Vokabeln eingeflochten, die bis heute nicht im Micro Robert vorkommen.

Nun stimmen Goethes satirisch gemeinte Zuweisungen weder dramaturgisch noch in der Sache:

Ist schon die räumliche Koexistenz des reformatorischen mit dem revolutionären Streitfall nicht unbedingt historisch einleuchtend, so zeigt sich im weiteren auf das deutlichste, daß es der Allegorie aus strukturellen Gründen nicht gelingt, den ‘Ort’ der Revolution im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu bestimmen. Die Insel der Monarchomanen habe sich “auf und davon gemahct”, heißt es. Tatsächlich ist dieses Land im Umsturz seiner alten Ordnung zu einem vagierenden, einem effektiv ortlosen Gebilde zerfallen. Zwar lassen sich, indem das alte Märchenmotiv der schwimmenden Insel allegorisiert wird, an dem dreigeteilten Territorium aktuelle politische Prozesse um den Interventionskrieg illustrieren: Die ‘steile Küste’ — der Adel — nähert sich gleich nach der Katastrophe dem Land der Papimanen, orinetiert sich dann aber doch “etwas mehr Nordwärts”, ohne — in der Orientierung auf Habsburg — “festen Stand gewinnen” zu können; später zeigt sich noch einmal die ‘Residenz’ und schließt sich beinahe wieder mit der ‘steilen Küste’ zusammen.

bezeichnend für Goethes Konstruktion ist allerdings, daß die “Ebene” als der dem dritten Stand zugeordnete Landesteil ganz außer Sicht geraten und anscheinend verschollen ist. Gerade an diesem Bruchstück der alten Ordnung — dem nachrevolutionären Frankreich selbst — wäre jedoch zu studieren, ob es nicht auch ohne ‘Residenz’ und ‘steile Küste’ geht. Der allegorische Modus der Übersetzung politischer Ereignisse in eine räumliche Topik widerstreitet ganz offensichtlich der politischen Geographie des zeitgenössischen Europa. Durch die Revolution war die staatliche Integrität des französischen Territoriums keineswegs angefochten — das hatte Goethe im Zuge der ‘Campagne in Frankreich’ ja hinlänglich erfahren. […] Dieser Konsequenz seiner eigenen Konstruktion zu folgen, ist der Autor der Reise offensichtlich nicht bereit. Statt dessen setzt er sich dem Verdacht aus, er wolle den Mythos gottgegebener und zeitloser Herrschaft affirmieren.

Frolic Dezember, 35 cent, via retro-space, 27. April 201. Does It Pay To Be A Wolf?; What's Wrong With Redheads? (Answered With Full Color)Was einen desto wahrscheinlicher ankommt, wenn man weiß, wie dicke sich Goethe nachmals mit Napoleon vertragen sollte. Da unternimmt Kommentatorin Wiethölter einen Versuch, Goethe in Schutz zu nehmen, den ich ihr in seiner engagierten Ausgewogenheit hoch anrechnen möchte:

Es hieße die kargen Fragmente zu einer zweifellos umfänglich konzipierten Erzählung überfordern, wollte man jeden einzelnen Zug er Allegorie auf eine politische Konzeption hin durchleuchten. […] Man würde auch dem Fragment der Einleitung nicht gerecht, in dem dialogisch der Konnex zum Roman Rabelais’ hergestellt wird. In beiden Textstücken dominiert das komödiantische Spiel mit dem Genre des Seeabenteuers über die satirische Absicht. […] Die Reise der Söhne Megaprazons scheitert vielmehr — auf instruktive Weise — an den strukturellen Prämissen der gewählten Gattung: Der Text ist als ein literarischer Kommentar zum Zeitgeschehen angelegt, aber zugleich ist er gegen diese Aktualität als Versuch einer poetischen ‘Zerstreuung’ zu lesen. So fehlt dem Kommentar die Entschiedenheit der polemischen Stellungnahme, jene Eindeutigkeit, mit der die auf Rabelais’ klarer Antithetik beruhende Allegorie politisch zu fundieren wäre. Daß sich Goethe dieser Nötigung entzogen hat, zeigt der Text in Form von Widersprüchen; so ist nur konsequent, daß kein Erzählfluß zustande kommt und das Projekt schließlich abgebrochen wurde.

Ja, eben: Alles kann man ihm zutrauen, dem Goethe, nur keine Satire. Selbst für seinen Kriegsbericht hat er sich den Kalauer “Campagne in der Champagne”, der sachlich richtig gewesen wäre, fürnehm verkniffen. Zu Deutsch: Da hat sich der Dichterfürst an der Satire verhoben.

Für solche philologischen Einsichten, ja: Höhenflüge wie Waltraud Wiethölters Kommentar hab ich die teuren Ausgaben der Dead White Males wirklich lieb und lasse die Kaufhofauswahlen leichten Herzens da, wo sie hingehören: bei den fehlerbehafteten, unmöblierten Plain-Text-Gratisdownloads für Kindle. Die beiden o.a. Volltexte sind übrigens ebenfalls voller Tippfehler. Ein nach der Frankfurter Ausgabe korrigierter wird möglicherweise an dieser Stelle nachgereicht.

Kommt denn der Einwand, Goethe konnte nicht lustig sein, einem Vorwurf gleich, dass Mutter Theresa keine Pferde malen konnte und die Inneren Mongolen nichts von Käse verstehen? Ein satirischer Seebärenroman, jetzt bitte mal. Ist Goethe vielleicht Melville? Stevenson? Conrad? Gut, er hat es eingesehen, das rettet ihn. “Aussicht und Absicht verbergend”, sagt er selbst, und legt den netten Versuch bereitwillig zu den Akten.

Sollte ich’s vergessen haben zu erwähnen? — : Wanderers Nachtlied war dafür wirklich gut.

Meilensteine via retro-space: 1.: Sirens in Silk, Frolic April;
2.: Women Love to Read: Fiesta Volume 17, Number 4;
3.: Lenin is Watching You, Fiesta Vol. 4, No. 6, und
4.: Does It Pay To Be A Wolf?; What’s Wrong With Redheads? (Answered With Full Color), Frolic December, mid-novecento.

Written by Wolf

28. August 2011 at 12:01 am

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Das nächste Leben geht aber heute an

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Update zu Powerpoint zur teutschen Litteratur des 19. Jahrhunderts
und Mein kaltes Herz (I’ll be back to stay):

Es ist wie bei Martin Luther King, Mama Cass, Janis Joplin, Sandy Denny und neuerdings Amy Winehouse: Bei der jung gebliebenen Frau Günder(r)ode fällt einem immer als erstes ein, dass sie gestorben ist.

Meine Ansicht vom Sterben ist die ruhigste. Ein Freund ist mir bei seinem Leben was mir die Gramatik ist, stirbt er so wird er mir zur Poesie. Jch wollte lieber von meinem besten Freund nicht wissen als irgend ein schönes Kunstwerk nicht kennen.

Aus: Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, 1990, Band 1, Seite 438.

Karoline von Günderrode, Kopfstudien, ca. 1805

Karoline Friederike Louise Maximiliane von Günderrode (* 11. Februar 1780 in Karlsruhe; † 26. Juli 1806 in Winkel (Rheingau)): Kopfstudien im Zusammenhang mit [Studienbuchkategorie] M Physiognomik. SUF: A 4, Bl. 228v. Zeichnungen mit Bleistift, Beschriftungen mit brauner Tinte, ca. 1805.

Cirtassierin [richtig: Cirkassierin]
Jndier
Russe

Karoline von GünderodeAus: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien, 1990, Band 2, Seite 478.

Bild groß.

Immer noch die aufschlussreichste, dabei höchst süffige Fachliteratur: Bettina von Arnim: Die Günderode 1840, bei btb von Elisabeth Bronfen herausgegeben, bei insel mit dem Essay von Christa Wolf: Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an, Dezember 1979.

 

 

 

 

 

Soundtrack, den nicht mehr zu hören eine ruhige Ansicht vom Sterben verleiht:

Written by Wolf

26. July 2011 at 7:31 am

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Happy Independence Day, Neighbors! (Being a Juligewinnspiel!)

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Update for Brush your teeth for America! and Heute vor…:


The mouse that built America: Ben and Me, 1953.

The Gewinnspiel part: Und wer mir jetzt wirksam herdeduzieren kann, welch brunnentiefen Sinn das ergibt, dass der Film in zwei Teilen daherkommt, gewinnt wieder was Schönes.

Written by Wolf

4. July 2011 at 6:33 am

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Lass irre Hunde heulen

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… und außerdem muss noch schnell jemand “Ich hatt’ einen Kameraden” auf die Melodie von “Es waren zwei Königskinder” einsingen und es zugänglich machen. Wo die Leute ihre Lieder sowieso nur noch einzeln saugen, muss es ja nicht gleich eine ausgewachsene CD werden. Obwohl — wieso denn nicht?

Celeste Tumulte, Three Girls and Their ViolinsEigentlich erstaunlich, was für eine unterschätzte Sportart das Durcheinanderwirbeln von Musik und Text ist, dabei funktioniert das mit der Volksliedstrophe geradezu universell. Die eingängigen Teile der abendländischen Poesie bestehen doch flächendeckend aus vierhebigen, paar- oder kreuzgereimten Vierzeilern; alles, was davon abweicht, ist schon ein erklärungsbedürftiger Sonderfall. Es bildet einen Wesenszug der deutschen Volksseele, zumindest bildet es ihn ab: Das gleichmäßige, eindeutige Eins-zwei hört man gern und kann man sich merken, so vielfältig man es auch durchvariieren kann.

Ein wie hochstehendes Kunstwerk das schlichte Lied “Es waren zwei Königskinder” überhaupt ist, wurde mal in einem DDR-Spielfilm aus den 70ern erklärt: Vier Zeilen hat die erste Strophe, wie alle seine Strophen, wie in den meisten einfachen Liedern. Die erste Melodiezeile fängt an mit einer Quart auf die Exposition der Handlungsträger: eben “Es waren zwei Königskinder” mit einem Tonschritt von C aufs darüberliegende F. Ansteigende Melodie: macht aufmerksam und reißt mit.

Und jetzt, keine Zeit zu verlieren, kommt der Trick: Die zweite Melodiezeile fängt an mit einer Quint, der Tonschritt geht wieder vom C der ersten Zeile aus und landet einen Ton höher auf dem G — eine noch schärfe ansteigende Melodie, und zwar auf den Text: “Die hatten einander so lieb.” Das sagt: Aufgemerkt!, weil der weitere Verlauf genau von dieser Liebe handelt: Bitte merken, das brauchen wir jetzt das ganze Lied lang.

Die dritte Melodiezeile bestätigt, dass es kein Zufall war: Sie fängt an mit einer Sext — abermals vom alten C aus noch eins höher aufs A — und zwar auf den Text: “Sie konnten zusammen nicht kommen”: die Katastrophe! So haben sich die ersten drei Zeilen unauffällig höher geschraubt und dabei ihre Spannung aufgebaut. Eigentlich schon eine vollständige Geschichte, allen Schnickschnacks entkleidet und derart straff erzählt, dass sie noch vor dem Strophenende fertig dasteht. Fehlt noch die vierte Melodiezeile.

Sie fängt an wie die erste: mit der alten Quart C bis F, auf den Text: “Das Wasser war viel zu tief.” Da begibt sich der Text schon in erklärende Ausschmückung, der spannende Teil lag schon in der Sext, die erste Strophe endet schon in Resignation.

Aus derart schlichten Stoffen, die praktisch nur einem Musiklehrer in einem DDR-Spielfilm auffallen, ist die Qualität höchstselbst gestrickt. Schön, wenn sie sich wenigstens so plastisch nachweisen lassen, in den meisten Fällen kann ja niemand so recht den Finger auf die Gründe legen, warum ein Lied volkstümlich werden konnte (oder nicht). Die “Königskinder” bestehen aus ewig alten, ewig jungen Menschheitsthemen — Liebe, Tod, Liebeskummer, Todeskampf — die, wenn man sie so herzählt, ihrerseits sehr klischeedeutsch wirken: Es muss weh tun, sonst stimmt was nicht.

Auch ohne Boshaftigkeit gegenüber dem Volkstum beweist aber, wie tragfähig diese Strickweise ist: Es funktioniert sogar in der Parodie. Wenn man die vierte Zeile, wie in Klassenzimmern und Bierschwemmen verflossener Jahrzehnte vieltausendfach geschehen, austauscht mit: “Der Prinz kam immer zu früh”, so gerät das Melodie-Text-Gefüge ins Wackeln, weil der neu dazuentwickelte Gedanke veralbernd hineinstört — aber die Mechanik geht davon nicht kaputt. Zeitlos, schön und kunstvoll ist das — muss ich es eigens dazusagen? — deswegen, weil es den Menschen an natürlicherweise dafür vorgesehenen Stellen seiner Seele anrührt, und er muss davon nicht wissen und kann es dennoch begründen.

(Anmerkung 1: Die zotige Abwandlung dürfte erst nach 1960 aufgekommen sein, weil ich “kommen” als Begriff für eine menschliche Körperfunktion für eine sehr junge Verbvariante halte.)

(Anmerkung 2: Der DDR-Film handelte übrigens von einem Musiklehrer und seiner Unzucht mit Schutzbefohlenen: seiner wahnsinnig blonden, gut entwickelten Schülerin. Erinnert sich jemand an den Namen? Von dem Film jetzt, nicht von der Schülerin?)

Vor allem wenn man den Text, der so konstituierend mit der Melodie verwachsen ist, komplett austauscht, kann nur eine noch weitergehende Parodie entstehen. Der Ernst, der in diesem Fall die Schönheit ausmacht, wird stiften gehen, es wird holpern, sich reiben und fremdeln.

Aber es ist kein Verlust: Das Königskinderlied durfte so lange wachsen und sich festigen, dass es keinen nachweisbaren Urheber mehr hat. So entsteht bei manchen Volksliedern, je genauer man ihnen hinterherspürt, der Eindruck, sie seinen irgendwie auf dem Baum gewachsen, bis einer kommt, sie erntet und singt. Richtige Volkslieder sind Naturereignisse im engsten Sinne. Sie werden nicht geschrieben, sie manifestieren sich durch jemanden, der sie zu Musik spielt.

Auf die Idee komme ich, weil es eine modernere Version von “Ich hatt’ einen Kameraden” gibt, die am Ende einer Strophe spielerisch den Anfang der “Königskinder” einflicht. Melodisch funktioniert das überraschend flüssig und bringt einen künstlerischen Effekt hinein, der von kulturbeschlagenen Hörern — wir sind alle welche — einwandfrei erfühlt und verstanden wird. Auch wenn “Der gute Kamerad“, so der kanonische Name, kein genuines Volkslied, sondern von Ludwig Uhland ist — wieso sollte sich das nicht mit dem ganzen Lied fügen?

Weil Uhland fünfzeilige Strophen gedichtet hat, so ein Schwindel — da passt der Vierzeiler freilich nur als angehängter Zitatschnipsel rein. Und da sind wir noch lange nicht bei so offensichtlich überzogenen Melodiegebilden wie “Kein Feuer, keine Kohle“. Das soll immer noch zu den Volksliedern rechnen, Respekt.

Celeste Tumulte, Lady and PianoMusste da die Welt wirklich erst auf mich und meine Amateurvorschläge warten, mit solchen Rohstoffen sinnstiftend umzugehen? Funktioniert hat das meines Wissens nur einmal: Die Melodie von “Üb immer Treu und Redlichkeit” ist auch die von “Wenn alle Brünnlein fließen“, und Emanuel Schikaneder hat für Mozart “Ein Mädchen oder Weibchen” draufgesetzt — also ganz und gar keine Idee von Amateuren.

Suchen wir mal im Gesamtwerk von Friedrich Silcher, der den guten Kameraden vertont hat. Den Mann nicht zu kennen bedeutet heutzutage keine Bildungslücke mehr, in der Schule lernen sie heute ja nicht mal mehr Schillerballaden — aber als Faustregel lässt sich ausgeben: Was an bekannten Volksliedern keine eingedampfte Melodie für alle Strophen aus einem durchkomponierten Kunstlied von Schubert ist, stammt meistens von Silcher. Auf den können Sie bei allen Einzelliedern wetten, die irgendwie nach 19. Jahrhundert klingen, da gewinnen Sie langfristig.

Die halbe Musikproduktion einer ganzen Kulturepoche aus dem einzigen Kopf, da werden sich doch ein paar einheitliche Stilelemente feststellen lassen. — Silchers Smashhit Ännchen von Tharau, ein zugehauener Textfindling aus Ostfriesland in durchgehenden Daktylen, wenn man sich’s zurechtdefinieren wollte, wär’s am Ende noch ein Hexameter, daher ein Dreivierteltakt, von mir aus auch ein Sechsachtel, jedenfalls würde man nicht danach marschieren, sondern Walzer tanzen; das katexochene Kunstlied dagegen, Gute Nacht, M.: Schubert, T.: Müller, “ein für die Winterreise typisches Gehlied, da sie die Schritte des lyrischen Ichs darstellt, welches ziellos umherwandert”. Aha. Zu deutsch: Vierhebig sind die meisten, aber sonst sagen die einen so, die andern so. Ob das eine Lied mit dem anderen mendelt, weiß keiner vorher.

Es macht zwar nichts einfacher, aber beim metrisch-melodischen Versuch erhellt: “Es waren zwei Königskinder” mag sich wegen dessen Fünfzeiligkeit nicht auf “Ich hatt’ einen Kameraden” singen lassen, wohl aber “Ich hatt’ einen Kameraden” auf “Es waren zwei Königskinder” — weil “Es waren zwei Königskinder” nämlich die letzte, vierte Melodiezeile wiederholt.

Das wäre ein Job für Hannes Wader, weil etwas in mir gern glauben will, dass Volkslieder zur Zeit des deutschen Idealismus im Krug zum grünen Kranze viel eher erklangen wie von der Biermösl Blosn gejauchzt oder wenigstens von Wolf Biermann geschmettert und nicht wie unter Moderation von Günter Wewel.

Was das so entstehende fünfzeilige Strophenmuster mit dem Lied anstellt, hat der Musiklehrer aus der DDR nicht erklärt, aber ich finde, die Wiederholung klingt, wie wenn der alte Friedrich Silcher an der Zither an einem altfränkischen Wirtshaustisch sitzt, sachte das idealistisch glattrasierte Musikpädagogenkinn wiegt und sinnt: “Auf was man für Sachen kommen kann…”

Bilder: Celeste Tumulte: Three Girls and Their Violins, 10. November 2009;
Lady and Piano, 12. Juli 2009 (“I think the lady may be pregnant”).

Hannes Wader: Gute Nacht by Schubert/Müller: Winterreise, 1827.

Written by Wolf

10. April 2011 at 12:01 am

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Avril on the Ground

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Update zu Ambra (Love Is a Touchscreen App):

Man erlebt meistens angenehme Überraschungen, wenn man in der Stadtbibliothek einfach irgendwelche DVDs mit einpackt, manchmal sind auch Offenbarungen dabei. Die Best Damn Tour: Live in Toronto von Avril Lavigne war ganz okay. Ein springfröhliches, ehrbares Gerocke und Gepunke mit lustigem Abgang, das gute Laune macht, das geht schon klar.

In München hängt derzeit massiv die Plakatkampagne für ihre neue Goodbye Lullaby. Au fein, denk ich — die jungische Rotzröhre im Gotenkleidchen hat was Neues gemacht, daheim mal YouTube anschmeißen. Und jetzt sagen wir’s mal so: Ich erspare uns allen das Video zu What the Hell. Die Frau will 2011 siebenundzwanzig Jahre alt werden; sie entdeckt nicht soeben staunend ihre Sexualität, sondern wurde 2009 geschieden — und sie scheut sich nicht, ihren Collegefilmchensound mit einem dünnen Alibi für eine Geschichte über freche Schulmädchen zu untermalen, die ihre persönliche Freiheit über die Möglichkeit definieren, gedankenlos, wenn nicht offensiv anderer Leute Geld zu verschleudern und dafür geliebt werden wollen. Das ist so mies, dass es schon wieder surreal ist.

Es muss also Absicht sein. Nicht wahr, Frau Lavigne, das ist es doch: Absicht? Nicht wahr, das meinen sie doch bestimmt wieder so, na, Dings, ironisch, dass man’s nur in Berlin Mitte kapiert und zur Not noch in Ontario, wo Sie doch, wie man hört, herkommen, und nur wir Tom-Waits-verseuchten Landeier, die achthundertseitige Bücher aus dem neunzehnten Jahrhundert lesen und dazu das Orgelwerk von Bach auf Anschlag stellen, weil sie’s immer etwas gröber brauchen, wieder nix schnallen? Bitte sagen Sie schon, dass es Absicht war, ich will Sie doch eigentlich mögen.

Frau Lavigne aber schweigt. Jedenfalls zu ihrer neuen Platte ist ihr interviewweise nichts anderes zu abzuringen als was ihr die PR-Mieze von RCA Records zu lernen aufgegeben hat. Tragisch, sowas.

Akustisch bekommt die junge Frau Lavigne recht durchwachsene Sachen zu tun: Eindeutigere Einschätzungen als “Ihr Musikstil ist zwischen Pop und Rock angesiedelt” und “Durch diese Einflüsse, dem Musikgenre und ihren persönlichen Stil wird Lavigne von den Massenmedien häufig als Punk beschrieben” (sic) sind offenbar nicht möglich. Jetzt kriegt sie eben die volle Palette Himbeerbonbon-Punk zugetraut samt der Attitüde, dass sie “ihre Songs selber schreibt”. Optisch dagegen schafft sie ein Genre mit, das sich bislang hauptsächlich in besonderen Flickr-Gruppen manifestiert. Keine Ahnung, wie das heißt. Sieht aber spaßig aus. Definieren wir es vorläufig übers Bildmaterial. (Verlinkt sind größere Bilder, als sie hier erscheinen. Selbstverständlich sind den Freunden des gepflegten Frauenfußes, die sich gerne bei uns einfinden, längst die Funktionen “Grafik anzeigen”, “Grafik speichern unter” und “Grafikadresse kopieren” hinter der rechten Maustaste in die Klickroutine übergegangen.)

The Faintest Way, Piano

Dazu Avril Lavignes Beitrag:

Avril Lavigne, Goodbye Lullaby Cover outtake, 2011

Avril Lavigne, Goodbye Lullaby Cover outtake, 2011

Und jetzt weiß ich’s wieder: Auf der Live in Toronto war sie auch nicht in den überengagierten Videos, sondern live am besten. Mittlerweile kann dazukommen, dass modernistische Neuinterpretationen von Alice in Wonderland überstrapaziert werden. Vielleicht sollte man solche Sachen immer erst zwanzig Jahre ruhen lassen, bis sie wieder reif zum Entdecken sind.

Bildmaterial: das meiste aus Flickr, und da aus dem Pool von My Love Affair With The Piano ;
Video: Avril Lavigne: Alice (Underground), aus: Almost Alice, dem Soundtrack zur Alice in Wonderland-Verunglimpfung von Tim Burton, 2010.

Written by Wolf

26. March 2011 at 2:05 pm

Posted in Rabe Wolf

Cats in the Cradle and the Silver Spoon, Little Boy Blue and the Aufmerksamkeitsspanne

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Update zu Das Schwirren eines Vogels auf Blütenblättern, der Aufprall einer Nippesfigur auf dem Fußboden:

Wir scheinen eine ganze Menge über Konzentrationsspannen zu wissen, jene Bestandteile des Charakters, die im digitalen Zeitalter zu Äquivalenten der Seelen geworden sind. […] Vielleicht liegt es daran, dass mein eigenes Gehirn zu oft in den endlosen Weiten des Internets herumschwebt, aber ich verstehe das einfach nicht. Ganz egal, ob uns das Netz nun dümmer oder schlauer macht: Ist nicht an der Idee, dass eine mysteriöse “Spanne” im Gehirn gewisse Dinge anziehender macht als andere, etwas faul? […] Wie haben wir uns nur zu dieser unglücklichen Vorstellung der Aufmerksamkeitsspanne nebst der dazugehörigen Idee versteigen können, dass eine größere Konzentrationsspanne das moralisch und ästhetisch wertvollste Gut der Menschheit ist?

“Lisa?”

Der Sandkasten ist genau unter meinem Bürofenster.

“Liiisa!”

Elena Kalis, Alice's Book, 14. August 2009Ich hab keine Kinder. Wenn ich den Dialogen im Hinterhof zuhören muss, fällt mir manchmal wieder ein, warum.

“Lisa, kommt jetzt rein.”

Die Mutter ruft. Es ist die Mutter, die immer ruft. Aus dem dritten Stock, soviel ich weiß. Eigens hinauszuspähen fände ich indiskret.

“Du sollst jetzt reinkommen, Lisa.”

Lisa spielt anscheinend oft sehr selbstvergessen im Sandkasten. Ihre Stimme kenne ich nicht, nur die ihrer Mutter. Auf die eine Weise ein durchaus braves Kind.

“Lisa! Rein jetzt mit dir! Es wird spät!”

Da hat die Mutter Recht. Früher am Nachmittag ist der Sandkasten nämlich von Müttern umlagert. Dann herrscht auch viel mehr Geschrei. Lauter Hochbegabte.

“Lisa! Ich sag dir das kein zweites Mal!”

Worin äußert sich eigentlich Hochbegabung? Schneller Auffassungsgabe? Durchsetzungsvermögen? Zielorientierten Problemlösungsstrategien? Transferdenken? Empfänglichkeit für oder Resistenz gegen Erziehungseinflüsse? Eigenständigen Handlungsansätzen? Einer langen Aufmerksamkeitsspanne beim Spielen? Neugier auf neuartige Nahrung oder Bewahren von Bewährtem? Essen mit den Fingern, mit Silberlöffeln oder mit schwer zugänglichen Gerätschaften? Verbissenem Durchhalten oder rechtzeitigem Hinschmeißen? Lautem oder leisem Verhalten?

“Li-sahh…”

Defintionssache, nehme ich an.

“Himmelherrgottnochmal, Lisa!”

Obacht, gleich sagt sie’s wieder.

“Na wart, wenn ich dir rauskomm!”

In anderen Zeiten wurde Zerstreuung nicht als etwas angesehen, für das man sich zu schämen hat. Im Gegenteil, sie wurde immer wieder gepriesen — als Autonomie, Ausgelassenheit, Vielseitigkeit. Grüblerisch, düster oder zwanghaft zu sein galt als viel bedenklicher als die Frage, ob man sich leicht ablenken lasse. In “Moby Dick” versucht Starbuck, Ahab von seiner fixen Idee abzulenken, indem er ihm seine Familie in Nantucket ins Gedächtnis ruft. Ahab aber bleibt unter dem Bann eines “grausamen, unerbittlichen Imperators” — der totalen Fokussierung — auf seinem tödlichen Kurs[:

“What is it, what nameless, inscrutable, unearthly thing is it; what cozzening, hidden lord and master, and cruel, remorseless emperor commands me; that against all natural lovings and longings, I so keep pushing, and crowding, and jamming myself on all the time; recklessly making me ready to do what in my own proper, natural heart, I durst not so much as dare? Is Ahab, Ahab? Is it I, God, or who, that lifts this arm?”]

Ahabs dunkles Schicksal resultiert aus seiner Unfähigkeit, sich ablenken zu lassen.

Das ist jetzt nicht zusammenerfunden. Die Gastgeberin hatte zu ihrem Geburtstag auch ihren Exfreund eingeladen, weil sie keine war, die sich im Streit trennt, und Monika musste man nicht einladen, die erschien sowieso auf jeder Feier in der Gegend. Das Wunder war also eher, dass der Exfreund und Monika sich noch nie über den Weg gelaufen waren.

Rebecca Acoustic, I'm Late, I'm Late, For a Very Important Date, 15. März 2010Christina, wie sie mir zu wiederholten Malen erzählte, hatte sich im Lauf des Abends an Teletennis festgefressen, das war gerade der höchste Stand der Computertechnik. Heute wirkt das Spiel steinzeitlich — schon gar nicht mehr lächerlich, vielmehr in seiner Schlichtheit genial von hinten herein. Christina übernahm die Fernbedienung, als alle Geburtstagsgäste sich längst gelangweilt abgewandt hatten, weil Gespräche interessanter und damals noch ohne Insiderwissen über Computerdinge möglich waren. Hinter ihr verabschiedeten sich Gäste, die “morgen früh raus” mussten, oder sanken einschließlich der Gastgeberin nacheinander in trunkenen Schlaf. Der Exfreund und Monika blieben auf dem Sofa übrig. Und Christina, zwei Meter daneben im Schneidersitz auf dem Fußboden, in Teletennis vertieft.

Das muss sich man sich wohl so vorstellen, dass der Fernseher mit dem Tennisspiel — zwei grüne Balken und ein grüner Punkt auf schwarzem Hintergrund — noch die einzige Beleuchtung war. Im Kassettenrekorder hatte jemand eine 90-Minuten-Sammlung mieser Metal-Balladen auf Repeat gestellt und vergessen. Und kennt ihr noch den einzigen Soundeffekt von Teletennis? “Tut! Tut! … Tut! Tut! … Tut! Tut!”, so ungefähr, sehr künstlich, monoton und ausdauernd. Wenn eine Zeitlang nichts anderes läuft, das Schnarchen von ein paar übriggebliebenen Besoffenen nur mehr zu ahnen, ergibt das einen richtig hypnotischen Klangteppich.

Auf den Exfreund und Monika wirkte es. Nach kurzer Zeit war ihnen egal, dass in Armweite Christina noch in den Inkunabeln der Computerspiele gründelte. In den Klangteppich mischten sich Küsse. Danach Murmeln, Kichern, das Abstreifen von Kleidern, das Reiben von Haut an Haut, Atmen und Hauchen und das Knarzen von Sofafedern. Rhythmisches Quietschen, das schneller und langsamer wurde, von häufigem nassen Klatschen durchsetzt, dazwischen unterdrücktes Stöhnen, das ganze bekannte Kuschelmuschel. Es störte weder den Exfreund beim Kennenlernen seiner nächsten Freundin Monika noch Christina beim Teletennis.

Christina spielte eine Runde nach der anderen, fand nicht einmal Zeit, sich nach den Turteltäubchen umzuwenden. Nicht einmal, als der Exfreund in einer Pause laut fragte:

“Christina, du bist ja auch noch da. Komm zu uns, mach auch mit. Hopp, macht Spaß. Komm bitte.” Es klang freundlich und bestimmt, Christina fiel das “Bitte” auf. Das erste und einzige Mal schaute sie kurz über die Schulter und erblickte seine glänzende Erektion und wie er aufmunternd mit einer angebrochenen Zwölferpackung XXL-Kondome klapperte. Darüber verfehlte sie fast einen leuchtgrünen Tennispunkt.

Monika sprang bei: “Ja, komm auch rauf. Der soll zeigen, ob er zwei von uns schafft”, rummelte mit dem ganzen Leib und dehnte ihn verlockend, um sich zu zeigen. Christinas flüchtiger Blick erhaschte einen fingerlangen Cowboy zu Pferde, mit blauer Farbe auf eine beneidenswert glatte Wade tätowiert, hohe, stolze Brüste und feuchte Lippen:

“Komm. Bitte.”

Ein Impuls, den Mund an eine ganze Reihe von Stellen an diesem Mann und dieser Frau zu legen, zuckte durch Christina. Sie verlor eine Runde.

Hinter ihr lachten, küssten und turtelten die beiden Liebenden, der eine mit entschieden tieferer, die andere mit höherer Stimme als zuvor in der Abendrunde. In beiden Stimmen schwang noch frische Erregung. Zu Christina sprach jedoch kein abgeschottetes Paar, sondern zwei Freunde. Sie hatten Lust: Lust aufeinander; Lust, ihre Freude und Freundschaft zu teilen, damit sie größer wurde; und Lust auf sie, auf Christina; Christina war gemeint. Sie hielten die zufällig anwesende hübsche junge Frau in Blüte, Saft und Kraft ihrer Körperlichkeit ihrer neuen Freude an der eigenen Lust wert, deshalb boten sie ihr die Hand und alles, was dahinter kommt. Weder jetzt noch später, musste Christina zugeben, konnte sie etwas Verbotenes, Verkehrtes oder nur Anzügliches daran finden. Man lud sie freundschaftlich zum Feiern gesunder Körper und Gemüter und zum gegenseitigen Entdecken ein, nicht anders als jemand sagen würde: “Schau doch, was für guten Wein wir haben, probier auch mal, den wirst du mögen, er macht fröhlich.”

Im Zimmer roch es nach abgestandenen Alkoholika, inzwischen auch nach Sex, es dampfte regelrecht. Und Christina fiel nicht mehr dazu ein als: “Ja, gleich” und die nächste Runde Teletennis anzuwählen. Sie brachte sich selbst und noch zwei andere um eine kostbare, da selten zustande kommende Dreiererfahrung, weil sie nicht von einem primitiven Computerspiel loskam.

Hinter sich hörte Christina noch lange verschiedene Phasen sexueller Handlungen aufleben und sich beruhigen, zählte je drei Höhepunkte mit und spielte daneben die Rolle eines mehr oder weniger beseelten Möbelstücks. Als durchs Fenster die Morgendämmerung blinzelte, zwang sie sich endlich, den Fernseher mit dem Tennisspiel auszuschalten. Auf dem Sofa hinter ihr war das Liebespaar eingeschlafen. Monika rasierte sich schon damals, Anfang der Neunziger, gewohnheitsmäßig im Schritt, das sah wie ein Lächeln aus. Sogar ihre eine freigelegte Brust guckte im Schlaf zufrieden drein. Auf der anderen Brust ruhte eine Männerhand, die Finger der anderen Hand waren mit ihren verschränkt. Sie lagen so eng beisammen, dass einer die Luft des anderen atmete, auf dem Sofa war noch Platz.

“Das wäre meiner gewesen”, dachte Christina, während sie sich in Jacke und Schal wickelte; die erste Straßenbahn war längst durch. Das bedauert sie heute. Jedenfalls stellt Christina es so dar, diese reuebehaftete Episode aus ihrem Liebesleben unterliegt im Lauf der Jahre kaum zusätzlichen Ausschmückungen, und der Guten hab ich bis jetzt noch jedes Wort geglaubt.

Das war zwölf Jahre bevor Farmville in Facebook implementiert wurde.

In der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts suchen die Figuren Ablenkung vor allem, wenn sie traurig oder wütend sind. Kein Wunder: Zerstreuung scheint etwas Freundliches an sich zu haben. Tom Sawyer, der prototypische hyperaktive Lausbub, der lieber mit einem Käfer spielt als still in der Kirche zu sitzen, widersteht der Traurigkeit “nicht deshalb, weil seine Probleme weniger bitter oder schmerzlich für ihn wären, als es die eines Mannes für einen Mann sind, sondern weil ein neues, heftiges Interesse die Oberhand über sie gewann und sie für eine Weile aus seinem Geist verdrängte — genauso wie die Tragödien der Menschen in der Aufregung neuer Abenteuer vergessen werden.”

Eine Katze ist immer da. Katzen tun nicht, sie sind. Und sie sind es mit großer Selbstverständlichkeit, ein ganzes Katzenleben lang.

Lo, Donna wanna growing up, 8. Dezember 2009Unser Kumpel Harry wohnte mit einer Glückskatze namens Jennifer zusammen. Ein feingliedriger, geschmeidiger und dreifarbiger Mädchenmiez mit aufmerksamem Blick, der einem gestandenen Kerl wie Harry kein zweibeiniges Mädchen ersetzen konnte, aber nach ihren Mitteln immer für ihn da war. Wenn er nach Hause kam, hatte sie ihn längst am Klimpern seines Schlüsselbundes erkannt, setzte sich unter der Küchentür ihn Positur, guckte verständig und grüßte mit freudigem “Mrrp?”

Normalerweise bückte sich Harry zu ihr hinunter, um sie hinter dem Ohr zu kraulen. Dann lehnte Jennifer sich immer gegen seine Mannsbilderpranke und genoss die Zuwendung mit zugekniffenen Augen. Als Harry die Freundin bekam, mit der er möglicherweise alt werden wollte, ging noch alles gut. Sooft er in seine eigene Wohnung kam, strahlte er ein gewisses Glück aus. Jennifer bemerkte es und freute sich für ihn mit.

Noch bevor Harry Gelegenheit erhielt, uns seine Freundin in der Kneipe vorzustellen, worauf sie wohl auch keinen gesteigerten Wert legte, bezog die Dame einen bewohnbaren Leuchtturm in der Ostsee oder etwas ähnliches, um vom Verkauf selbst gestrickter Norwegerpullover und “süßer” Schiffspostkarten über etsy.com zu leben, konnte Harry jedenfalls nicht mehr brauchen und sägte ihn ab.

Von da an war er nicht mehr derselbe. Zwar hielt er sich so viel wie noch nie in seinem Leben in seiner Wohnung auf, hatte aber keinen Nerv mehr für Jennifer. Wenn er sich in seinem Einzelbett gründlich leid tat, hüpfte sie oft auf seinen Bauch und schleckte sein Gesicht ab. Er drückte sie weg. Richtig grob wurde er nie, brachte es ja kaum übers Herz, sie zu maßregeln, weil sie doch nur tat, was eine Katze tun muss, aber er nutzte die Zeit mit Jennifer nicht. Er erzählte es uns nie, aber ich glaube, mit der Zeit vergaß er Jennifer Futter hinzustellen.

“Wasn los mit dir”, sagte Jennifer zu Harry und schleckte ihm den Vierzehntagebart, “du musst raus und Futter kaufen und nette Frauchen kennenlernen!”

“Was weißt denn du”, sagte Harry zu Jennifer, “du bist doch bloß die Katze.”

“Mrrp?” sagte Jennifer.

Jennifer wurde 20. Das ist methusalisch für eine mädchenhafte Glückskatze. Niemand hatte Harry jemals weinen gesehen, schon gar nicht in der Kneipe. Dass diese Unschuld auf vier Pfötchen, die ganz bestimmt nie in ihrem Leben irgendwem etwas zuleide getan, noch nicht einmal den Mäusen im Keller, vor denen sie sich graulte, und allen Leuten immer nur Freude gemacht hatte, das schaffte Harry. Wenn er jetzt seine Tage auf dem Bett verbrachte und aus Gewohnheit ein Gewicht auf dem Bauch spürte, streichelte er ins Leere. Er füllte Jennifer noch regelmäßig den Napf auf, bis der Futtervorrat aufgebraucht war, danach traf ihn keiner mehr in der Kneipe.

Irgendwann haben wir damit aufgehört, Tom Sawyers Art von Zerstreutheit als Vitalität oder Disziplinproblem zu bezeichnen. Wir sahen darin plötzlich eine Krankheit, obwohl eine Zwillingsstudie zeigte, dass eine kurze Aufmerksamkeitsspanne nur ein Synonym für eine gewöhnliche Reizbarkeit und Launenhaftigkeit ist. Aber nicht die Tatsache, dass die Theorie über den Konzentrationsumfang etwas, was man früher einfach als gewöhnlich oder als Zeichen eines künstlerischen Charakters ansah, zu etwas Neuem machte, ist so falsch an dem ganzen Konzept. Solche kulturellen Umbenennungen oder Neuinterpretationen gibt es immer, wenn sich die Anforderungen der Gesellschaft an die Individuen ändern.

Das Problem an dem ganzen Diskurs ist vielmehr, dass er auf der Phantomidee eines Konzentrationsumfangs fußt. Ein gesunder “Aufmerksamkeitsumfang” ist nur wieder eine vage Sache mehr, von der wir ab jetzt glauben können, dass wir sie unrettbar verloren haben. Wir können jetzt darum trauern, dass wir sie verloren haben. Wir können uns sorgen, dass unsere Kinder sie nicht besitzen. Oder wir können die Kultur verteufeln, weil sie diese Spanne angeblich zerstört. Wer bitte braucht so etwas?

So ganz insgesamt im Groben glaube ich, dass man sein Leben nutzen sollte, solange es besteht. Ja, natürlich ist das eine Binse, und gerade ich muss da überhaupt nicht siebengescheit rumdozieren. Fangt trotzdem gleich damit an.

Zitate: Virginia Heffernan: Eine Krankheit namens Vitalität. Wer hat eigentlich den neurologischen Mythos von der Aufmerksamkeitsspanne erfunden? in: Süddeutsche zeitung, 28. Dezemeber 2010, Feuilleton Seite 11, aus dem Englischen von Sarah Ehrmann und Alex Rühle. — “Die Autorin ist Fernsehkritikerin der New York Times. In ihrem Blog ‘The Medium — The Way We Watch Now‘ untersucht sie die Auswirkungen neuer Medien auf die Gesellschaft.”

Alices in Wonderlands: Elena Kalis: Alice’s Book, 14. August 2009;
Rebecca Acoustic: I’m late! I’m late! For a very important date!, 15. März 2010;
Lo: Donna Wanna Growing Up!, 8. Dezember 2009.

Soundtrack: Tom Waits: I Don’t Wanna Grow Up, aus: Bone Machine, 1992.

Written by Wolf

21. February 2011 at 8:32 am

Posted in Rabe Wolf

Like the Starfish on the Beach, on cherchait le même port (Schwöckorie!)

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Update zu Wief la Schohsoh:

Reife Menschen ermutigen mich, auch mal was für Senioren zu bringen. Das war anlässlich einer endlich mal verwendbaren Transkription von Jacques Brel: Ne me quitte pas. Man sollte viel mehr auf reife Menschen hören.

Vor allem zu Allerheiligen, wo man seiner Toten gedenkt und sich in der Folge davon seiner eigenen Endlichkeit bewusst wird — und das meine ich nicht halb so sarkastisch, wie solche morbide Lebensfreude geradezu klingen muss; sarkastisch werd ich dann später, damit Sie den Unterschied sehen.

Wer heute anfängt, sich mit der Begrenztheit seines Erdenlebens auseinanderzusetzen, hat ziemlich sicher an den Lagerfeuern seiner Jugend Seasons in the Sun zur Wanderklampfe gesungen. Vielleicht kam es sogar in der Schule dran, weil der Englischlehrer das auch kannte und es ein ernstes Thema war, dazu noch für Elftklässler einwandfrei verständlich gesungen.

Französische Lieder kamen an den Lagerfeuern niemals zu Aufführung und Gehör. Das kommt, weil immer die Jungs singen mussten und das Französische auf eine viel zu weibliche, wenn nicht: weibische Weise als schön gilt. Seine Coolness zu verteidigen war an damals noch unbeleuchteten Baggerseen mit damals noch ungewohnten zwei Promille in einem Schädel, der sich bis in die frühen Morgenstunden auf Liedertexte und die zugehörigen Gitarrengriffe besinnen musste, anstrengend genug, auch ohne schwule Schlager zu näseln.

So entging dem jugendlichen Bewusstsein Jacques Brel. Wie affig sein Gesäusel in deutschen Ohren immer klang, so nahe kommt der Mann in Thematik und Qualität an, sagen wir, den amerikanischen Großlyriker Bob Dylan, dessen Kompetenz in Coolnessfragen man ja bis heute fraglos hinnimmt. Das war, wie man heute weiß, ein Fehler, mindestens ein Verlust. Junge Französinnen geraten selbst bei so befremdlichen Gestalten wie Serge Gainsbourg heute noch in kleine Ekstasen, und gegen den wirkt Jacques Brel fast schon wieder nachvollziehbar.

In Frankreich, so viel Einigkeit herrscht damals wie heute, leben die schönsten, liebsten und zugänglichsten Mädchen der Welt (außer in Irland, Norwegen, Polen, Russland und Schweden natürlich. Und Österreich). Ein Wissen, das mit der vergehenden Zeit immer wertvoller wird, denn in jedem französischen Film kann man meist sehr detailliert sehen, dass die alle schon mit 15 auf Kerle im Alter ihrer Großväter stehen. Gar nicht alt, hässlich, arrogant und begriffsstutzig können sie sein, offenbar wird das als Zeichen der Männlichkeit begriffen (siehe: Godard, Rohmer, Truffaut et al., 1945 ff.).

Etwas Wichtiges scheinen wir also von diesen exaltierten Oh-là-là-Säcken lernen zu können, weil die Französin an sich nicht lange fackelt. Vielleicht hört sie, wie auch wir wenige Absätze weiter oben beschlossen haben, auf reife Menschen. So wenig Skrupel sie haben wird, sich in Frage kommende Sexualpartner aktiv vom Boulevard oder vom Lavendelfeld zu pflücken, so unmissverständlich wird sie einen wissen lassen, dass ihr sa gueule nicht passt. Das spart allen Beteiligten sehr viel Herzschmerz und Lebenszeit — womit wir wieder bei der Vergänglichkeit menschlichen Lebens wären.

Seasons in the Sun, hieß es, handelt von ernsten Dingen: Es handelt von nichts Geringerem als vom Sterben aus der Sicht des Sterbenden. Das Original zu dieser Nachdichtung von Terry Jacks — Le moribond von Jacques Brel, hat schon die prinzipell gleiche Handlung, nennt sie aber schon unverhohlener im Titel: Gegen Der Moribunde nimmt sich Zeiten in der Sonne reichlich weichgespült aus.

Auch sonst ist Brels Vorlage zu einem nicht vollends uncoolen, bei näherem Hinhören jedoch ängstlich mehrheitsfähig zurechtgebogenen Welthit weit knorriger und von einem viel trotziger entschlossenen Lebenshunger. Jacks leidet (wenngleich aus Gründen), Brel lacht unter Tränen.

Allein die Interpretation: Wenn einer auf dem Totenbett liegt und Abschied von allem Liebgewonnenen nimmt — wird der um sein Leben aus sich pressen, soviel noch geht, oder wird der sich an einem sphärischen Streichersatz entlangsäuseln? Na also.

Was ich Terry Jacks fast übel nehme, seit ich von dem Unterschied weiß: Brel verabschiedet sich von seiner Frau und von deren Liebhaber, wobei er klar Schiff macht und ihnen leider unbequeme Wahrheiten sagen muss. Die “Michelle” bei Terry Jacks dagegen war bestimmt seine Erste und Einzige, und angestellt hat sie anscheinend auch nicht Großes. Was man im außerlyrischen Leben sich und jedem anderen wünschen will, scheint mir für ein Sterbelied zu knochenlos. Michelle, you gave me love and helped me find the sun, pff. Wahrscheinlich trägt sie weiße Rüschenkleider mit rosa Schnallenschühchen und Margeritenkränze und singt amerikanische Pendants zu “Heile, heile, Gänschen” — was sie gerne soll, aber dann will ich es erfahren, Mister Feet-back-on-the-ground. So — und von welchem der zwei ist jetzt der schwule Schlager? (Was die zwei Kollegen, die sich meines Wissens nie getroffen haben, verbindet: Brel stammt als echter Franzose aus Belgien, Jacks stammt als echter Amerikaner aus Kanada. Doch, das ist ähnlicher Effekt.)

Niemand will das Verdienst von Seasons in the Sun mindern. Das ist ein nett zurechtgeschnulztes Späthippieliedchen, das man immerhin seinem Englischlehrer und seinen Eltern anbieten konnte, ohne dass es gleich wieder “Negermusik” war. Und dabei behält es das ganze Zeug zum jahrzehntelang haltbaren Ohrwurm und zum Lieblingslied. Das ist enorm viel. Selbst als Nachdichtung geht es in seiner musikalischen Leistung über eine Cover-Version hinaus; zum Vergleich: Adieu Emile von Klaus Hoffmann 1974 (auf LP 1975), das war eine Cover-Version. Außerdem entstammt Seasons in the Sun immer noch keiner Schlagerfabrikation, sondern dem Songwriting: Ich will Terry Jacks unterstellen, dass er nicht aus kommerziellen Erwägungen, sondern aus persönlicher Neigung den Text entschärft hat, er wollte das eben so und hat es getan. Das rettet ihn.

Beide Versionen sind ausgesprochene Allerheiligenlieder, auch wenn in beiden ausdrücklich im Frühling gestorben wird, weil’s so trauriger ist. Und als Weltpremiere bringe ich unten beide in Transkriptionen, die man endlich einfach ablesen und singen kann, ohne sich zuvor im Englisch- oder schlimmer: Französischunterricht einen abzubrechen (die Stelle mit dem Sarkasmus liegt übrigens schon lange wieder hinter uns; haben Sie ihn bemerkt?). Oder wie es mein Vater ausdrückt, der seit mindestens vierzig Jahren mit seiner Endlichkeit herumkokettiert: “Kammer des ned af Deidsch soong?!”

Fällt Ihnen was an der Form der Strophen auf? Die sind fünfzeilig, also ähnlich getaktet wie Limericks. Das ist selten und hohe Schule, wenn es auf eine Melodie passen soll, und eindeutig Jacques Brels Leistung. Chapeu, Monsieur.

Schack Brell: Lö Morriboooh (1961)

1.: Adjölemiel schötemme bjeh,
adjölemiel schötemme bjeh tüsäh.
Onnaschohteh lehmähm Wäh,
onnaschohteh lehmähm Vieh,
onnaschohteh lehmähm Schagräh.

Pong: Adjölemiel schöwäh murier!
Se dürdmurier opräntoh tüsäh,
mähschpahr oflöhr labäh dohlahm.
Karwück tüwä boh kommdü Pähbloh,
schßähk tüprohdra swoäd Mafamm.

Röfräh: Schwöckorie! Schwöckodohs!
Schwöcko samühs kommdefuh!
Schwöckorie! Schwöckodohs!
Koh säckomö mettra doltruh.

2.: Adjöküreh schötemme bjeh,
adjöküreh schötemme bjeh tüsäh.
Onnetäh bah dümähm Bohr,
onnetäh bah dümähm Schömäh,
mäsong scherschäh lömähm Bohr.

Pong: Adjöküreh schöwäh murier!
Se dürdmurier opräntoh tüsäh,
mähschpahr oflöhr labäh dohlahm.
Karwück tüwötä song Kongfidong,
schßähk tüprohdra swoäd Mafamm.

Röfräh: Schwöckorie! Schwöckodohs!
Schwöcko samühs kommdefuh!
Schwöckorie! Schwöckodohs!
Koh säckomö mettra doltruh.

3.: Adjölongtwann schöttmäh bah bjeh,
adjölongtwann schötmäh bah bjeh tüsäh.
Schong kräft kröweh oschurdwüi,
aloch ktwa tüwä bjehwiwong,
emähm plüssolied klennüi.

Pong: Adjölongtwann schöwäh murier!
Se dürdmurier opräntoh tüsäh,
mähschpahr oflöhr labäh dohlahm.
Karwück tüwötä song Among,
schßähk tüprohdra swoäd Mafamm.

Röfräh: Schwöckorie! Schwöckodohs!
Schwöcko samühs kommdefuh!
Schwöckorie! Schwöckodohs!
Koh säckomö mettra doltruh.

4.: Adjömafamm schötemme bjeh,
adjömafamm schötemme bjeh tüsäh.
Mäschbrohl Träh purl Bohdjöh,
schbrohl Träh kijett awohltjäh,
mäsongbrong dull Träh kong böh.

Pong: Adjömafamm schöwäh murier!
Se dürdmurier opräntoh tüsäh,
mähschpahr oflöhr Lesjöhfermeh Mafamm.
Karwück schlesähfermeh suwong,
schßähk tüprohdra swoäd Monamm

Röfräh: Schwöckorie! Schwöckodohs!
Schwöcko samühs kommdefuh!
Schwöckorie! Schwöckodohs!
Koh säckomö mettra doltruh.

Terri Tschex: Siesen Sinser Sann (1973)

1.: Gubeitujumei Trastepfrend,
wiff nounitschawwer sinzwiewer neinotenn.
Tugewwer wickleim Hilsentries,
lörnbaut lafen Äibisiehs,
skindau Harzen skindau Nies.

Britsch: Gubeimei Frenditz hatudei,
wenolzer Börza singen ihnzerskei,
nausetzer Springi sinzi Her.
Priddi Gölza ewriwehr,
finkof miehen eilbisehr.

Kohrus: Wiehe Tscheu, wiehe Pfann,
wiehe Ziesens inzersann,
batzer Hilsetwi kleim
wörtschas Ziesen sautofteim.

2.: Gubei Papaplies präifomieh,
eiwoser Bleckschiep ofser Fähmilie.
Jutreitu tietschmi Reitfromrong.
Tumatsch weinen tumatsch Song,
wonder Hauei gatterlong.

Britsch: Gubei Papahitz hatudei,
wenolzer Börza singen ihnzerskei,
nausetzer Springi sinzi Her.
Liddl Tschildren ewriwehr,
wenju sisem eilbisehr.

Kohrus: ||: Wiehe Tscheu, wiehe Pfann,
wiehe Ziesens inzersann,
batzer Weinenzer Song
leixer Ziesen hewolgonn. :||

3.: Gubeimi Schelma liddelwann,
jugäfmi Lafen helpmifein zersann,
enewri Teimenei wosdaun
juwudowes Kammeraund
engetma Fitbeck onzergraund.

Britsch: Gubeimi Schelitz hatudei,
wenolzer Börza singen ihnzerskei,
nausetzer Springi sinzi Her,
wiffer Flauers ewriwehr,
Eiwischset wikudboff bisehr.

Kohrus: ||: Wiehe Tscheu, wiehe Pfann,
wiehe Ziesens inzersann,
batzer Stah swikudrietsch
leixer Stafisch onzerbietsch. :||

Fäidaut: Wiehe Tscheu, wiehe Pfann,
wiehe Ziesens inzersann,
batzer Weinenzer Song
leixer Ziesen hewolgonn.

Ohlau Leif wiehe Pfann,
wiehe Ziesens inzersann,
batzer Hilsetwi kleim
wörtschas Ziesen sautofteim.

Written by Wolf

1. November 2010 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Uncollected, Lost and Found

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Update for Anna W. Walii’s comment on GeviertstricheEm Dashes
and Ihr seid so gut:

To ——— [first version]

Ah, wherefore, lonely, to and fro
Flittest like the shades that go
Pale wandering by the weedy stream?
We, like these, are but a dream:
Then dreams, and less, our passions be;
Yea, fear and sorrow, and despair
Be but phantoms. But what plea
Avails here? phantoms having power
To make the heart quake and the spirit cower.

The place Anna W. Walii found the pictured pages with poems was an abandoned former holiday camp for boys called Boys Village, located in South Wales, UK. It was demolished and had not been in use for approximately 15 years (which could have been 20, could have been 10).

Everything was removed from the place, and that’s why Anna was so surprised to see some pages from the book spread around. Now the question was, for how long they had been around? They look quite old, but at the same time, if they were left there since Boys Village times, they would have been in a much worse condition. And perhaps the book was not all about Herman Melville exclusively, perhaps this was a collected works of different poets?

The pictures of texts used to be uploaded into an entry; Anna showed great interest if they looked familiar to me. Maybe, she presumed, it was much ado about nothing, but she was quite intrigued and would love to solve the mystery.

The poem text Anna obviously had searched for was Herman Melville’s To ———, which I used to adopt for a quite epic Melville-, poetry-, and Munich-related poem named Geviertstriche (Em Dashes), and which had not been online anywhere but here. I had taken it from my copy of John Bryant (ed.): Herman Melville: Tales, Poems, and Other Writings, an utter beautiful and very useful sampler of rare Melvillena, because I needed a rare English poem that existed in two versions.

Trouble with searching it is, none of the moderately differing versions of To ——— do even occur in the complete The Poems of Herman Melville by Douglas Robillard, since it was not included in any of Melville’s poetry collections. So John Bryant’s sampler seems to be the only available book containing To ———.

From the editor, we learn about To ———:

Melville considered including this poem among his Rose Poems, in Weeds and Wildings, but dropped it, no doubt because it lacks a rose or two. The poem echoes the “palely loitering” knight of Keats’s “La Belle Dame Sans Merci.” (See also “Pontoosuce.”)

Useful to hear — however no help for Anna, what book pages she found in South Wales. It is definitely not Bryant — but all three of the found poems are “uncollected” ones by Melville. So I assume that the book might have been one that had taken its function before Bryant was published in 2002. I encourage you to tell me or Anna if you have any hints.

In case somebody who knows the book is lead here, I cite Anna’s found poems in full text, from a newer site with all Collected Poems of Herman Melville (a dearly recommended link!):

Herman Melville, To ---------, book page

To ——— [second version]

Ah, wherefore, lonely, to and fro
Flittest like the shades that go
Pale wandering by the weedy stream?
We, like these, are but a dream:
Then dreams, and less, our miseries be;
Yea, fear and sorrow, pain, despair
Are but phantoms. But what plea
Avails here? phantoms having power
To make the heart quake and the spirit cower.

Herman Melville, Give Me the Nerve, book page

Give me the Nerve

     Give me the nerve
That never will swerve
Running out on life’s ledges of danger;
     Mine, mine be the nerve
That in peril will serve,
Since life is to safety a stranger.

     When roaring below
The cataracts go,
And tempests are over me scudding;
     Give, give me the calm
That is better than balm,
And the courage that keepeth new-budding.

Herman Melville, Give Me the Nerve, book page

My Jacket Old

My jacket old, with narrow seam—
When the dull day’s work is done
I dust it, and of Asia dream,
Old Asia of the sun!
There other garbs prevail;
Yea, lingering there, free robe and vest
Edenic Leisure’s age attest
Ere Work, alack, came in with Wail.

Books continue to be found and lost.

Images: Anna W. Walii, August 2009.

Written by Wolf

11. October 2010 at 6:55 am

Posted in Laderaum, Rabe Wolf

The rocket’s red glare, the bombs bursting in air gave proof thro’ the night that our flag was still there.

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Update zu Die Welt als Wille und Vorstellung
und Das singen die anderen: Oh Say Can You See?:

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen.

Arthur Schopenhauer, * 22. Februar 1788—† 21. September 1860:
Parerga und Paralipomena. Aphorismen zur Lebensweisheit. Von dem was einer vorstellt, 1851.

On September 14, 1814, while detained aboard a British ship during the bombardment of Ft. McHenry, Francis Scott Key witnessed at dawn the failure of the British attempt to take Baltimore. Based on this experience, he wrote a poem that poses the question “Oh, say does that Star-Spangled Banner yet wave?” Almost immediately Key’s poem was published and wedded to the tune of the “Anacreontic Song.”

Library of Congress: The Star-Spangled Banner Song Collection.

BIld: Girl with Flag and Gun, Seattle Municipal Archives, CF 215497 Letter of D. Carmignani et al., thanking Council for turning down E. Marginal Way Railroad franchise petition, February 1952.

Written by Wolf

21. September 2010 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Zwei Windjammer für eine Wasserleiche

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oder: Seefahrt ist not!

Elke feiert den und die Gorch Fock vermittelst eines Updates zu ihrem Kapitel 35: You hear of no domestic afflictions; bankrupt securities; fall of stocks:

Elke Hegewald“Denn nehm ik den Jungen mit no See, Mudder, dat weest du jo, dor is all genog ober snackt worden” […] “Un ik segg di soveel, Klaus Mees, du kriegst den Jungen ne mit no See! … Is genog, wat ik em soveel oppe Ilw loten mütt: no See schall he noch ne!” […] »Geef di, Gesa… De Jung kummt düssen Sommer mit no See, dat is so gewiß as de Heben. He schall bitieds seefast warrn!”

Aus: Gorch Fock. Seefahrt ist not!

Eigentlich sollte die Geschichte ja mit einer Quizfrage anfangen:

Wie alt ist Gorch Fock?
a) 77 Jahre
b) 52 Jahre oder
c) 130 Jahre?

Doch umgehend geriet ich ins Grübeln: zum einen, ob man nicht eine ausgewachsene Meuterei anzettelte, auf dem Achterdeck des allgewaltigen Käpt’ns eigenmächtig Ratespiele auszusingen [Ach, woher denn. Die Preise müssen eh weg .ò) Der gewaltige Käpt’n]. Zum anderen, ob das überhaupt so eine glückliche Idee wäre. Schließlich sind neben dem Kerl im Ausguck auch zwei Damen beteiligt, und dass die nicht so gern auf ihr Alter angesprochen werden, weiß man ja. — Na gut, nur für die Passagiere auf dem Sonnendeck, die nicht weiterlesen wollen: richtig gewesen wäre c). Und a). Und b).

Für alle Leicht- und Vollmatrosen unter uns Hobby- und Mobyschiffern nochmal alles auf Anfang.

Gorch FockFast jeder lütte Jong im Norden träumt davon, zur See zu fahren. Erst recht, wenn er auf Hamburgs damals noch Elbinsel Finkenwerder mitten zwischen Fischern und Netzen und Kuttern zur Welt gekommen ist. Das Meer ist Abenteuer und Sturm und Wind und das Gegenteil von hinterm Ofen hocken. So wollte auch lütt Johann zur See, mehr als alles andere. Und die Zeichen standen gut: Er sprach ein lupenreines Inselplatt, kannte die gängigen Shanties und jeden verdammten Schullengrieper in der Gegend, handwerkliches wie familiäres Umfeld stimmten und als ältester Spross des Hochseefischers Kinau würde er sicher dereinst das Ruder von dessen Ewer übernehmen. Doch das Schicksal in Gestalt des Fischervadders wollte es anders. Selbiger befand nach kurzem Ausprobieren seinen Johann für seeuntüchtig und zu schwächlich und musterte ihn ab, kaum dass der auf dem Kahn angeheuert hatte.

So kam es, dass aus dem Jong kein Seewolf, sondern ein Bürohengst wurde. Was tut so einer mit seinen Träumen? Er gab sich einen Namen, der klang, als hätte er ihn vom vordersten Mast eines Seglers statt aus der buckligen Verwandtschaft gezerrt, und schrieb sich die Sehnsucht aus dem Leib.

Bald kannte jeder zeitgenössische lütte Hein und Kutteldaddeldu da oben Gorch Focks Gedichte und Geschichten über die See und das Fischerleben auf Hochdeutsch oder in munterem Platt oder beidem in eins und vorbei waren die Zeiten vom schmächtigen Johann. Erst in lokalen Blättern, schnell und erfolgreich bald mit eigenständigen Werken auf dem Markt, verströmte er, was die Leute lesen wollten. Das alles verpackt in eine kräftige Dosis Pathos, Nationalismus und Überschwangspatriotismus, die den heute Nachgewachsenen sicher weniger bekömmlich vorkommen. Aber womöglich erklären, warum späterhin nicht nur von einer auf tausend Jahre hochgetakelten Reichskriegsflotte, sondern auch einer anschließenden Friedensmarine Johanns Künstlername gleich zwei Windjammern auf den Bauch gepinselt ward, in deren Wanten mittlerweile Generationen von Seekadetten Zucht und Schliff und Segelhandwerk lernten.

Sein Bestsellerroman “Seefahrt ist not!” (beiläufig mit einem norddeutschen Father Mapple als Einstieg) brachte es dann gar zur norddeutschen Schulpflichtlektüre. In der statt des vergessenen Bürohengstes zudem ein raffiniert verfockter Schimmelreiter galoppiert, bisweilen sogar irgendwie rückwärts.

Das allerdings fand erst runde achtzig Jahre später sein Hamburger Stadt- und Landsmann Robert Wohlleben heraus. Was einen wiederum auch nicht sonderlich zu wundern braucht, wo man von dem ja schon ähnlich gefärbtes Entdeckertum inmitten Arno Schmidts “Caliban über Setebos” kennt. Wohlleben (dessen selbstverlegerte Abhandlung über den “Schimmelreiter von Finkenwerder” vielleicht hier mal einen extra Beitrag wert ist) sortiert den Johann nicht nur – aus Gründen – in eine Reihe mit uns’ allgelesenem Karl Mayen:

Literatur-Ikone wie Karl May ist auch Gorch Fock […]. An die Vielmillionen-Auflagen Karl Mays kommt sein eines Erfolgsbuch SEEFAHRT IST NOT! nicht ran, dazu ist es wohl zu wasserkantig. Aber mit etwa einer Million dürfte die Gesamtauflage nicht gar so falsch geschätzt sein. Inklusive der leicht gekürzten Schulausgabe aus der Nazizeit…

sondern verwahrt sich auch gegen dessen schnellschlichte und -schlüssige Einsortierung in deren braunes Gedankengut:

“Und nein: Ich lehne es strikt ab, Gorch Fock auf solcherlei Vereinnahmungen hin als »Vordenker nationalsozialistischer Ideologie« verstehen zu wollen. Soll ich denn die Faschisten in ihrem literarischen Urteil ernstnehmen?! So was passiert aber! Recht kürzlich erst durch KD im Nachschlageband zum Hamburger Liederbuch AN DE ECK STEIHT ’N JUNG MIT’N TÜDELBAND (Hamburg, Dölling und Galitz 1993). Wie auch immer bei Gorch Fock die deutsche Flagge weht und in den Briefen aus den Vernichtungsschlachten des ersten Weltkriegs bald etwas wie Chauvinismus aufgischtet … es fehlt der Kern todkalten Hasses. So führt die Gorch-Fock-Lektüre nicht zum Anblick dieser Gorgo Medusa, wie sie uns durch Faschismus bekannt sein sollte, sondern allenfalls zum Jammerbild der blind sich an Moden und »Zeitströmungen« ankuppelnden Ich-Schwäche. (Ach…!)

Zitate aus: Robert Wohlleben. Der Deichgraf blieb im Skagerrak, fulgura frango.

***

Gorch Fock setzt Segel, marine.deDer Vollständigkeit und der rhetorischen Quizfrage halber und natürlich, um unsere Windjammersammlung im Moby-Blog aufzubrezeln: Die Namenscousinen des nordischen Seestückschreibers, beide bei Blohm & Voss in Hamburg gebaut, haben ein ähnlich bewegtes Schicksal wie seine Helden vorzuweisen.

Die erste, 1933 getaufte, ging unter, zusammen mit einem tausendjährigen Reich, wenn auch – wie dieses – nicht ganz freiwillig. Sie wurde im Strelasund versenkt, um nicht in Feindeshand zu fallen.

Doch Totgesagte leben ja sprüchwörtlich länger. Die “Gorch Fock” I wurde mit Kosten und Mühen gehoben, um dann als Kriegsreparation an die Russen zu gehen. Aus ‘Gorch Fock’ wurde ein “Towarischtsch” (dt.: Genosse oder Kamerad), der als Segelschulschiff der Sowjet- und später der ukrainischen Marine jahrzehntelang alle sieben Meere kreuzte, bevor er 2003 nach Deutschland zurückgekauft wurde. Heute liegt die immer noch stolze Dreimastbark wieder unter ihrem alten Namen in Stralsund an der Ostsee vor Anker, Wiederflottmachung noch nicht ausgeschlossen. Bis dahin verdient die alte Dame die Mittel dafür oder ihr Gnadenbrot als Museum und Standesamt.

Warum das von der Bundesmarine 1958 bei Blohm & Voss in Auftrag gegebene und weitgehend baugleich gebaute neue Segelschulschiff wieder Gorch Fock heißt, blieb für mich im Dunkeln und vielleicht will man auch gar nicht so genau um seekriegspatriotische Traditionen wissen. Der Stapellauf war am 23. August 1958, einen Tag nach Johann Gorchs 78. Geburtstag. Die Bark ist über alles 89,32 Meter lang, 12 Meter breit und hat einen Tiefgang von 5,35 Metern. Ihr höchster Mast misst fast 45 Meter; sie verfügt über 10 Rah-, 6 Stag- und 4 Vorsegel, 2 Besane und ein Besantoppsegel. Und ihr Anblick unter vollen Segeln lässt nicht nur alte Seebärenherzen erbeben. Ein bisschen kurios ist die Geschichte ihrer Galionsfigur, ein stilisierter Albatros, und zwar schon der sechste. Vier gingen auf See verloren, was eigentlich seemännischen Aberglauben in blanke Panik stürzen müsste. Eine wurde 1969 wegen der Schwere des Holzes gegen eine polyesterne ausgetauscht und kam ins Museum. Eine weitere zerbrach bei der Schiffsüberholung 2001. Die aktuelle Galionsfigur ist aus Kohlefaser und wir wollen ihr ein langes Leben und feste Verbundenheit mit dem Bug ihres Seglers wünschen.

***

Was es mit dem ganz weit oben erwähnten Kerl im Ausguck auf sich hat? Na, von dem schnack ich doch die ganze Zeit! — Lütt Johanns Traum von der Seefahrt erfüllte sich nämlich am Ende doch noch. Allerdings war er von kurzer Dauer: der in den Weltkrieg Nr. 1 eingezogene Soldat Johann Kienau, dessen Versetzungsgesuch zur Marine entsprochen wurde, weil er Gorch Fock war, ging als Ausguck auf dem vorderen Mast des Kreuzers “Wiesbaden” bei seinem ersten Einsatz für Kaiser, Gott und Vaterland im Skagerrak unter. Die See spülte ihn Wochen später an einer schwedischen Insel an Land. Auf einer ebensolchen, Stensholmen, ruht er heute noch. Unter einem schlichten Grabstein, auf dem steht: Seefahrt ist not!

Vor ein paar Tagen wäre er 130 geworden.

Gorch Fock vor den Azoren, marine.de

Bilder: Gorch Fock: Sämtliche Werke, Verlag M. Glogau Jun., 1916; Marine.

Written by Wolf

18. September 2010 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

Happy Landing!

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Update for On the Second of July, Her Plane Fell in the Ocean Far Away:

July 24th is Amelia Earhart Day!

Amelia Earhart, born July 24, 1897; missing July 2, 1937; declared legally dead January 5, 1939. Honored by David McEnery on July 2, 1939, as known by Freakwater on Feels Like the Third Time (CD in Amazon.de), 1994.

1.: Just a ship out on the ocean, just a speck against the sky,
Amelia Earhart flies in her plane.
With her partner, Captain Noonan, on the second of July,
her plane fell in the ocean far away.

Chorus: There’s a beautiful, beautiful field,
far away in a land that is fair.
Happy landing to you, Amelia Earhart,
farewell, first lady of the air.

2.: Half an hour later, when her SOS was heard,
her signals weak, but still her voice was brave.
In shark-infested waters her plane went down that night
in the blue Pacific to a watery grave. — Chorus.

3.: Now you heard my story of this awful tragedy,
We pray that you might fly home safe again.
In years to come, though others blaze a trail across the sea,
we’ll not forget Amelia in her plane. — Chorus.

Written by Wolf

24. July 2010 at 7:18 am

Posted in Rabe Wolf

On the Second of July, Her Plane Fell in the Ocean Far Away

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There’s more to life than being a passenger.

Amelia Earhart

Amelia Earhart, Modern Mechanix, January 1936Was wissen wir über Amelia Earhart? Zumindest in Deutschland next to nothing, und in Amerika wenig genug, dass ihr Biopic Amelia (2009, mit Hilary Swank) allerhand gestalterischen Spielraum fürs Drehbuch ließ: Ein flüchtiges Wesen war sie immer. Sie bestand aus Verweigerung und Eigensinn, was sie zu einer Ikone der jungen Emanzipationsbewegung machte, und selbst davon ließ sie sich nicht vereinnahmen.

Als Kind, das man sich leicht vorstellt wie Idgie Threadgoode, lehnte sie sich gegen die ungeschriebenen Gender-Regeln des amerikanischen Kleinbürgertums auf, indem sie zugunsten Bäumeklettern und Mäusejagd die Sonntagsschule schwänzte. Ernst machte sie, als sie die Fliegerei entdeckte. Sie finanzierte sich ihre Flugstunden selbst, eine davon kostete um 1920 eintausend Dollar. Auch dafür stand sie nach kurzer Zeit nicht mehr zur Verfügung, indem sie sich nach einem halben Jahr ihr eigenes Flugzeug kaufte.

1931 heiratete sie nach dem sechsten Antrag ihren Mentor und Verehrer George Putnam — immer noch widerwillig genug, weil ihr eine Bindung auf Lebenszeit zu bodenschwer war. Als ihr Umfeld von ihr erwartete, sich endlich in die Herstellung von Apple-Pie und Quilts zurückzuziehen, stiftete sie junge Frauen dazu an, sich darauf zu besinnen — und durchzuziehen — was sie wirklich interessierte. Überhaupt hätten Frauen “den Hinweis auf ihr Geschlecht schon viel zu lange als Ausflucht benutzt” — eine fast schon postfeministische Auffassung.

Auf ihr Konto gehen zehn Weltrekorde in der Fliegerei. Charles Lindbergh als erste Frau im Atlantik-Alleinflug nachzumachen genügte ihr nicht, sie musste als erster Mensch den Äquator umrunden. Was Sinn ergibt: Man könnte ja einmal kurz um den Nordpol herumstapfen und wäre in zwei Minuten fertig mit seiner Weltrumrundung.

Bei diesem Versuch verscholl sie — typisch. Das war am 2. Juli 1937, nach dem letzten Funkspruch: “We are in a line position of 157′- 337. Will report on 6210 kilocycles. Wait, listen on 6210 kilocycles. We are running north and south.” Umgehend setzte die Elvis-Legendenbildung ein: Immerhin könnte sie sich unterwegs in ihren Flugbegleiter verliebt haben und mit ihm auf einer Südseeinsel wohnen. Am 5. Januar 1939 wurde sie pflichtgemäß für tot erklärt, die Suche nach ihr samt ihrem Flugzeug läuft noch.

Mein intertextuelles Verständnis sagt mir, dass Carson McCullers die Miss Amelia aus The Ballad of the Sad Café (1951) ihr nachgebaut hat: die Wirtin im ewigen Mechaniker-Overall, wie ihn Flieger tragen, die den Dorfrowdy duellweise niederringt und mit dem ganzen Dorf im Nichts verschwindet, das ist eindeutig. Sollten Sie dringend lesen, auf jedem zweiten Bücherramsch liegt für ungefähr einen Euro fuchzig eine alte Ballade vom traurigen Café von Diogenes. Die Biographie von Amelia Earhart ist schon seltener.

Mich konnte sie kürzlich immer noch indirekt überraschen: nämlich mit der Entdeckung, dass die Hymne auf die first lady of the air, mein Lieblingslied Amelia Earhart auf der Feels Like the Third Time (1994) gar nicht von Freakwater ist, sondern von einer dreiköpfigen Cowboycombo, der man ohne weiteres das Jodeln zutraut, und genau am 2. Juli 1939 geschrieben und noch selben Abends uraufgeführt. Happy landing.

Bild: Amelia Earhart’s Motorized Scooter in Modern Mechanix, Januar 1936.

Written by Wolf

2. July 2010 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Fragen eines Dilettanten mit einem Radio daheim

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„Sie sind Doktor?“
„Der Musik!“
„Können Sie ein Radio reparieren?“
„N-nein…“
„Dann haltensen Mund.“

Peter Bogdanovich/Buck Henry/David Newman/Robert Benton: Is’ was, Doc?, 1972.

Update zu Irgendwann kauf ich mir eine kleine Farm im Süden
und Shut Up ‘N Play Yer Guitar:

Allegro maestoso assai
Con spirito ma non troppo

    Tanya Plonka, Accordion shots by Dino

  1. Warum tragen musikalisch hochbegabte Kinder immer Seitenscheitel?
  2. Um später mal so werden wollen wie der Proll an der Tuba, der zwar auch so eine gescheitelte Existenz ist, dafür in früherer Jugend zu saufen angefangen hat und heute noch früher am Tage saufen darf?
  3. Ist der an der Posaune Maurer, Symphoniker oder beides?
  4. Hat schon mal jemand bei Wagner ungestützt ein Leitmotiv erkannt?
  5. Oder ein Thema in einer Mahler-Symphonie?
  6. Können Raucher noch Waldhornisten werden?
  7. Wenn ich Cembalo studiert hab, lassen sie mich dann auch ans Spinett?
  8. Machen sich Tenöre zwanghaft zum Affen oder ist das ein angeborenes Defizit?
  9. Wünschen sich Cellistinnen in Wirklichkeit einen Araberhengst oder lieber ein Pferd?
  10. Kann jemand die Snare-Drum im Bolero mitklopfen?
  11. Kann man Theorben bottlenecken?
  12. Wie lange dauert es, eine Konzertharfe zu stimmen?
  13. Brauchen Kontrabassisten wie die Hundehalter zwei Monatskarten?
  14. War mein Wellensittich Blueser?
  15. Können Wale einen Takt halten?
  16. Konnte Rubinstein die Missa Solemnis nachpfeifen?
  17. Hat Yehudi Menuhin schon Telemann persönlich gekannt?
  18. Warum spielt die italienischste aller Opern in Schottland?
  19. Muss der am Triangel die ganze Oper lang anwesend sein?
  20. Tonleitern auf dem Schlagzeug?
  21. Ist ein Dreivierteltakt nix Halbes und nix Ganzes?
  22. Worin unterscheiden sich die Sonogramme von Siegfrieds Rheinfahrt von denen einer Klospülung?
  23. Hat Joachim Kaiser daheim Pink Floyd?
  24. Stehen irgendwo mehr als zehn CDs ohne The Wall beisammen?
  25. Konnte John Cage die Stereoanlage korrekt bedienen, sogar tunen oder nur schrotten?
  26. Stammen Holzblasinstrumente aus kontrolliertem Anbau?
  27. War die Callas überschätzt oder Klaus Nomi?
  28. Hat Chopin das gewollt?
  29. Gestattet Zwölftontechnik Blues?
  30. Gibt es Arnold-Schönberg-Fans?
  31. Hätte Adrian Leverkühn eine Chance auf dem Musikmarkt?
  32. Hat die Bat Out Of Hell jetzt einen Symphoniepreis gekriegt oder nicht?
  33. Hat Roy Bittan mehr Finger als Yngwie Malmsteen?
  34. Wird den Kindern im Blockflötenunterricht das Intro zu Stairway to Heaven beigebracht?
  35. Kann man die Griffe auf Stairway to Heaven selber rausfinden?
  36. Haben die in Stairway to Heaven absichtlich lauter so fiese Barrés gestopft?
  37. Wie spricht man denn jetzt verdammtnochmal die vierte Platte von Led Zeppelin aus?
  38. Warum gibt es den Soundtrack von Fritz The Cat nicht?
  39. Und den von Harold und Maude?
  40. Warum will niemand I’m So Lonesome I Could Cry geschrieben haben?
  41. Warum ist am Schluss der Melodie von In the Year 2525 jedes Mal noch so viel Text übrig?
  42. Glauben die Hippies immer noch, ihre Single Eve Of Destruction sei was wert?
  43. Und dass sie als einzige wüssten, von wem die ist?
  44. Ist der Riff aus These Boots Are Made For Walking die Lösung, endlich auch Achteltöne zu erwischen, oder Misshandlung?
  45. Lisa Baker, Playboy Centerfold November 1966Und wie stimmt Nancy Sinatra das Ding so schnell wieder rauf?
  46. Warum reimen sich englische Liedertexte nie richtig?
  47. War Crying von Aerosmith das, was Ringsgwandl mit einem Heavy-Metal-Landler gemeint hat?
  48. Einmal Bassist, immer Bassist?
  49. Kann man oder muss man mit arschlanger Dauerwelle Heavy Metal spielen?
  50. Sind die würdelosen Zuckungen alternder Rockmusiker ganz einfach der Preis?
  51. Hat sich Bob Dylan schon mal singen gehört?
  52. Wenn McCartney extra eine Linkshänderklampfe braucht, warum schafft es Liberace mit einem rechtshändigen Klavier?
  53. Was machte Elvis zu einem Idol?
  54. Wird Hans Söllner heute mit billigerem Stoff betrieben?
  55. Hat Shane MacGowans Leber die Pogues ermöglicht, ruiniert oder nur überlebt?
  56. Ob Tom Waits auf dem Billardtisch übernachtet?
  57. Oder drunter?
  58. Sind die von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung alle Zuhälter geworden?
  59. Sind die Sportfreunde Stiller in 40 Jahren solche Kasper wie die Stones?
  60. Woher wissen Element of Crime das alles über mich?
  61. Konnte Volker Kriegel besser zeichnen oder klampfen?
  62. Glauben volkstümliche Musikanten, dass sie Volksmusik machen?
  63. Benutzt Hansi Hinterseer das gleiche Radio wie Adorno?
  64. Auf welchem Weg unterstützt die CSU die Schlagerindustrie?
  65. Oder die Schlagerindustrie die CSU?
  66. Warum sollte jemand ausgerechnet zu Tanzmusik tanzen?
  67. Wenn Deutschland den Superstar gefunden hat, was macht es dann mit ihm?
  68. Muss es ihn behalten?
  69. Kennt Dieter Bohlen noch ein anderes Lied?
  70. Hat der nicht wenigstens Grundkenntnisse im Baggerfahren?
  71. Wer komponiert die Melodien für die Kneipen-Spielautomaten?
  72. Was unterscheidet Rosenstolz von deutschem Schlager?
  73. Hat Helge Schneider seine Lieder geschrieben oder sofort ins Reine gesungen?
  74. Wäre Björk besser, wenn sie auf ihren Konzerten Schuhe anhätte?
  75. Wie viele Leute sind Roxette wirklich?
  76. Geht Free Jazz als Satire durch oder ist das schon ein Tatbestand?
  77. Wie lange steht auf vorsätzliche Verbreitung von Liedgut für junge Christen?
  78. Welche Drogen nehmen christliche Rockbands?
  79. Haben sie im Mittelalter wirklich so tranig gesungen?
  80. Wann ist man endlich zu alt für HipHop?
  81. Muss ich mich mit Mitte 40 mit Klassik auskennen oder schon mit Jazz?
  82. Was treibt Dixieland-Kapellen zum Tragen von Uniformen?
  83. Warum hören immer nur solche Hirnschieber Country?
  84. Blasen die einsamen Trucker in ihrem Führerhäuschen tatsächlich so einen astreinen Blues auf der Mundharmonika, um wach zu bleiben?
  85. Wieso sollen sich die Planetenbahnen nach den Goldberg-Variationen richten und nicht nach Shanties?
  86. Ist das Rauschen auf dem 75-Meter-Band die wahre Musik?
  87. Wie viele Biergläser könnte ein Kneipenpianist auf einen Konzertflügel stellen?
  88. Wie bringt man einen Kneipengitarrero zur Ruhe?
  89. Eins zum Mitgrölen, eins zum Zuhören oder einfach mal die Fresse halten?
  90. Warum grölen Menschen am Lagerfeuer immer in G?
  91. Wird an Lagerfeuern noch der Zentralfriedhof gesungen?
  92. Macht man bei den Mädels noch einen Schnitt, wenn man Let It Be samt Griffen und einem Schrammelsolo auswendig kann?
  93. Warum können Frauen nicht rocken?
  94. Kann man die Resonanz der Maultrommel im weiblichen Beckenboden mit etwas anderem simulieren?
  95. Hat schon mal jemand ohne Niedertracht im Sinn eine CD von Air gekauft?
  96. Kriegt die Lead Guitar oder die Roadies die besseren Mädels?
  97. Wie ist es während der Aufnahme von Je t’aime… moi non plus im Studio zugegangen?
  98. Kann man die Ehe vollziehen, während der Musikantenstadl läuft?
  99. Warum sampelt niemand eine CD aus Lustgeschrei?
  100. Kann Anne Marit von Katzenjammer kochen (und Turid)?
  101. Krieg ich für das Konzert von Natalie Merchant einen Schein in Anglistik?
  102. Wenn Neger schwarze Musik machen, machen Chinesen dann gelbe?
  103. Geben Kühe mehr Kakao, wenn sie Hendrix hören?
  104. Kennen Klezmermusiker Nazilieder?
  105. Married to the Sea, I love my records. January 2010Warum hört man die verstimmten Klampfen der Rucksackurlauber im Freien keine drei Meter, dafür im Zug drei Abteile weit?
  106. Sind Musette-Quetschen eigens für die Pariser U-Bahnschächte gebaut oder umgekehrt?
  107. Warum hat sich die Nasenflöte nie bei Ein-Mann-Kapellen durchgesetzt?
  108. Muss man Dudelsack aus religiösen Gründen immer im Laufen spielen?
  109. Welcher Saboteur hat zuerst gut gefunden, neben ein Banjo eine Saite zu spannen, die ein praktisch unverrückbares G von sich gibt?
  110. Hat schon mal jemand Banjo nach Noten gespielt?
  111. Sind zwei Suppenlöffel ein Musikinstrument?
  112. Und ein Radio?
  113. Kann mir heute noch jemand Trautonium beibringen?
  114. Warum gilt Theremin als sinnlich, obwohl man es nicht mal anfassen darf?
  115. Wie schaut einen der Musikalienhändler an, wenn man einen Maulschlauch kaufen will?
  116. Verträgt Zither eine Begleitstimme?
  117. Kann man H7 korrekt festhalten?
  118. Warum reißt immer zuerst die D-Saite?
  119. Warum ist auf Mundharmonikas immer genau ein Saugton kaputt?
  120. Auf wie vielen Produktionen sind die Backing Vocals in Wirklichkeit ein Heizlüfter?
  121. Wie viele Monatsprogramme eines privaten Radiosenders passen in einen iPod?
  122. Werde ich meinen Enkeln von Napster erzählen?
  123. Werden sie mir glauben?
  124. Wann kann ich endlich aus LPs .mp3s ziehen?
  125. Gibt es ein Programm, das Sounds von 1974 bis 1989 in Musik umwandelt?
  126. Können Handys nicht einfach klingeln?
  127. Wer hat die letzte mathematisch mögliche Melodie geschrieben?
  128. Wie viele wechselnde und wiederkehrende Ohrwürmer hat ein durchschnittlicher Mediennutzer im Leben?
  129. Welches Lied hab ich als letztes aus dem Radio auf Kassette aufgenommen?
  130. Und als erstes?
  131. Was ist die kürzeste CD auf dem Markt?
  132. Und die schönste?
  133. Ist Musik Menschenrecht?
  134. Und wieso nicht?
  135. Und wozu hab ich jetzt 14 Jahre Musikunterricht gehabt?

Liedl: Katzenjammer: To the Sea, live in Musikkflekken in Sandvika, Bærum.
Buidl: Tanya Plonka: Accordion shots by Dino!;
Lisa Baker, Playboy Centerfold November 1966: The Art of the Centerfold, 11. Oktober 2008;
Married to the Sea, Januar 2010.

Written by Wolf

7. June 2010 at 6:52 am

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Happy Memorial Day

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You write what you're toldThis is one of the two holidays in the United States that worships the dead (Halloween being the other). I think about my culture with disdain regarding these holidays because most of the population wouldn’t agree with the notion that Americans worship the dead.

Laura Moncur, May 24, 1998.

Der Tag markiert auch den Beginn der Sommersaison; ein Picknick in einem Park oder Besuch eines Freibads ist auch eine Art, den Tag zu begehen.

Wiki.

Image: Les dessous de l’information mondiale-Downside World News: Big Media and The New World Order, 8. Februar 2008.

Song: Moriarty: Jimmy, from: Gee Whiz But This Is A Lonesome Town, 2007.

Watch the video big (fullscreen has been disabled, but hey, you can’t ignore the buffalo song).

Written by Wolf

31. May 2010 at 7:57 am

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Death to the living, long life to the killers. Success to sailors’ wives & greasy luck to whalers

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Let the filmmakers speak:

AMERICAN EXPERIENCE Premieres Ric Burns’ “INTO THE DEEP: AMERICA, WHALING & THE WORLD” May 10 on PBS

The Epic Story of America’s Quest For The Leviathan

03.18.2010 – A fantastic sea adventure, a cautionary economic and environmental tale, and a mythic saga of man and nature, INTO THE DEEP: AMERICA, WHALING & THE WORLD will premiere on the PBS series AMERICAN EXPERIENCE on Monday, May 10, 2010 at 9PM.

“The ship? Great God, where is the ship?”
Herman Melville

American Experience Films. Into the Deep, by Ric BurnsINTO THE DEEP: AMERICA, WHALING, & THE WORLD, from filmmaker Ric Burns, tells the thrilling and epic story of three centuries of American whaling, and the unique relationship between American whalers and the giant creatures they hunted. The hunt for these mysterious, mammoth beings helped fueled the expansion of the American economy – propelled tiny backwater ports like Nantucket and New Bedford to the unrivalled center of the whaling world – and pioneered the first truly global enterprise America ever knew. At the height of the whaling industry, U.S. whaleships encircled the globe, a massive state-of-the-art fleet crewed by highly-skilled mariners whose ever-widening search for whales enabled them to chart the seven seas. The magnificent creatures were slaughtered for the precious oil that filled their massive heads, the high-quality illuminant that lit the drawing rooms of Europe and greased the wheels of the Industrial Revolution.

Few aspects of the American experience have struck more deeply into the imagination of the American people – or resonated more profoundly with deepest American hopes, fears and dreams – than the savagely primal, unfathomably limit-testing experience of whaling. Says Ric Burns, “the epic story of whaling is intimately bound up with the story of America, in strange and telling ways: as a riveting case study in maritime culture at its most extreme – as a dark and shining parable of American capitalism on the rise – and as an allegory for the American, and the human experience – long before a restless sometime whaleman and would-be writer named Herman Melville ever went to sea.”

Pacifists and Profiteers

Whaling was part of the American experience from the earliest days of European settlement. Within ten years of the arrival of the Mayflower, drift whaling—the passive capture of beached or stranded whales—was underway up and down the Atlantic coast. But it was on the island of Nantucket, a Quaker enclave off the Massachusetts coast, that whaling took the most tenacious hold. In 1690, after a few decades of farming had exhausted Nantucket’s meager resources, the island’s inhabitants turned to whaling as their shared path to financial success, and never looked back.

The worldwide demand for whale oil began to soar and Nantucket threw itself with a vengeance into the dangerous and bloody art of deep-ocean sperm whaling and the island’s whalemen brought that complex enterprise to a pitch of state-of-the-art perfection never equaled before or since. Still, for all of the technology that attended it, at the center of the whaling enterprise remained a simple, primordial drama, not so far removed from a paleolithic hunt. The killing of the whale required proficiency in a method at least centuries old: fastening a small boat to an enraged mammal with a “harping iron” and rope; waiting for the massive creature to gradually exhaust itself as it towed the boat behind it; then stabbing it to death with an iron lance or spear at close range. Blood gushing from the blow hole signaled the whalers’ victory. Generation after generation of Nantucket men, many of them pacifist Quakers schooled at whale-killing since childhood, would become among the world’s most skilled practitioners of this lethal but lucrative art—perhaps the defining paradox in an industry that had more than its share.

A Tale of Two Ships

INTO THE DEEP explores two events that would forever anchor whaling into the American consciousness. On August 12, 1819, the whaleship Essex set sail from Nantucket, bound for the Pacific. By now a truly global enterprise, whaling produced huge profits, but required more capital, covered vast distances, and consumed massive amounts of time. Voyages that once took six months now took years as the hunt for declining whale populations required farther exploration. Vessels and crews became larger; labor and costs were squeezed and an industry that had once been paternalistic and community-based became more specialized, cosmopolitan and anonymous. And more dangerous.

Danger had always been an integral element of the whaling enterprise. Many whale ships never returned home but none suffered a more horrific fate than the Essex, which, on November 20, 1820, thousands of miles off the coast of Peru, was rammed not once but twice, by a sperm whale as long as the ship itself. The awesome power of the whale sent the vessel to the bottom of the ocean, but twenty sailors made their frantic way onto whaleboats. Eight would ultimately survive after a harrowing ordeal that lasted months and reduced the sailors to cannibalism.

It was in the 1840s that the golden age of American whaling reached its zenith, and New Bedford replaced Nantucket as the whaling center among some sixty domestic ports. By the middle of that decade, 735 out of the 900 whale ships sailing the world’s oceans sailed under an American flag. Seventy-thousand people made their livelihoods from whaling, including 20,000 men who populated the ships themselves, sailing the oceans in pursuit of every variety of whale: right, humpback, bowhead, gray, and the most valuable of all, the sperm whale. During the industry’s most profitable year they killed more than 8,000 whales, generating profits of $11 million.

The Poet

Into this heady world walked Herman Melville, a restless 21-year-old from New York whose family had fallen on hard times. In December of 1840, he arrived in New Bedford, looking for work. He soon set sail aboard the Acushnet, a whaling ship bound for the South Pacific, toward the same marine wilderness that the ill-fated Essex had traveled some twenty years before.

By one of the most fortuitous events to occur in literary history, Melville’s ship tied up alongside another vessel, a mid-ocean “gam,” or rendezvous. On that ship was a young seaman, William Henry Chase, whose father, Owen Chase, had been first mate of the Essex, and one of the tragedy’s few survivors. The younger Chase gave Melville a copy of his father’s memoir, and the harrowing tale of man vs. nature would haunt him for a decade. In 1850, he set to work on Moby Dick, arguably the greatest novel ever written by an American. “For God’s sake,” he implored his readers, “be economical with your lamps and candles! Not a gallon you burn but at least one drop of man’s blood was spilled.”

The fictional crew aboard the Pequod reflected the incredible diversity Melville had experienced in his own whaling career. His characters include Native Americans, Indians, Africans, Pacific Islanders and others from China, Denmark, England, Spain, and the Azores, as well as Quakers from Nantucket, Cape Cod and Martha’s Vineyard.

Even though the novel was written in the white heat of the whaling moment, when Moby Dick was published in 1851 it was met with scathing reviews and, far worse, indifference. Two years into the California Gold Rush, Americans were losing interest in the maritime wilderness of the great oceans, focusing instead on the boundless possibilities of the American West.

The golden age of whaling was drawing to a rapid close. In 1854, out on Nantucket, where so much whaling history had been written, the town replaced its whale oil street lamps with gas lights. Then, in 1859, the discovery of petroleum in Pennsylvania identified the illuminant and lubricant of the future, and quickly relegated whale oil to a rapidly fading past. The Civil War ship-crushing disasters in the Arctic during the 1870s only accelerated the American whaling fleet’s drift toward oblivion.

INTO THE DEEP’s look at our whaling past is stark reminder of not only the volatility of the global marketplace but the danger of viewing the planet and its creatures as commodities,” says AMERICAN EXPERIENCE executive producer Mark Samels.

* * *

About the Participants (in order of appearance)

Nathaniel Philbrick lives on Nantucket and is the author of In the Heart of the Sea: The Tragedy of the Whaleship Essex, a winner of the National Book Award. His newest book, The Last Stand: Custer, Sitting Bull and the Battle of the Little Big Horn, will be published in May 2010.

Daniel Vickers is the head of the department of history at the University of British Columbia and the author of Young Men and the Sea: Yankee Seafarers in the Age of Sail.

Lisa Norling is a history professor at the University of Minnesota. She has written several books and about women and maritime history including Captain Ahab Had a Wife: New England Women and the Whalefishery, 1720-1870; Iron Men, Wooden Women: Gender and Seafaring in the Atlantic World, 1700-1920, ‘How Fought With Sorrow and Heartpangs’: Mariners’ Wives and the Ideology of Domesticity in New England, 1790-1880, and The Sentimentalization of American Seafaring, 1790-1870.

Mary K. Bercaw Edwards is associate professor of English at the University of Connecticut. Her publications include Melville’s Sources (1987), Herman Melville’s Whaling Years (2004), and “Ungraspable Phantom”: Essays on Moby-Dick (Kent State University Press, 2006).

D. Graham Burnett is a historian of science at Princeton University; his Trying Leviathan: The Nineteenth-Century New York Court Case That Put the Whale on Trial and Challenged the Order of Nature won the 2007 Hermalyn Prize in Urban History and the New York City Book Award in 2008.

Eric Jay Dolin is the author of Leviathan: The History of Whaling in America.

Stuart Frank is Curator of the New Bedford Whaling Museum, in Massachusetts.

Michael Moore is a Marine Biologist at the Woods Hole Oceanographic Institution, in Massachusetts.

Margaret Creighton is a Professor of History at Bates College and the author of Rites and Passages: The Experience of American Whaling, 1830–1870.

Andrew Delbanco, a professor of American studies at Columbia, is the author of Melville: His World and Work.

About the Filmmakers

Ric Burns (Producer) is best known for his acclaimed series New York: A Documentary Film, a sweeping chronicle of the city’s history, which garnered several honors, including two Emmy Awards and an Alfred I. duPont-Columbia Award. Burns’ career began with the celebrated series The Civil War, which he produced with his brother, Ken. Burns’ other films include Coney Island, The Donner Party, The Way West, Eugene O’Neill, and Andy Warhol: A Documentary Film. Most recently, Burns wrote, produced, and co-directed Tecumseh’s Vision, part two of the groundbreaking five-part miniseries We Shall Remain. A graduate of Columbia University and Cambridge University, Burns lives in New York City.

Mark Samels (Executive Producer) was named to lead PBS’s flagship history series, AMERICAN EXPERIENCE, in 2003 after serving as senior producer since 1997. Produced by WGBH/Boston, AMERICAN EXPERIENCE is television’s most-watched and longest running history series, and the recipient of every major industry award, including the Peabody, Primetime Emmy, Writers Guild and duPont-Columbia Journalism Award. Numerous films for the series have been recognized at major film festivals, including Sundance, and eight have been nominated for Academy Awards®. Prior to joining WGBH, Samels worked as an independent documentary filmmaker, an executive producer for several U.S. public television stations and as a producer for the first co-production between Japanese and American television. A native of Wisconsin, he is a graduate of the University of Wisconsin-Madison.

For further info and photos visit www.pbs.org/pressroom.

Links to the participants’ works shall follow in the Bücherliste.

Loads of thanks for attention and sharing to Cohu!

1:52 hours video on WGBH American Experience Films! Use Full Screen!

Text and image: American Experience Films.

Written by Wolf

12. May 2010 at 6:43 am

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Klüger werden in den Rotschopfwochen

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Update zu Cabidoulin is too seldom,
Die Zukunft war noch nie, was sie mal werden sollte
und Two Years Before the Mast:

Auf den ersten Seiten von Die Eissphinx gelernt: Eine Seemeile ist so lang wie eine Winkelminute zwischen zwei Breiten- oder Längengraden auf der Erdoberfläche, was unter Berücksichtigung einer unregelmäßig gekrümmten solchen bei der Längenmessung stört.

Memo an mich: Endlich den Erdradius auswendig merken. Und wenigstens so viele Stellen von π, wie auf dem Taschenrechner angezeigt werden. Und neue Telefonnummern.

I'm Like You, Tree, How I Wish I Could Talk to You Now, July 9, 2009Alina Rudya, Sea 6, August 10, 2009Danceboy, July 26, 2009

Erdgekrümmte Rotschöpfe: I’m Like You, Tree: How I Wish I Could Talk to You Now, 9. Juli 2009;
Alina Rudya: Sea 6, 10. August 2009;
Danceboy, 26. Juli 2009.

Written by Wolf

22. February 2010 at 4:03 am

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Bookes into Dragon’s Teeth

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Update for Vorabendvorstellung and Signed: Adolf Wolf, Colossal Stinker:

Herbert Mitgang, Ahab, Freud and Nazis On Melvilleans' Agenda, New York Times August 26, 1986

Image: Herbert Mitgang: Ahab, Freud and Nazis On Melvilleans’ Agenda, in: New York Times August 26, 1986, I.23, via Clare Spark: The radicalism of the Founders and Herman Melville, November 18, 2009.

Click pic big.

Written by Wolf

30. January 2010 at 12:01 am

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It may be your last (or it might have been Brooklyn)

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Update for Happy Christmas your arse, I pray God it’s our last
and But someone stole my record player:

Original Judy Garland

Have yourself a merry little Christmas,
it may be your last;
Next year we may all be living in the past.

Have yourself a merry little Christmas,
pop that champagne cork;
Next year we may all be living in New York.

No good times like the olden days,
happy golden days of yore,
faithful friends who were dear to us
Will be near to us no more.

But at least we all will be together,
if the Lord allows.
From now on, we’ll have to muddle through somehow,
so have yourself a merry little Christmas now.

Have yourself a merry little Christmas,
let your heart be light;
Next year all our troubles will be out of sight.

Have yourself a merry little Christmas,
make the yuletide gay;
Next year all our troubles will be miles away.

Once again as in olden days,
happy golden days of yore,
faithful friends who were dear to us
will be near to us once more.

Someday soon we all will be together,
if the fates allow.
Until then, we’ll have to muddle through somehow,
so have yourself a merry little Christmas now.

 

Poster Meet Me in St. Louis, 1944For Christmas 2007, songwriter Hugh Martin (aged 92 at the time) added one own updated version to the countless existing. Forget the Sinatra croon, Twisted Sister were doing fine.

Compelling what a deep-depressing threat there was in the original 1943 version that took MGM to have the lyrics mitigated — to live away from Louisiana Purchase Exposition in New York next year. Hey, it could be to Brooklyn seaside.

Movie clip and image: Meet Me in St. Louis, Metro-Goldwyn-Mayer 1944.

Crucial link: Chris Willman: There’s Something About Merry in: Entertainment Weekly, January 8, 2007.

Written by Wolf

20. December 2009 at 11:58 am

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Der Zweck von Metaphern

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Update zu Dr. House und der Meta-Dick,
nebenbei zu The secret’s in the sauce und Stephans Billy Budd heute:

Hugh Laurie by the mayor of televisionFrau Fernseh war einst so freundlich, uns eine freundliche Begegnung mit Moby-Dick aus dem TV-Geschehen mitzuteilen, vermutlich nach dem Text in der deutschen Fansite Dr. House Fans zitiert. Inzwischen liegt im Hause Wolf die zweite Staffel Dr. House auf DVDs vor, was uns in die Lage versetzt, den Dialog in zuverlässigen Details wiederzugeben. Er handelt in der 17. Episode der 2. Staffel, All In, deutsch: In Not, Erstausstrahlung 11. April 2006, ab Minute 26:56:

Wilson: Hast du mal Moby-Dick gelesen?
House: (ironisch) Ist das ein Buch?
Wilson: Der Fall (der verstorbenen Frau) ist zehn Jahre her!
House: Zwölf.
Wilson: Zwangsvorstellungen sind gefährlich.
House: Nur wenn ich auf einem hölzernen Kahn stehen würde und sie ein Wal wäre. Ich glaube, da bin ich außer Gefahr.
Wilson: Dir ist doch klar, dass ich es als Metapher meine?
House: Und dir ist doch klar, dass Metaphern den Zweck haben, Leute von etwas abzuschrecken, indem man ihnen weismacht, es würde etwas Schlimmeres passieren als das, was wirklich passiert? — Gott, hätte ich doch eine Metapher, um das besser zu verdeutlichen.
Wilson: (typischer treudoof-zerknirschter Wilson-Blick)
House: Du kannst wieder zurückgehen. Keine Angst, dich wird schon keine Hexe auffressen.

Im Original:

Wilson: Have you read Moby-Dick?
House: It was a book?
Wilson: It was ten years ago!
House: Twelve.
Wilson: Obsession’s dangerous.
House: Only if you’re on a wooden ship and your obsession’s a whale. I think I’m in the clear.
Wilson: You do realize it’s a metaphor?
House: You do realize that the point of metaphors is to scare people from doing things by telling them that something much scarier is going to happen than what will really happen? — God, I wish I had a metaphor to explain that better.
Wilson: (typical gullible contrite Wilson look)
House: Go back to the game. Don’t worry, I’m not going to get eaten by witches.

Womit der Gelehrtenstreit eröffnet wäre, ob “I’m not going to get eaten by witches” mit “Dich wird schon keine Hexe auffressen” übersetzt werden darf.

Tatsächlich haftet der Art, wie Hugh Laurie in der Gestalt von Dr. House seinen unbelehrbaren Dickschädel samt seinem invaliden rechten Bein durch ein abgeschlossenes Szenario wuchtet, etwas entschieden Ahabeskes an. Es ist kein Boot, sondern das Princeton-Plainsboro Teaching Hospital (PPTH) in New Jersey, und House nicht der Schiffsoberste, sondern ein ständig vom Rausschmiss bedrohtes Genie, sein Ringen um Erfolg und Anerkennung und sein struppiges Charisma mit trotzig zur Schau getragenem Hinkebein aber könnten direkt aus Ahab-Darstellungen entlehnt sein, wie das onkologische Sensibelchen Wilson (Robert Sean Leonard) richtig erkennt.

Auch an Kulturbeflissene, die das anders sehen und “Krankenhausserie” allenfalls in abqualifizierendem Tonfall verwenden, ergeht Empfehlung für die gesamte Serie: Das ist gut gemachtes Fernsehen mit stereotypen, aber einfallsreich durchexperimentierten Drehbüchern, allerhand Wahrheitsfindung und einer Synchronstimme, die im Hinterkopf dröhnt.

House M.D., All In

Bilder: Hugh Laurie by the mayor of television, 24. November 2008;
Screenshot aus All In.

Written by Wolf

10. December 2009 at 3:46 pm

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Jesaja 9,1—6 (Von Jesse kam die Art)

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Update zu Belly of a Whale:

Das Röslein, das ich meine,
davon Jesaja sagt,
hat uns gebracht alleine
Marie, die reine Magd.

Michael Prätorius, 1609.

Virgin and Child with Balaam the ProphetDas Volk das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell, auf daß er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Du machst des Volkes viel; du machst groß seine Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast das Joch ihrer Last und die Rute ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie zur Zeit Midians. Und indem die dreihundert Mann bliesen die Posaunen, schaffte der HERR, daß sie im ganzen Heer eines jeglichen Schwert wider den andern war. Und das Heer floh bis Beth-Sitta gen Zereda, bis an die Grenze von Abel-Mehola bei Tabbath. Denn alle Rüstung derer, die sich mit Ungestüm rüsten, und die blutigen Kleider werden verbrannt und mit Feuer verzehrt werden. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; er heißt Wunderbar, Rat, Held, Ewig-Vater Friedefürst; darum so wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel. Und ich will die Schlüssel zum Hause Davids auf seine Schulter legen, daß er auftue und niemand zuschließe, daß er zuschließe und niemand auftue. Und du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir kommen, der in Israel HERR sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids. Die Übriggebliebenen werden sich bekehren, ja, die Übriggebliebenen in Jakob, zu Gott, dem Starken, auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhl Davids und in seinem Königreich, daß er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.

Nevertheless the dimness shall not be such as was in her vexation, when at the first he lightly afflicted the land of Zebulun and the land of Naphtali, and afterward did more grievously afflict her by the way of the sea, beyond Jordan, in Galilee of the nations. The people that walked in darkness have seen a great light: they that dwell in the land of the shadow of death, upon them hath the light shined. Thou hast multiplied the nation, and not increased the joy: they joy before thee according to the joy in harvest, and as men rejoice when they divide the spoil. For thou hast broken the yoke of his burden, and the staff of his shoulder, the rod of his oppressor, as in the day of Midian. For every battle of the warrior is with confused noise, and garments rolled in blood; but this shall be with burning and fuel of fire. For unto us a child is born, unto us a son is given: and the government shall be upon his shoulder: and his name shall be called Wonderful, Counsellor, The mighty God, The everlasting Father, The Prince of Peace. Of the increase of his government and peace there shall be no end, upon the throne of David, and upon his kingdom, to order it, and to establish it with judgment and with justice from henceforth even for ever. The zeal of the LORD of hosts will perform this.

primo tempore adleviata est terra Zabulon et terra Nepthalim et novissimo adgravata est via maris trans Iordanem Galileae gentium populus qui ambulabat in tenebris vidit lucem magnam habitantibus in regione umbrae mortis lux orta est eis multiplicasti gentem non magnificasti laetitiam laetabuntur coram te sicut laetantur in messe sicut exultant quando dividunt spolia iugum enim oneris eius et virgam umeri eius et sceptrum exactoris eius superasti sicut in die Madian quia omnis violenta praedatio cum tumultu et vestimentum mixtum sanguine erit in conbustionem et cibus ignis parvulus enim natus est nobis filius datus est nobis et factus est principatus super umerum eius et vocabitur nomen eius Admirabilis consiliarius Deus fortis Pater futuri saeculi Princeps pacis multiplicabitur eius imperium et pacis non erit finis super solium David et super regnum eius ut confirmet illud et corroboret in iudicio et iustitia amodo et usque in sempiternum zelus Domini exercituum faciet hoc

ΤΟΥΤΟ πρῶτον πίε, ταχὺ ποίει, χώρα Ζαβουλών, ἡ γῆ Νεφθαλὶμ ὁδὸν θαλάσσης καὶ οἱ λοιποὶ οἱ τὴν παραλίαν κατοικοῦντες καὶ πέραν τοῦ ᾿Ιορδάνου, Γαλιλαία τῶν ἐθνῶν, τὰ μέρη τῆς ᾿Ιουδαίας. ὁ λαὸς ὁ πορευόμενος ἐν σκότει, ἴδετε φῶς μέγα· οἱ κατοικοῦντες ἐν χώρᾳ καὶ σκιᾷ θανάτου, φῶς λάμψει ἐφ᾿ ὑμᾶς. τὸ πλεῖστον τοῦ λαοῦ, ὃ κατήγαγες ἐν εὐφροσύνῃ σου, καὶ εὐφρανθήσονται ἐνώπιόν σου ὡς οἱ εὐφραινόμενοι ἐν ἀμήτῳ καὶ ὃν τρόπον οἱ διαιρούμενοι σκῦλα. διότι ἀφῄρηται ὁ ζυγὸς ὁ ἐπ᾿ αὐτῶν κείμενος καὶ ἡ ράβδος ἡ ἐπὶ τοῦ τραχήλου αὐτῶν· τὴν γὰρ ράβδον τῶν ἀπαιτούντων διεσκέδασε Κύριος, ὡς τῇ ἡμέρᾳ τῇ ἐπὶ Μαδιάμ. ὅτι πᾶσαν στολὴν ἐπισυνηγμένην δόλῳ καὶ ἱμάτιον μετὰ καταλλαγῆς ἀποτίσουσι καὶ θελήσουσιν εἰ ἐγενήθησαν πυρίκαυστοι. ὅτι παιδίον ἐγενήθη ἡμῖν, υἱὸς καὶ ἐδόθη ἡμῖν, οὗ ἡ ἀρχὴ ἐγενήθη ἐπὶ τοῦ ὤμου αὐτοῦ, καὶ καλεῖται τὸ ὄνομα αὐτοῦ μεγάλης βουλῆς ἄγγελός, θαυμαστὸς σύμβουλος, Θεὸς ἰσχυρός, ἐξουσιαστής, ἄρχων εἰρήνης, πατὴρ τοῦ μέλλοντος αἰῶνος· ἐγὼ γὰρ ἄξω εἰρήνην ἐπὶ τοὺς ἄρχοντας, εἰρήνην καὶ ὑγίειαν αὐτῷ. μεγάλη ἡ ἀρχὴ αὐτοῦ, καὶ τῆς εἰρήνης αὐτοῦ οὐκ ἔστιν ὅριον ἐπὶ τὸν θρόνον Δαυὶδ καὶ τὴν βασιλείαν αὐτοῦ κατορθῶσαι αὐτὴν καὶ ἀντιλαβέσθαι αὐτῆς ἐν κρίματι καὶ ἐν δικαιοσύνῃ ἀπὸ τοῦ νῦν καὶ εἰς τὸν αἰῶνα· ὁ ζῆλος Κυρίου σαβαὼθ ποιήσει ταῦτα.

Прежнее время умалило землю Завулонову и землю Неффалимову; но последующее возвеличит приморский путь, Заиорданскую страну, Галилею языческую. Народ, ходящий во тьме, увидит свет великий; на живущих в стране тени смертной свет воссияет. Ты умножишь народ, увеличишь радость его. Он будет веселиться пред Тобою, как веселятся во время жатвы, как радуются при разделе добычи. Ибо ярмо, тяготившее его, и жезл, поражавший его, и трость притеснителя его Ты сокрушишь, как в день Мадиама. Ибо всякая обувь воина во время брани и одежда, обагренная кровью, будут отданы на сожжение, в пищу огню. Ибо младенец родился нам–Сын дан нам; владычество на раменах Его, и нарекут имя Ему: Чудный, Советник, Бог крепкий, Отец вечности, Князь мира. Умножению владычества Его и мира нет предела на престоле Давида и в царстве его, чтобы Ему утвердить его и укрепить его судом и правдою отныне и до века. Ревность Господа Саваофа соделает это.

עָם֙ הַהֹלְכִ֣ים בַּחֹ֔שֶׁךְ רָא֖וּ א֣וֹר גָּד֑וֹל יֹשְׁבֵי֙ בְּאֶ֣רֶץ צַלְמָ֔וֶת א֖וֹר נָגַ֥הּ עֲלֵיהֶֽם׃ הִרְבִּ֣יתָ הַגּ֔וֹי לא ל֖וֹ הִגְדַּ֣לְתָּ הַשִּׂמְחָ֑ה שָׂמְח֤וּ לְפָנֶ֙יךָ֙ כְּשִׂמְחַ֣ת בַּקָּצִ֔יר כַּאֲשֶׁ֥ר יָגִ֖ילוּ בְּחַלְּקָ֥ם שָׁלָֽל׃ כִּ֣י ׀ אֶת־עֹ֣ל סֻבֳּל֗וֹ וְאֵת֙ מַטֵּ֣ה שִׁכְמ֔וֹ שֵׁ֖בֶט הַנֹּגֵ֣שׂ בּ֑וֹ הַחִתֹּ֖תָ כְּי֥וֹם מִדְיָֽן׃ כִּ֤י כָל־סְאוֹן֙ סֹאֵ֣ן בְּרַ֔עַשׁ וְשִׂמְלָ֖ה מְגוֹלָלָ֣ה בְדָמִ֑ים וְהָיְתָ֥ה לִשְׂרֵפָ֖ה מַאֲכֹ֥לֶת אֵֽשׁ׃ כִּי־יֶ֣לֶד יֻלַּד־לָ֗נוּ בֵּ֚ן נִתַּן־לָ֔נוּ וַתְּהִ֥י הַמִּשְׂרָ֖ה עַל־שִׁכְמ֑וֹ וַיִּקְרָ֨א שְׁמ֜וֹ פֶּ֠לֶא יוֹעֵץ֙ אֵ֣ל גִּבּ֔וֹר אֲבִיעַ֖ד שַׂר־שָׁלֽוֹם׃ לם׳F׳רבה לְמַרְבֵּ֨ה הַמִּשְׂרָ֜ה וּלְשָׁל֣וֹם אֵֽין־קֵ֗ץ עַל־כִּסֵּ֤א דָוִד֙ וְעַל־מַמְלַכְתּ֔וֹ לְהָכִ֤ין אֹתָהּ֙ וּֽלְסַעֲדָ֔הּ בְּמִשְׁפָּ֖ט וּבִצְדָקָ֑ה מֵעַתָּה֙ וְעַד־עוֹלָ֔ם קִנְאַ֛ת יְהוָ֥ה צְבָא֖וֹת תַּעֲשֶׂה־זֹּֽאת׃ ס

Jesaja Kapitel 8-9, Tanach via Aleppo Codex

Bilder: Älteste bekannte Darstellung der Jungfrau Maria, Katakomben von Priscilla, Rom, spätes 2. Jahrhundert; Aleppo Codex

Lied: Michael Prätorius: Es ist ein Ros’ entsprungen, Thomanerchor Leipzig.

Written by Wolf

6. December 2009 at 12:01 am

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Viscount Melvilles Reisen

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Update zu Melvilles Reisen:

(Bild groß.)

  1. Melville Bay englische Wiki;
  2. Melville Island/Kanada englische Wiki, Melville-Insel deeutsche Wiki;
  3. Lake Melville englische Wiki, Lage südöstlich außerhalb des Bildes bei Canada Centre for Remote Sensing:
    Detailed map of the region Lake Melville;
  4. Melville Peninsula englische Wiki, Melville-Halbinsel deutsche Wiki;
  5. Viscount Melville Sound englische Wiki, Melvillesund deutsche Wiki.

Nicht im Bild: Melville Island/Northern Territory/Australia, in englischer und deutscher Wiki vorhanden.

Alle benannt nicht nach Herman M., sondern Robert Dundas, dem 2. Viscount Melville, für besondere Verdienste um die Erforschung der Arktis, der 1851 beim (nicht am) Erscheinen von Moby-Dick im schottischen Melville Castle verstarb.

Leuchtglobus: Columbus Großglobus Glas: Der Großglobus von Columbus hat den mächtigen Durchmesser von 51 cm (üblich sind 26 bis 34 cm). Das ermöglicht einen Kartenmaßstab von 1 : 25 Mio., wie er sonst nur bei Atlanten möglich ist.

Tischmodell, mundgeblasene Glaskugel auf massivem Nußbaumholzfuß (32 cm Ø), messingfarben eloxierter Halbmeridian mit geprägter Breitenskala. Höhe 67 cm. Gewicht 14 kg. Kabellänge 330 cm.

Politisches (unbeleuchtet) und physisches (beleuchtet) Kartenbild mit Schummerung, Grauschummerung für die wichtigsten Gebirgszüge, Meridian mit genauer Gradeinteilung, Namensgut deutsch. Kartographische Darstellung in fein und sauber abgestuften Farbtönen auf dem neuesten geographischen Stand der Wissenschaft. Kartenbild aus 24 Farben wird auf die mundgeblasene Kristallglaskugel von Hand kaschiert. Columbus-Verlag von Paul Oestergaard in Schwaben und Räthgloben-Verlag zu Leipzig, via Manufactum, 1.349,00 Euro (Stand Oktober 2009).

Written by Wolf

10. October 2009 at 12:01 am

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Lili’uokalani — die Blume von Hawaii

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oder: Melville und die Königinnen der Südsee

Die Blume vom Plattenbau Elke macht einen Exkurs durch die Geschichte — als Würdigung zum 171. Geburtstag der Blume von Hawaii am 2. September:

When the inhabitants of some sequestered island first descry the “big canoe” […] rolling through the blue waters towards their shores, they rush down to the beach in crowds, and with open arms stand ready to embrace the strangers. Fatal embrace! They fold to their bosoms the
vipers whose sting is destined to poison all their joys…

Herman Melville in: Typee, Chapter IV

Elke HegewaldEigentlich sind sie sich gar nicht ähnlich, die schöne Gattin Mowannas, des Königs von Nuku Hiwa aus Herman Melvilles Roman, und Lili’uokalani, die letzte Regentin von Hawaii: die Erste – ein Naturkind, eine ‘Wilde’, wie Melville sie nennt. Ungezähmt trotz gegenteiliger Anstrengungen der hereingebrochenen Vertreter der Zivilisation und im reichen Schmuck ihrer kunstvollen Tataus schert sie sich den Teufel um mühsam andressierte Etikette. Die Zweite, hochgebildet und nach amerikanischen Standards christlich erzogen, mit dem Sohn eines Bostoner Schiffskapitäns verheiratet — eine weitsichtige Monarchin und in politisch-diplomatischen Gepflogenheiten durchaus bewandert. Und sie hätte nie, nie im Leben den Rocksaum gelüpft, um einer vollzählig angetretenen Schiffsmannschaft eine filigrane Tätowierung auf ihrer Rückseite vorzuweisen — sofern sie überhaupt eine hatte.

Tausende Meilen sind die Inselparadiese der beiden voneinander entfernt. Die Ferne ist näher gerückt in den anderthalbtausend Jahren, seit ein polynesischer Königssohn mit seiner Flotte von Auslegerkanus aufbrach, den Sternen und den Vogelschwärmen folgte und unter Segeln bis Hawaii kam, es zu besiedeln. Der stammte von den Marquesas. Wahrscheinlich besteht auch keinerlei Verwandtschaft zwischen den zwei Königinnen — auch wenn heut keiner mehr weiß, ob nicht der junge Häuptling von damals der Ururur…ahn der einen und auch der anderen war.

Liliuokalani of HawaiiJames Cook landete an marquesischen Gestaden. Auf Hawaii erst später, 1780. Vielleicht hätte er das lieber lassen oder sich dort besser betragen sollen, denn das zweite davon hat er nicht überlebt.

Als die zivilisierte Welt die Inseln entdeckte, schleppte sie unbekannte Krankheiten und allerlei neues Volk auf den Strand von Nuku Hiwa: Missionare und Walfänger, Pest und Cholera, Abenteurer und den Tripper. Auf den Strand von Hawaii — auch. Landräuber und Militärstrategen sprachen dort französisch, hier englisch.

König Mowanna und seine hübsche Königin arrangierten sich — arglos, naiv und unwissend. Ihr Paradies wurde annektiert: auf Französisch, kurz vor dem Erscheinen von Melvilles Typee Mitte des 19. Jahrhunderts. Die kluge Hawaiianerin wollte ein unabhängiges Paradies und Bildung für seine Kinder — kämpfend, mit politischer Diplomatie, ohnmächtig. Es wurde annektiert: auf Amerikanisch, kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert.

Des Typee-Autors marquesische Wildblume sprang einem Image als Popanz buchstäblich mit nacktem Hintern ins Gesicht — und schockierte einen Konteradmiral und eine Schiffsladung Matrosen. Die Blume von Hawaii wehrte sich königlich gegen das Popanz-Bild – und wurde von einem Bananen-Baron und seiner Truppe eingeschiffter Militärs gestürzt.

Die Marquesas sind bis heute französische Kolonie, deren Mutterland sich im Recht sieht für die Segnungen der Zivilisation, die es über sie gebracht hat. Hawaii ist seit dem 21. August 1959 der 50. Bundesstaat der USA, die sich 1993 mit der Apology Resolution bei den Hawaiianern für den Putsch von 1893 gegen deren Monarchie entschuldigten.

Die einstige Herrscherin über die Bucht und die Berge von Nuku Hiwa lebte ein Buch, das ein Amerikaner über sie, über einen Inselstamm in der Südsee und sie selbst, seine Fayaway schrieb. Die entthronte Herrscherin über die Eilande des Aloha State schrieb außer dem berühmten Aloha Oe noch ungefähr hundert andere Lieder — und ein Buch über Lili’uokalani und ihr Hawaii, 1898.

Wie ich schon sagte, sie haben eigentlich nichts miteinander gemein, die beiden Königinnen der Südsee, nicht wahr?

Queen Liliuokalani

Bilder: Liliuokalani of Hawaii: Wikimedia Commons;
Liliuokalani, Queen of Hawaii, full-length portrait, seated, outdoors, with dog, facing slightly left: The Library of Congress.
Leider nur sehr lückenhaft und schon gar nicht bildlich überliefert: Fayaway.

Written by Wolf

10. September 2009 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

O Mädchen mein Mädchen (10, 30, 50, 70, 250, 260)

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Update zu Entschluss, Amerikas Goethe zu werden
und The Sorrows of English-Speaking Goethe Fans
(und zu Lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt auch irgendwie):

Es wird wohl 1999 gewesen sein: Die New Economy wusste noch nicht, dass ihre sprühende Energie ein letztes Aufbäumen war. Die florierende Softwareklitsche, in der ich als Drehbuchschreiber alt werden wollte, unternahm geschlossen einen Spontanausflug in den Englischen Garten, um die Sonnenfinsternis zu bewundern, und weil es eine Softwareklitsche war, nahm sie nicht mal den für Silvester angekündigten Y2K-“Virus” ernst. Fin de siècle war ein parodistischer Anklang an den letzten Jahrhundertwechsel; im schaulustigen Summen und Brummen des Englischen Gartens sprach mich zehn Minuten vor Eintritt der totalen Sonnenfinsternis ein durchaus ansehnliches Mädchen an, ob ich mit ihr hinter diesem Busch da drüben, wo sie einst ein prägendes Erlebnis hatte, noch einmal “Liebe machen” wollte, bevor wir alle tot seien, und ich schlug es aus. Den Menschen ging es ein letztes Mal gut.

Goethe, Mayfest, 1775, AusschnittDas hat Altvater Goethe sich zu seiner Zeit schon selbst ausrechnen können, dass am Ende des Jahrtausends sein 250. Geburtstag anstand: 1999 feierte man nebenbei auch noch Goethejahr. 2009 stelle ich weder fest, dass es irgend jemandem meiner Bekanntschaft auffallend “gut” ginge, noch dass der Buchhandel etwelche Saltos schlüge, um Goethen zum heutigen 260. zu gratulieren. Schlimm genug, dass die vollständige Coverage der Feierlichkeiten zu einem deutschen Nationalfeiertag von einem Freizeitblog kommen muss, der sich tunlicher mit dicken Fischen befassen sollte.

Etwas frischer in der Erinnerung auch der Jüngeren liegt das Mozartjahr 2006: Aus dem war auch schon im Sommer 2005 die Luft raus vor lauter Ankündigungen, wie toll alles wird, und Beteuerungen, wie zeitgemäß und mitreißend Mozart schon immer war. Und da entsinne ich mich einer Website, die Telephonklingeltöne aus Mozart-Themata zum kostenpflichtigen Download anbot; meine dadurch induzierte psychosomatische Akne klingt mittlerweile ab.

Dem Herrn Geheimrat, wie man vermuten darf, geht es gut, mit seinen 260 wahrscheinlich noch am besten von allen. Über Gedenktagen steht der drüber, allen voran über seinen eigenen. Eine Souveränität, die er mit fleißiger Vorsorge erreichen konnte: Als literarisches Debüt ein Bestseller, den man bis heute im Deutschunterricht kaputtquatschen oder wahlweise aus anderen als allein historischen Gründen lieb haben, den man sich kapitelweise telephonisch schicken lassen kann — was einen kategorialen Unterschied zu mozarteischen Klingeltönen darstellt! —, der jedenfalls zeitlos gültig geblieben ist und einen nie in Ruhe lassen wird — und im Spätwerk ein Pandämonium, das dem Sinn des Lebens ziemlich nahe kommt, so lässt sich in Frieden ruhen. Um den muss man sich also nicht verstärkt kümmern.

Wären wir zwanzig Jahre jünger, so segelten wir noch nach Nordamerika“, hat er 1819 der Aufzeichnung anheim gegeben, da war er 70. Mit 50, stellte er sich demnach vor, hätte er noch gern an der Besiedlung des Wilden Westens mitgewirkt.

Heute sind die Zeiten wieder danach, dass niemand von einigem Verstand einen Grund sieht, an seinem Geburtsort auszuharren, bis ihn die Sinn- oder die Wirtschaftskrise dahinrafft. Der amerikanische Westen ist erfolgreich besiedelt und riecht schon allenthalben nach Zusammenbruch, der Unterschied zu 1819 ist also: Weder mit 70 noch mit 50 wird jemand in Aufbruchsstimmung verfallen. Weil so eine Karriere heutzutage mit 30 gemacht ist.

Kamelopedia, Busenfreundin StrandkamelWeiter in der Rechnung: Junge Menschen werden heute unter dem Einfluss gehaltvoller Ernährung mit 10 Jahren geschlechtsreif, heiratsfähig im Sinne des Vermögens, eigene Nachkommschaft zu ernähren, werden sie mit 30 — einer psychologischen Altersschwelle, hinter der einem im Zug des gesellschaftlichen Lebens mit viel Glück vielleicht noch ein Stehplatz angeboten wird: In modernen Biographien klafft eine organisatorische Lücke von zwei Generationen.

Goethe erlebte, wie man, von der Bravo sozialisiert, sagen würde, “sein erstes Mal” mit 16 Jahren, was damals wie heute als statistisch normal und gesund angesehen wird. Und zwar mit einer drei Jahre Älteren, was als piquant angesehen wird, vor allem von beteiligten Personen um dieses Alter. Da war Goethe Jurastudent in Leipzig (was zusätzlich Naserümpfen über das herrschende Schulsystem aufwirft, in dem man kaum unter 18 sein Abi kriegt) und durfte immerhin theoretisch auf Erfüllung seiner naheliegenden Sehnsüchte hoffen. Und wie wir rückblickend wissen, ist aus beiden jungen Liebenden später noch was geworden.

Eine Definition von Normalität ist das statistische Mittel. Eine andere: das Wünschbare. Im Sinne der letzteren — gerechnet in Wertmaßstäben, die man nach diesem Vierteljahrtausend hinterfragen mag oder nicht — lebte Goethe bedeutend normaler als jeder rezente deutsche Michel, der einen Lebensunterhalt anstrebt und dazu noch unverschämt genug ist, nach einem Sexualleben in maßvollem Umfang zu schielen.

Nein, um Goethe, lebendig oder tot, muss man sich nicht sorgen. Danken wir ihm für seine durchwachsene Vorbildwirkung und wünschen wir das Glück uns selber, die wir es bitter brauchen können. Näheres dazu im Link der Woche, dem erfreulich breiten und tiefen Goethezeitportal der Münchner Uni.

Zur Fortführung einer angemessenen Goethe-Rezeption ergeht erneut die Frage von letztem Jahr: Was sind eigentlich die maßgeblichen englischen Übersetzungen und erreichbaren Ausgaben des Werther in den Fassungen von 1774 und vor allem 1787, was nicht mal der Metafilter so genau wusste?

O Mädchen mein Mädchen: Richard Tauber 1929 via Franz Lehár: Friederike, 1928 richtet sich schon an Goethes Zweite, 1770, diesmal eine drei Jahre Jüngere, der alte Feinschmecker.

O Mädchen Mädchen: Johann Wolfgang Goethe: Mayfest, 1775 (Ausschnitt);
Busenfreundin Schönkopf: Nu anonyme, 19. Jahrhundert, via Kamelopedia.

(Trivialwissen über junge Leute: Adolf Dallapozzas Enkelin heißt auf Youtube DistreSSedGirL und ist stolz auf ihren Opa.)

Written by Wolf

28. August 2009 at 12:01 am

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Perliana

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Hille Perl die Waldfee, Uwe Arens, Sony MusicHille Perl sieht mich. Mich als erstes, als die Fahrstuhltür aufgeht, beim Kramen in CDs, ein Zeichen, aber wofür bloß. Sie tritt mit Los Otros und dem Stockwerkleiter instrumentenbeladen heraus und verteilt sich ums Podium.

Die größte Kaufhausabteilung für klassische Musik Deutschlands, die beim Beck am Rathauseck, macht Matinee. Ihre erste, weil Hille Perl mit ihren beiden Jungs gestern ein richtiges Konzert hatte und heute Abend schon weiter muss. Hab ich heute früh in der Zeitung gelesen: Ui, Hille Perl. Sofort hin. Von der Großmeisterin der Viola da Gamba und Professorin für Gambeninstrumente an der Hochschule für Künste Bremen hab ich eine CD mit abseitigen Bach-Konzerten, solo. Dafür, dass es Bach ist, macht die wirklich Spaß.

Hille Perl soll wohl gothic aussehen und wirkt wie die blühende Lebenslust. Sie ist schön wie Schneewittchen und sympathisch wie deine erste Liebe. Offener, klarer Blick, den sie mit jedem im spärlichen Publikum — zwei Sitzreihen sind nicht voll geworden — einmal wechselt, ansteckendes Lächeln. Sie erinnert sehr an eine Katze, eine schwarz-weiße, in Bewegungen und Färbung. Kurzes Röckchen mit hochraffinierten Netzstrumpfhosen, gehobenes Wolford. Los Otros, ihre Unterstützung Lee Santana (nicht verwandt) und Steve Player, sind schrullige Musiknerds. Schon beim Aufbauen der Instrumente ein eingespieltes Team, Frau Perl stimmt ihre Gambe noch vor dem Herausnehmen, im Kasten, an den Feuermelderkasten gelehnt. Das wird einen Sinn haben, irgendwas mit Resonanzkörper und Raumklang. Eine Combo, die bestimmt etwas aus dem macht, was sie vorzutragen gedenkt.

Ansage: Der Stockwerkleiter braucht ein Mikro, Frau Perl spricht ihre launigen, fachkundigen Worte unverstärkt, ihre Stimme trägt, einnehmend freundlich und unprätenziös. Himmel, die Dame ist als Professorin, Großmutter und Fee eine gleich dreifache Respektsperson, dabei möchte man jeden Moment hinaufrufen, ob sie hinterher auf ein Eis mitkommt. Wetten, dass sie Vanille mag?

Es gibt Auschnitte aus ihrer neuen CD Kapsbergiana, eine Sammlung aus einem Jahrzehnte lang verschollenen Notenbuch von einem gewissen Johann Hieronymus, vulgo Giovanni Geronimo Kapsberger, das kürzlich in der Universitätsbibliothek von Yale wieder entdeckt wurde: Libro terzo d’intavolatura di chitarrone. Das sieht Frau Perl ähnlich, dass sie sich auf sowas stürzt. Zum hundertelfzigsten Mal die Vier Jahreszeiten einfiedeln mögen derweil die Powermiezen, die als Mitnahmeartikel neben der Kasse liegen.

Eine Mutter hat zwei sehr kleine Mädchen mitgebracht und lagert sich mit ihnen neben den Sitzreihen an den Heizkörper. Frau Perl winkt ihr jüngstes Publikum zu sich und fragt sie aus, ob sie denn auch ein Instrument spielen. Es entsteht die paradoxe und doch sehr passende Situation, dass Frau Perl sich auf Augenhöhe mit kleinen Mädchen kauert und dabei auf ihrem Podest stehen bleibt. Die Mädchen wollen mal Geige lernen, worüber Frau Perl sich glaubwürdig freut.

Dann nimmt sie zwischen ihren Otros Platz. Blickewechsel, Sammeln, Ernstwerden. Der erste Bogenstrich summt durch die Abteilung, dass die CDs in den Ständern aneinander vibrieren. Lerninhalt des Vormittags: Die Wannenklampfen mit den irrsinnig überlangen Hälsen heißen schon nicht mehr Lauten, sondern Theorben. Und klingen unerwartet lustig: zwei verschiedene Sätze Saiten, bestimmt eine Oktave auseinander, die sich schon auf einem einzelnen Instrument gegenseitig ins Wort fallen und klimpern und hüpfen und brummen für zwei. Frau Perls Gambe hat keinen Ständer, sie muss ihn auf ihren Stiefelschäften lagern; leider obliegt sie der Unsitte, beim Musizieren die Augen zu schließen, was schon vor Nick Hornby verboten war. Das darf nur sie.

Das ist jetzt nicht wahr, dass diese Musik von 1626 ist, oder? Das wäre jedenfalls vor der Erfindung der Polyphonie, und das schnurrt und singt und quasselt durcheinander und überrascht an allen Ecken und Enden, und davon hat es viele. Kapsberger ein früher Bach, gar Mozart, ja Bob Dylan? Nein, aber auf dem CD-Cover steht, sie haben es los otrofiziert. Gute Arbeit anscheinend.

Sie wissen offensichtlich nicht im Voraus, was sie alles spielen werden, immer wieder sprechen sie sich ab, auch während der Stücke, wenn der Dritte ein Solo drischt — man darf es getrost mit modernen Ausdrücken belegen. Das Programm sitzt noch nicht blind, aber sie verstehen sich, und wozu hat Frau Perl den besten Ruf für Improvisation. Zwinkert sie zwischendurch immer wieder den kleinen Mädchen am Heizkörper mit den kugelrunden Augen und den aufgesperrten Mündern zu oder ist das mein Wunschdenken?

So altmodisch bin ich aber dann doch, um verpasst zu haben, dass Autogrammstunden jetzt Signing heißen. Meet & Greet ist dann für U-Musiker? Das Ende war zu schnell, ist aber organisch gewachsen, man vermisst nichts, muss nicht nach Zugaben grölen, es ist wie es ist und es ist gut. Ich stelle mich hinten an das Signing, wo sich alle drei Otros um einen Stehtisch ringen und Audienz halten, und überlege eine Ausrede, warum ich ihnen keine CD abkaufen werde — und zwar eine, die nicht lautet: “weil ich die für fünf Euro und nicht für die achtzehn neunzig, die der Beck für einen Aktionspreis hält, aus dem Amazonramsch raushol”, ich Notnickel. Vielmehr lausche ich, was Frau Perl mit ihren Verehrern zu bereden hat, man versteht sie weit. Sie lacht fröhlich, stellt ehrlich interessierte Fragen, hört zu, antwortet angemessen. Darf ich die mitnehmen?

Ich hab mein blanko Reinschrift-Moleskine dabei, das trifft sich gut. Mal sehen, ob Frau Perl sich mit anderen Kunstformen außer Musik auskennt. Das nehme ich mir vor, weil ich es ihr zutraue, nicht etwa, um sie reinrasseln zu lassen. Die Seite nach dem Ahab-Cartoon ist dran. Den Wunsch, dass sie darin blättere, verdränge ich, bevor er richtig aufkommt, denn Eitelkeit ist Todsünde. Frau Perl ruft gerade nach hinten einer Bekannten zu, dass sie gerade noch die Tourdaten in ihren Computer reinschreiben konnte — “dann is er gestorben!”

“Kannst du mir was zeichnen?”

Himmel, ich habe Hille Perl geduzt. Ich komme in die Hölle. Kaum winkt von fern eine Ahnung von Internet in einem Subtext, schon duzt sich’s wie von selbst.

Frau Perl lacht hell auf. “Zeichnen is ganz schlecht bei mir”, sagt sie. “Aber er hier hat Kunst studiert” und schiebt mein Moleskine ihrem Nachbarn zu. “You studied arts”, sagt sie zu ihm, “you draw him a picture.”

“I knew it”, mault er und füllt mit Grandezza den größten Teil der Seite mit einer vierbeinigen Spirale. “It’s a Kapsberger”, erklärt er dazu und schiebt das Buch weiter. Alle kritzeln was, Frau Perl zuletzt, sie schiebt das Buch in eine zweite Runde, sie balgen sich darum wie die jungen Hunde, die Seite wird ein Kunstwerk. Frau Perl schiebt es mir in die Finger:

“Schön so?” Es ist eine echte Frage.

“Klasse”, sag ich. Wenigstens Anfassen verkneife ich mir.

“Alles Gute!” nickt mir Frau Perl zu, kaum bekomme ich mein Buch verstaut.

“Danke für eure Arbeit”, sag ich, und vorsichtshalber: “Keep the good work up.” Das sagt man doch so, oder?

Das hat der Beck strategisch gut ausgedacht, dass man erst mit Frau Perl sprechen und dann an dem Tisch mit ihren neun CDs vorbei muss. Auf der Aguirre geht es um historische mexikanische Freiheitskämpfer mit girrenden Lauten und gurrenden Celli. Soll gut sein.

Autogramm Los Otros, Samstag, 1. August 2009

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Bilder: Hille Perl by Uwe Arens/Sony Music;
Autogramm.
An ihren Videos muss noch üben: Hille Perl: Johann Sebastian Bach: Cello-Suite BWV 1011, Sarabande.

Written by Wolf

4. August 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Durch den Schlick schrammen

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Update zu München am Meer III: Der größte Buchladen Deutschlands:

Da ist mir wieder ein ganz exquisites Blättchen unterlaufen.

Meeresküste mit Schiffen heißt es und ist von Johan Christian Clausen Dahl 1834 gezeichnet.

Es war in dem schönen, leider recht abgelegenen und daher vergriffenen Band Deutsche Romantik. Aquarelle und Zeichnungen, 2000 bei Prestel herausgegeben Jens Christian Jensen vom Museum Georg Schäfer in Schweinfurt, der die gleichnamige Sammlung ebenda dokumentiert.

In angenehm altmodisch ausführlicher Akkuratesse stehen bei jedem einzelnen Bild Künstlerbiographien, Beschreibungen der Technik und des Zustands jeden Exponats sowie alles Notwendige, was man an Historie und Zusammenhängen weder in Wikipedia noch im Brockhaus findet. ISBN 3791324268, die ist googlefähig. Gefunden bei texxt in der Sendlinger Straße.

Der Band legt uns endlich einen Grund nahe, nach Schweinfurt zu reisen. Stilecht müsste man es heimlich tun und unter einem sach- und fachfremden Vorwand, am besten einen Strohmann vorschicken. Vergleichbar hat Georg Schäfer, ein ansonsten eher rechteckiger mittelständischer Firmenvorstand, seine Sammlung zusammengetragen. Seine Liebe zum aquarellistischen und zeichnerischen Treiben der deutschen Romantik, wie es unter Mitwirken von ausgebildeten Künstlern und noch mehr Dilettanten florierte, um nicht zu sagen: ganz so epidemisch wucherte wie heutigentags die Photographie mit Mobilfernsprechern, gestand er nur seiner Familie und engsten Freunden ein. Unabkömmlich in seinen Brotgewinsten, beauftragte er Agenten, Versteigerungen im ganzen Land zu anzureisen, und stattete sie mit großzügigen Budgets aus, um einen möglichst umfassenden Querschnitt durch seine bevorzugte Periode zu horten. In der Sammlung Georg Schäfer ist nichts wirklich vollständig, aber alles reichhaltig und bunt. Quantität kann eine Qualität sein.

Von Dahl hat Herr Schäfer etliche Blätter gesammelt, selbst innerhalb seines nicht gerade überhypeten Gesamtwerks immer noch nicht die bekannteren Dresdener Ansichten, sondern Nebenprodukte maritimen Anstrichs. Zum Beispiel diese hingeworfene Studie aus wenigen Strichen.

Aber wie das sitzt! Gemäß der Bildlegende ist es in Feder/Tinte und Pinsel/Tusche in Grau auf dünnem, weißem Papier ausgeführt. Eine abgespeckte, sparsame Technik für klare Ansichten. Es dürfte gar kein Strich mehr sein. Die Perspektiven jeden Details sind so geschwind und zielsicher mit der Feder eingefangen wie mit dem Auge wahrgenommen. Der Vergleich ist anachronistisch und darf mir als gewollt popkulturalisierend angekreidet werden — aber das ist die Meisterschaft eines Comiczeichners.

Ich kann Georg Schäfer gut verstehen. Mit ausreichenden Mitteln wäre es nicht meine letzte Idee, eine Sammlung wie die seine einzuhamstern. Das Buch kostet bei texxt noch weniger als auf Amazon, bisher war ich es nur zwei-, dreimal besuchen. Jedes Mal brauchte ich nicht unter einer halben Stunde für unser knospendes Techtelmechtel. Beim Anblick von dem Dahl fiel mir schon beim Kennenlernen umgehend die Klappe runter; gut, dass sie bei texxt für solche Fälle zwei Sofas in die Kunstbandecke gestellt haben (Kellergeschoß, hart backbord).

Als ich zuletzt aufwartete, standen zwei Exemplare feil. In dem linken davon fehlte ein paar Seiten vor dem Dahl ein Blatt, offenbar von einem begeisterten Kunstfreund in aller Eile schlampig und ohne Schneidewerkzeug noch aus dem selben Druckbogen gerissen. Noch ein exquisites Blättchen anscheinend, und: Nein, das war nicht ich. Wenn Sie kommen, um es zu erwerben, passen Sie also auf, dass Sie das unverstümmelte erwischen, oder — ein echter Tipp — verleiten Sie Münchens hübscheste Buchhändlerin, die jungische Magere mit dem ehrlich aufmerksamen Blick, Pferdeschwanz, entwaffnend freundlich aber diskret, zu einer Fachsimpelei über Buchpreisgestaltung. Dann hab ich wenigstens eine Ausrede, mir die 26 (statt 58) Euro zu sparen.

Dahls Biographie nach müsste 1834 die Ostsee Modell gesessen haben. Es sieht aber richtig aus wie Meer, auch wenn solche polnischen Baggerseen nicht einmal uns fränkische Hinterländler weiter scheren sollten.

Johan Christian Clausen Dahl, Meeresküste mit Schiffen, 1834

Bild: Johan Christian Clausen Dahl: Meeresküste mit Schiffen, Feder/Tinte, Pinsel/Tusche in Grau auf dünnem, weißem Papier, 1834, aus der Sammlung Georg Schäfer in: Deutsche Romantik. Aquarelle und Zeichnungen, München: Prestel 2000, Exemplar bei texxt, Sendlinger Straße 24, München, eigene Digitalphotographie Juni 2009.

Written by Wolf

22. July 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Nennt mich Arion

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Elke gratuliert Gospodin Puschkin nachträglich zum 210. in Gestalt eines Updates
zu Die Welt spricht Moby (und Moby spricht russisch)
und Und siehe! Zart wie Mondstrahlgluten, weiß wie der Schnee auf Bergesgrat:

Elke HegewaldAls Nachkomme eines äthiopischen Beuteprinzen in dritter Generation, welcher als des Großen Peters Mohr in die Geschichte einging, setzte er offenbar höchste Priorität in die Frage der Ehre. Diese wurde ihm am Ende zum Verhängnis, denn er starb jung, mit nur 37 Jahren, in einem Duell mit dem französischen Gospodin und Offizier Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès – was ein Jammer für die Poesie der Russen und die ganze Weltliteratur ist.

Alexander Sergejewitsch Puschkin machte die russische Muttersprache, vor allem die des Volkes, gegenüber der “Sprache des Feindes” hof- und literaturfähig. Wurde doch bis zu Napoleons Einmarsch in Moskau 1812 in der russischen Oberschicht nur französisch gesprochen. Er war Goethes Zeitgenosse und seinen Namen, seinen Eugen Onegin oder sein Märchen vom Zaren Saltan kennen sogar Leute, die mit der russischen Literatur kaum was am Hut haben.

Seine Russalka-Variationen sind als Beitrag zur Mermaid-Szene auf Moby-Dick™ hier seinerzeit schon verewigt worden. Und auch sonst macht er sich gar nicht so schlecht unter uns Waljägern. Denn als Sankt Petersburger Küstensohn und – von dort verbannt – zeitweiliger Schwarzmeerreisender war er mit allen maritimen Wassern gewaschen und neben allem andern auch ein großer Poet des Meeres.

Ilja Repin, Iwan Aiwasowski, Puschkins Abschied vom Meer, 1877

Arion

Wir waren viele auf dem Kahn;
Die einen hingen in den Wanten,
Es stemmten unter Deck die andern
Die Ruder. Unser Steuermann
Stand weise schweigend auf der Brücke
Und steuerte das Frachtschiff still;
Und ich – von Glauben tief erfüllt –
Sang sorglos Lieder … Als voll Tücke
Uns eine Sturmbö überfiel …
Steuermann und Schiffer kamen um! –
Nur mich, den Sänger, hat’s im Sturm
Geheimnisvoll zurück zum Strand verschlagen, …
Ich sing die alten Lieder weiter
Und trockne meine nassen Kleider
Im Sonnenlicht, wo Felsen ragen.

(1827)

Wenn mal Zeit ist, raffe ich mich auch noch irgendwann zu einer Übersetzung resp. Nachdichtung seiner romantisch flammenden Ode „An das Meer“ (К море) von 1824 auf.

Er ist einer von denen, die für immer jung bleiben. Auch wenn er gerade am 6. Juni 210 geworden ist. С Днём рожденя, Александр Пушкин.

Bei seinen Erben (ja, auch die Sparte der neuzeitlichen Gitarrenlyrik darf sich getrost zu denen zählen) klingen Schiffsuntergänge so:

Auch dazu notieren wir uns den guten Vorsatz einer gelegentlich nachzuliefernden Übersetzung.

Bild: Ilja Repin (Puschkinfigur) und Iwan Aiwasowski (Landschaftshintergrund):
Прощание А.С. Пушкина с морем (Puschkins Abschied vom Meer), 1877.

Written by Wolf

9. June 2009 at 12:01 am

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Warum wir trotz allem Thomas Mann lieb haben

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Update zu Kein Wunsch, 125 zu werden: And Anxiety’s Plenty For Me:

Man kann viel gegen Thomas Mann einwenden und tut es auch. Ein widerwärtiges Großbürgerschätzchen muss er gewesen sein; kein Problem — oder eben doch eins —, dass er schwul war, aber dazu stehen hätte er ruhig dürfen, statt sich selbst samt seiner Familie mit dem aggressiven Depri aus seiner ungelebten Sexualität zu sekkieren. Damit hat er Frau und Kinder bis mindestens ins dritte Glied mit in seinen Sumpf gezogen, mehr Glieder sind es aus zeitlichen Gründen bis jetzt nicht. Ein richtig gelungenes Leben hat niemand aus seinem Umfeld, alle waren sie überschattet von diesem übellaunigen Monument von Oberhaupt, das eigentlich Goethe sein wollte und sich wahrsacheinlich für ihn gehalten hätte, wenn er nicht entschieden zu gescheit dafür gewesen wäre. Ein Hoher Sohn, ein übersteigerter Vater. Der Mann verkörpert alles, was man aus begründetem Selbstschutz hasst. Einfach ekelhaft.

Nicht einmal der Nobelpreis 1929 konnte ihn befriedigen: Daran hatte er zu mosern, dass er ihn für seinen Erstling, die Buddenbrooks bekam statt für sein Lieblingsbuch, den Zauberberg, das 800 Seiten lang einem jungischen Großbürgerschätzchen zuschaut, wie es sich sieben Jahre lang langweilt.

Und das ist die Stelle, an der wir aufhorchen sollten: Da hat er doch Recht, der Mann. Einen Nobelpreis für diesen belanglosen Schnelldurchlauf einer Familiengeschichte von Buddenbrooks? Der Zauberberg dagegen, die thematisierte Langeweile, die er jedoch mit einer so bestechenden Klarheit ausgewalzt hat, dass sie tatsächlich auf keiner der 800 Seiten langweilig wird, nur eins von ziemlich vielen, ziemlich dicken Folgebüchern? Sagt, was hatten die in Stockholm für Übersetzungen? Alles was recht ist: Da konnte sich der verknieste Krauterer ganz gut selbst einschätzen.

Alle Vorwürfe gegen Thomas griffen, wenn er sich mit seiner geradezu sprichwörtlichen allfälligen Ironie (allein schon das Wort…) von oben herab raushängen ließe, dass er sich gerade nur gemein macht. Das tut er nicht. Er schont sich nicht, er weiß, was er für ein Arsch ist, selbst noch in jedem Moment seiner Sitte, jedes Wort, und er braucht viele davon, in moralische Anführungszeichen zu setzen. Er ist unglücklich geblieben dabei. Er hat seine Lieben noch mitgerissen, was ihm vermutlich nicht recht war, aber es hat sich nun mal nicht anders ergeben. Für sein Leben war alles, was er tat, sinnlos, jeder heutige Freizeitpsychologe könnte ihm Besseres raten — aber ich glaube, dass er aufrichtig war. Er hat nichts geändert, er hat nur getan, was er am besten konnte: auf verdammt hohem Niveau schreiben.

Seine Bücher sind ernst, meist sogar tragisch, es geht viel um die Schmerzen des Künstlers, an denen er sicher selbst litt, und gegen die er mit einem Schnäpschen am Morgen anging, das er sich ins Arbeitszimmer hinterhertragen ließ. Wenn man sich auf den Tonfall einlässt, findet man an allen Ecken und Enden was zu grinsen. “Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit” (Der Zauberberg, Vorwort) schickte er mehr oder weniger latent schwule Schreiber in Tod, Elend, Verdammnis, Bedeutungslosigkeit oder mehreres davon, und wenn er es mit seinen letzten paar Freunden verderben musste (in Wälsungenblut die dekadentesten Adelsbengel der Literaturgeschichte im Inzest aufeinanderhetzen! gegen Schluss von Doktor Faustus noch den süßesten aller Himmelsknaben ins Kindergrab senken! anhand allzu leicht entschlüsselbarer realer Vorlagen!) — aber so, wie er es sagt, liegt in allem ein menschlich umfassender Trost. Er hat Epigonen in Legion, aber das konnte nur er.

So gesehen ist er gar nicht so weit weg von Goethe, nur dass seine wenigen Gedichte noch mieser sind. Ver-dichten lag ihm nicht, er brauchte Platz, und davon jede Menge.

Jener Zauberberg und Doktor Faustus gehören zu den paar Büchern erheblichen Umfangs, die ich gleich zweimal durchgehalten hab und nicht anstehen werde, ein drittes Mal zu lesen, was ja alles Lebenszeit bedeutet; wegen dem letzteren hätte ich ums Haar angefangen, Musikwissenschaft zu studieren (Kontrabass vielleicht, Kontrabass ist cool. Im Seniorenstudium vielleicht), und im Tod in Venedig, der uns allen einst zahlreiche Deutschstunden sinnlos verlängern half, tritt eine Nebenfigur auf, und zwar zwei Mal, die er beim ersten Mal unnötig lang und breit beschreibt. Beim zweiten Mal noch einmal — aber jetzt mit einem vollständig anderen Wortschatz. Man muss sehr genau dabeibleiben, um überhaupt mitzukriegen, dass es die gleiche Person ist. Diese beiden Stellen haben mich, der ich über der Kunst der Personen- und Landschaftsbeschreibung die Vorzüge des Mediums Comic schätzen gelernt habe, sogar noch einmal zu Karl May getragen, der seine zusammenerfundene Schießbude der amerikanischen Great Plains mit einer sächselnden Geisterbahn bevölkert hat. Und es wurde besser davon. Ob Thomas Mann das gewollt hätte?

Es war sicher nicht seine Absicht, wohl aber sein Verdienst. Wahrscheinlich hätte er sich das dünne Haar gerauft und es als weiteres Zeichen künstlerischen Scheiterns gedeutet, oder schlimmer: von Missachtung und Unverständnis selbst noch des interessierten Publikums. Mein Wohlwollen für Vater Thomas Mann ist angelernt, aber solide, helfen kann ich ihm aber nicht. Und seine Künstlerschmerzen sind so echt wie die leise laufenden Tränen über seinem etwas verkniffenen, zwanghaft ironischen Lächeln.

Und das rettet ihn. Der Mann ist — leider — gut.

1929, vor 80 Jahren, bekam er seinen zähneknirschend angenommenen Nobelpreis. Von seiner Reise nach Schweden stammt ein Pressefoto, das ihn mit seiner Frau Katia am Bahnhof zeigt.

“Ja grüß Sie Gott, Herr Mann! Gut, dass wir Sie hier treffen. Wollen Sie nicht kurz mit Ihrer Frau für eine Photographie posieren?”

“Wir haben leider nicht viel Zeit, junger Mann. Die Bahn fährt auch ohne uns ab, wenn Sie verstehen.”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Stellen Sie sich einfach hier auf und tun Sie so, als ob Sie Ihre Frau leiden könnten, es dauert ja nicht lange, ha, ha, ha…”

“Mir scheint, wir haben es hier mit einem Scherzbold zu schaffen, meine liebe Katia. Wir wollen ihm den Gefallen tun.”

“Belieben Sie doch gefälligst die werten Beine über Kreuz zu stellen, Herr Mann! Das wirkt sicher besonders intelligent!”

“Etwa so, junger Freund?”

“Ganz famos, Herr Mann! Man merkt sogleich den Fachmann, wenn ich so sagen darf, Herr Mann! Und rücken Sie doch Ihr kleidsames Henkelkissen ins Bild! Das weist Sie als besonders ausgebufften Weltreisenden aus!”

“Ganz wie meinen. Nun muss es dennoch genügen. Die Bahn, Sie wissen…”

“Selbstverständlich, Herr Mann! Wir haben Sie bereits ‘im Kasten’, wie wir Pressephotographen sagen. Haben Sie recht vielen Dank und viel Glück auf Ihrer Reise!”

So springt Deutschland mit seinen Helden um. Der Stern hat das Bild Ende 2001 aus den Tiefen des Ullstein Bilderdienstes ans Licht gezerrt, und selber bin ich ja auch nicht besser. Und Sie speichern es wahrscheinlich und empfehlen es als funny forward herum, wenn sich schon mal dergleichen von einem Dichterfürsten findet. Alles für die Kunst. Das hängt ihm jetzt 80 Jahre lang nach, dem Mann.

Heute wird er 134. Vielleicht waren das Gründe genug, 2010 zu einem kleinen Thomas-Mann-Jahr auszurufen. Der Buchhandel arbeitet zweifellos fieberhaft dran.

Thomas und Katia Mann 1929, Stern 51, 2001

Der Mann und seine Frau: Thomas und Katia Mann, Berlin 1929: Ullstein Bilderdienst für den Stern 51/2001.
Bildunterschrift: “Thomas Mann und seine Frau Katia 1929 in Berlin. Der Dichter mit Hut, Stock und Henkelkissen erhält in diesem Jahr den Nobelpreis.”

Written by Wolf

5. June 2009 at 12:01 am

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Powerpoint zur teutschen Litteratur des 19. Jahrhunderts

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Update zu Entschluss, Amerikas Goethe zu werden:

Johann Wolfgang (von) Goethe August (von) Goethe

Johann Wolfgang (von) Goethe Johann Heinrich Voß

Johann Heinrich Voß Achim von Arnim

Achim von Arnim Clemens Brentano

Clemens Brentano Bettine Brentano

Clemens Brentano Achim von Arnim

Bettine Brentano Achim von Arnim

Achim von Arnim August (von) Goethe

Bettine von Arnim geb. Brentano Johann Wolfgang (von) Goethe

Written by Wolf

31. March 2009 at 3:24 am

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An Gorta Mór

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Elke macht preußische und irische Kulturgeschichte:

Elke Hegewald„Wat der Bauer nich kennt, det frissta nich“, musste schon der Alte Fritz vor über zweieinhalb Jahrhunderten zur Kenntnis nehmen. Denn seine preußischen Bäuerlein wollten um nichts in der Welt die Kartoffel, dieses seltsame Gewächs aus der Neuen Welt, auf ihren Äckern anbauen. So beschloss er kraft seiner Wassersuppe ohne Kartoffeln und kraft kaiserlicher Befugnis, seine Untertanen zu ihrem Glück zu zwingen. Zumal selbige sich ungefragt und stetig vermehrten und zudem immer wieder Hungersnöte durchs Land marodierten, denen es etwas entgegenzusetzen galt.

Am 24. März 1756, fast auf den Tag genau vor 253 Jahren, ordnete also Friedrich II. per Kartoffelbefehl an, dass auf den brandenburgischen Feldern das knollige Saatgut aus- und zur Ernte zu bringen sei:

Wo nur ein leerer Platz zu finden ist, soll die Kartoffel angebaut werden, da diese Frucht nicht allein sehr nützlich zu gebrauchen, sondern auch dergestalt ergiebig ist, daß die darauf verwendete Mühe sehr gut belohnt wird. (…) Übrigens müßt ihr es beym bloßen Bekanntwerden der Instruction nicht bewenden, sondern durch die Land-Dragoner und andere Creißbediente Anfang May revidieren lassen, ob auch Fleiß bey der Anpflantzung gebraucht worden, wie Ihr denn auch selbst bey Euren Bereysungen untersuchen müsset, ob man sich deren Anpflantzung angelegen seyn lasse.

Friedrich II.: Circular Ordre. 24. März 1756

Immerhin dauerte es auch danach noch etliche Verordnungen und an die dreißig Jahre, bis der nahrhafte, wohlschmeckende Erdapfel sich in deutschen Landen durchgesetzt hatte. Mjamm, und was wären wir heut ohne ihn.

Robert Warthmüller, Der König überall, 1886

In Irland geschah Umgekehrtes. Die Kartoffel, von der dort heute im Gegensatz zu anderen Gegenden keiner mehr so recht weiß, wie sie da hingekommen ist (die Legenden reichen bis zu Plünderungen der Vorräte aus gestrandeten Wracks der besiegten spanischen Armada), hatte die Bevölkerungsexplosion zur Folge statt zur Ursache. Sie war schon am Ende des 17. Jahrhunderts zum billigen und fruchtbaren Sattmacher auf der Grünen Insel geworden, wo die kleinen Pächter unter den Abgaben an Getreide und Tierprodukten für die britischen Landlords stöhnten.

Die existenzielle Abhängigkeit vom Knollenanbau war durch die herrschenden Zustände quasi selbst gemacht. Und führte auf dem durch die britischen Zollschutzmaßnahmen zur Agrarregion degradierten Eiland zusammen mit der Wirtschaftspolitik der englischen Herrscher 1845–1849 in eine nationale Tragödie: Die aus Nordamerika eingeschleppte Kartoffelfäule (blight) vernichtete mehrere Jahre hintereinander die Ernte und verursachte die Große Hungersnot (The Great Famine), von den Iren in ihrem Gälisch An Gorta Mór oder auch An Drochshaol genannt. Unter diesem Namen ist das Drama in die Geschichte und tief in das Gedächtnis des Volkes eingegangen.

Die Folgen waren katastrophal. Die kleinen Pächter, welche weiterhin die geforderte volle Pacht an Exportgütern den Engländern in den Rachen werfen mussten, konnten selbige nicht mehr aufbringen. Sie wurden zu Tausenden mit Gewalt von Haus und Hof vertrieben. Die berüchtigten Brecheisenbrigaden unter Polizeischutz rissen – wie beim Ballinglass Incident — ihre Häuser nieder, den Nachbarn wurde verboten, sie zu beherbergen. Sie irrten im Land umher, strömten in die Städte und krepierten am Wegesrand an Hunger und Seuchen. Und die so notwendige Hilfe für das zugrunde gehende Volk der Iren zerfaserte zu einem erheblichen Teil in politischen Grabenkämpfen auf der Mutterinsel. Auf- und Widerstand gegen das Elend und die Abhängigkeit von den Briten formierten sich, wurden jedoch leicht niedergeschlagen. Nicht ohne eine Saat zu hinterlassen, aus der dereinst ganz anderes als Kartoffeln wachsen sollte.

Den Hungernden blieben zwei Möglichkeiten: sterben oder auswandern. Für viele wurde die Kleinkriminalität zu einem Ausweg, der Deportation nach Australien hieß. Vielleicht sind sie unterwegs einem Nantucketer Walfänger begegnet. Andere vielleicht nicht, die versuchten, mit Kind und Kegel ihr Glück in Kanada und den USA zu finden. And Thousands were sailing — gen Westen.

Henry Doyle, Emigrants Leave Ireland, 1868The island it is silent now
But the ghosts still haunt the waves
And the torch lights up a famished man
Who fortune could not save

Did you work upon the railroad
Did you rid the streets of crime
Were your dollars from the white house
Were they from the five and dime

Did the old songs taunt or cheer you
And did they still make you cry
Did you count the months and years
Or did your teardrops quickly dry

Ah, no, says he, ’twas not to be
On a coffin ship I came here
And I never even got so far
That they could change my name

Thousands are sailing
Across the western ocean
To a land of opportunity
That some of them will never see
Fortune prevailing
Across the western ocean
Their bellies full
Their spirits free
They’ll break the chains of poverty
And they’ll dance

In Manhattan’s desert twilight
In the death of afternoon
We stepped hand in hand on Broadway
Like the first man on the moon

And “The Blackbird” broke the silence
As you whistled it so sweet
And in Brendan Behan’s footsteps
I danced up and down the street

Then we said goodnight to Broadway
Giving it our best regards
Tipped our hats to Mister Cohan
Dear old Times Square’s favorite bard

Then we raised a glass to JFK
And a dozen more besides
When I got back to my empty room
I suppose I must have cried

Thousands are sailing
Again across the ocean
Where the hand of opportunity
Draws tickets in a lottery
Postcards we’re mailing
Of sky-blue skies and oceans
From rooms the daylight never sees
Where lights don’t glow on Christmas trees
But we dance to the music
And we dance

Thousands are sailing
Across the western ocean
Where the hand of opportunity
Draws tickets in a lottery
Where e’er we go, we celebrate
The land that makes us refugees
From fear of Priests with empty plates
From guilt and weeping effigies
And we dance

Phil Chevron for The Pogues
on If I Should Fall From Grace With God, 1988

Und gerieten damit oft genug doch nur vom Regen in die Traufe. Geschwächt durch Hunger, Krankheit und Seuchen überlebte ein großer Teil von ihnen die unsäglichen hygienischen Zustände und die Überfahrt auf den meist katastrophal ausgestatteten Emigrantenseglern nicht. Auf manchen Schiffen starben bis zu 40% der Hoffnungssuchenden. Was ihnen den Namen Coffin Ships eintrug und in den Wahlländern den Empfang mit offenen Armen für die Einwanderer erheblich in Grenzen hielt.

Den Ihren, die es auch nach der Landung nicht mehr geschafft haben, konnten die Iren wenigstens Denkmäler setzen. Auf solchen ist dann wie auf Kanadas Grosse Isle etwa zu lesen:

Thousands of the children of the Gael were lost on this island while fleeing from foreign tyrannical laws and an artificial famine in the years 1847–8. God bless them. God save Ireland!

Das hielt auch den Unmut und Kampfgeist wach. Wahrscheinlich ebenso wie die Tatsache, dass die Kinder der Grünen Insel im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ganz, ganz unten anzufangen hatten. Wie der Umstand, dass sie die schwerste, dreckigste Arbeit zu dreckigsten Löhnen taten und sich in der einheimischen Arbeiterschaft damit alles andere als Freunde schufen. Wie der aus trauriger Wahrheit entstandene geflügelte Sarkasmus, dass unter jeder amerikanischen Eisenbahnschwelle ein Ire begraben ist. Wie der nahezu völlige Untergang der gälischen Muttersprache unter den Auswanderern und das mit den Hungertoten unwiederbringliche Dahinsterben eines Teils ihrer kulturellen Identität. Wie der Kampf auf der richtigen Seite des amerikanischen Bürgerkrieges — als Warm-up für den eigenen.

Über zwei Millionen Iren kehrten in den zehn Jahren nach dem Beginn von An Gorta Mór in einem schmerzhaften Exodus ihrer Heimat den Rücken. Dazu zähle man die geschätzte Million der Toten. Und konstatiere, dass im Jahre 1841 das kleine Völkchen seine höchste Bevölkerungszahl ever von 8,1 Millionen und bei anhaltender Auswanderung 1901 mit 3,5 Millionen irischer Iren ihren Tiefpunkt und somit etwa die Einwohnerzahl einer Stadt wie Berlin erreicht hatte. Dann erschauert man schon heftig, wie dicht eine Nationalität, unverwechselbar wie jede andere auch, samt ihrer so sympathischen Kultur an den Rand des Aussterbens gebracht werden konnte, oder? Selbst heute reicht der Bevölkerungsstand der gesamten Insel noch bei weitem nicht wieder an den vor der Großen Hungersnot heran.

Vielleicht ist deshalb der Zusammenhalt der Iren überall in der Welt so groß, wie auch ihr Bewusstsein, wo sie herkommen. Sie halten die Erinnerung an das Schicksal ihrer Vorfahren in sich und ihren Kindern am Leben. – Wer nix davon weiß, darf sich gerne an einer kleinen Geschichtslektion via Youtube-Bildungsfernsehen erproben:

Und wer nicht glaubt, wie tief ihnen das alles nach Generationen heute noch geht, der höre gefälligst nur einmal auf ihre Hingabe und Inbrunst beim Absingen der Fields of Athenry beim Konzert ihrer Lieblings-Folkband oder in der irischen Fankurve eines Fußball- oder Rugby-Stadions.

The Jeanie Johnston

The Jeanie Johnston was the most famous of all the Irish emigrant ships.

It was a well-run ship and unlike other ‘coffin ships’ of its time, the Jeanie Johnston never lost a passenger to either the sea or disease.

The Jeanie Johnston was built in Quebec in Canada in 1847. It was purchased by Nicholas Donovan, a merchant from Tralee in CountyKerry, as a cargo cum passenger ship. He used the vessel to import timber and foodstuffs to Ireland and transported passengers on the return journey to U S and Canada.

The Jeanie Johnston made at least 16 voyages from Tralee to Baltimore, NY and Quebec between 1848 and 1855, carrying 200 passengers & a crew of 17 on each voyage lasting approx. 47 days.

Jeanie Johnston in Story Finder

Bilder: Robert Warthmüller: Der König überall, 1886;
Henry Doyle: Emigrants Leave Ireland, 1868;
Jeanie Johnston: Pilgrims Passages, 2007.
Videos: British Pathe Limited.

Extra recommendation for the annotated Pogues lyrics on Poguetry!

Written by Wolf

29. March 2009 at 12:01 am

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We are the masters; otherwise there could be no poetry

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Update und Abschluss des Februargewinnspiels: It means just what I choose it to mean:

The Complete Illustrated Lewis CarrollIhr schafft mich. Der Monat fängt grandios an. Obgleich sich wieder “nur ” die üblichen Verdächtigen am zweiten Februargewinnspiel des Jahres auf Moby-Dick™ beteiligt haben, weiß ich jetzt wenigstens wieder, warum diese Leute hier unbesehen und unkorrigiert mitschreiben dürfen: because they can.

Die Aufgabe, in Anknüpfung an Lewis Carrolls so hoch- wie tiefphilosophischen Originaldialog einen Dialog zwischen Humpty Dumpty und einer weiteren Figur eigener Wahl philosophischen Inhalts zu erstellen, der mich zum Grinsen bringt, wurde von beiden vorbildlich bewältigt. In eine echte Gewissensnot stürzen sie mich deshalb bei der Preisverteilung: Was schämen sollte ich mich, dass ich für beide eingegangenen Beiträge nur einen Preis und, na gut, einen Trostpreis zu vergeben hab. Ich hab mir die Überlegung nicht leicht gemacht und mach jetzt trotzdem einfach irgendwas, weil es eine richtige, unanfechtbare Lösung nicht geben kann. Aben sich sowieso beide rausgeredet, dass sie gar nix wollen und ja nur außer Konkurrenz laufen. Das habt ihr jetzt.

Und das für ausgerechnet Humpty Dumpty, der bei aller Arroganz immer noch verbreitet:

“When I make a word do a lot of work like that,” said Humpty Dumpty, “I always pay it extra.”

“Oh!” said Alice. She was much too puzzled to make any other remark.

“Ah, you should see ’em come round me of a Saturday night,” Humpty Dumpty went on, wagging his head gravely from side to side, “for to get their wages, you know.”

Aber

Alice didn’t venture to ask what he paid them with; and so you see I ca’n’t tell you.

Außerdem besteht nur eine halbe Verpflichtung gegenüber Worten, wie Roger W. Holmes in The Philosopher’s Alice in Wonderland, The Antioch Review, Vol. XIX, No. 2, Summer 1959 ausführt:

One thinks of a Soviet delegate using ‘democracy’ in a UN debate. May we pay our words extra, or is this the stuff that propaganda is made of? Do we have an obligation to past usage? In one sense words are our masters, or communication would be impossible. In another we are the masters; otherwise there could be no poetry.

Der Trostpreis, eine kleine, schmucke Insel-Ausgabe Alice hinter den Spiegeln, das ist der zweite der beiden Alice-Romane von Lewis Carroll, in dem Humpty Dumpty vorkommt (in der Übersetzung von Christian Enzensberger: Goggelmoggel), geht an Jürgen, welcher da schreibt:

Ein Dutzend Eier reicht noch nicht!

Jürgen Jessebird SchmitteHumpty-Dumpty saß am Rand einer Klippe und ließ seine dünnen Beinchen über dem aufgewühlten Meer baumeln. Just in diesem Moment kam ein großer Wal vorbei geschwommen.
„Hallo, Humpty-Dumpty,“ sagte er. Der Wal hatte eine tiefe und angenehm klingende Stimme, ein klein wenig näselnd, aber das überrascht ja nicht, wenn man sich seine anatomischen Eigenheiten vor Augen führt.
„Ich grüße dich, Moby-Dick,“ erwiderte das Ei. Auch Humpty-Dumpty hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. Und auch er – wen wundert’s – näselte ein bisschen.
„Fürchtest du dich gar nicht?“ wollte Moby-Dick wissen, denn er war so gewaltig, dass er fast bis an den Rand der Klippe und damit an Humpty-Dumptys Füße heranreichte.

„Wovor sollte ich mich fürchten?“

„Nun, ich könnte dich … zerbrechen!“
„Ach, das! Nein. Nein, das Ende meiner Existenz als Ei ist nicht möglich.“
„Nicht möglich!? Was soll das heißen? Bist du etwa unsterblich?“
„Natürlich! Ebenso wie du und jeder andere. Obwohl für ‘mich’ nur ‘ich’ unsterblich bin. Für dich sieht es vielleicht nicht so aus. Aber das kann mir ja egal sein.“
Der Wal schüttelte sich, dass die Gischt wie ein Regenschauer über Humpty-Dumpty niederging.
„Hmmhmm – ich glaube nicht, dass ich das verstehe!“
Das Ei rückte noch ein klein wenig näher an den Rand der Klippe und schaute auf den großen weißen Wal hinab.
„Wenn du auf dem Meer schwimmst und sagen wir, irgendwann nach links abbiegst, einfach so.“
„Backbord, aye.“

„Meinethalben auch backbord. Jedenfalls hättest du da ebenso gut nach rechts – also, äh, steuerbord abdrehen können? Nicht wahr?“
Der Wal hätte die Achseln gezuckt, hätte er welche gehabt. So runzelte er nur die Stirn.
„Hätte ich machen können. Warum?“
„Glaubst du, dass du die Welt verändert hast, dadurch, dass du nach backbord statt nach steuerbord geschwommen bist?“
Moby-Dick kniff seine ohnehin schon kleinen Augen zusammen.
„Die Welt verändert? Na, vielleicht. Vielleicht hat ein Tintenfisch auf meiner Steuerbordseite Glück gehabt und wird nicht gefressen, kann Nachwuchs kriegen und in Ruhe alt werden. Und der auf der Backbordseite eben nicht. Meinst du das mit ‘Welt verändern’?“
Humpty-Dumpty lachte übers ganze Gesicht. „Genau, du alter Rollmops, genau das meine ich! Und genau das ist eben nicht so! Statt dessen hast du gewählt in welcher Welt du leben willst.“
„In welcher Welt…?“ Moby-Dick war so verwirrt, dass er die Sache mit dem Rollmops einfach durchgehen ließ. „Was meinst du damit? Wie viele Welten gibt es denn bitteschön?“

„Unendlich viele! Das ist ja das wunderbare! Mit jeder bewussten oder unbewussten Entscheidung erzeugst du neue Wirklichkeiten! Schau her…“
Humpty-Dumpty schnippte einen kleinen Kieselstein ins Meer.
„In dieser Welt habe ich mich entschieden, den Stein ins Meer zu werfen. In einer anderen habe ich es nicht getan. Und dann gibt es noch eine Menge anderer Möglichkeiten, in denen ich den Stein vielleicht nur an eine andere Stelle gelegt habe oder hinuntergeschluckt oder auf dich geworfen oder…“
„Ich habe es begriffen! Aber was soll das alles?“
„Nun, das großartige ist, dass ‘ich’ in allen dieser Welten existiere! Es gibt unendlich viele Versionen von mir. Ich manchen Welten bin ich schon zerbrochen worden, zu Rührei oder Spiegelei geworden, für Pfannkuchen verwendet oder zum Frühstück verspeist worden. ‘Ich’ bin schon tausendmal gestorben. Und doch bin ‘ich’ noch immer hier. Denn wenn ich irgendwo sterbe, dann hört diese Realität einfach für ‘mich’ auf. Du könntest mich jetzt zerbrechen. Dann würde ich in dieser Welt, in der wir beide uns unterhalten, sterben. Du würdest das sehen und die Konsequenzen tragen. Ich aber bin einfach fort. Und in einer anderen Realität würden wir uns weiter unterhalten, denn dort ist nichts geschehen!“
Moby-Dick schwamm ein paar Hundert Meter ins offene Meer hinaus.
„Darüber muss ich nachdenken…“
„War schön, mit dir zu plaudern!“ rief Humpty-Dumpty ihm hinterher und wedelte mit seinen Ärmchen in der Luft. Moby-Dick sah nicht mehr, wie das Ei das Gleichgewicht verlor, über die Klippenkante stürzte und in tausend Teile zersprang…

Elke HegewaldDer Hauptpreis, ein schnulli erhaltenes Exemplar The Complete Illustrated Lewis Carroll, geht an Elke für ihre Fortsetzung:

Hinter den Spiegeln und auf allen Meeren

segelschiff-1

buchstabe-n2-zuatürlich war er nicht zersprungen, der kleine, beinebaumelnde Humpty Dumpty mit seiner großen Arroganz und zur Schau getragenen Besserwisserei. Jedenfalls nicht in meiner (einen) Welt hier. Obwohl die ja eher als alle andern diejenige ist, in der die Unordnung eines verschütteten Potts Kaffee nicht wieder in die Ordnung einer Tasse voll der köstlich duftenden und dampfenden Morgenerweckung zurückschwappen kann. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik. Was wollt ihr, stinknormale Entropie das. Aber ich schweife schon wieder ab.

Zurück zu unserer Geschichte. Was also war aus Humpty Dumpty geworden, als der Wal ihm den Rücken gekehrt hatte, aus seinem Übermut nach dem Hochmut – und nach dem Fall?

Er war haarscharf an den spitzen Zacken der Klippe vorbeigesaust und in die salzigen Fluten des Meeres gefallen. In panischer Angst vor dem Ertrinken und ohne auch nur den leistesten Gedanken an die Unsterblichkeit in seinem Eierkopf rief er noch Moby-Dick um Hilfe – vergeblich. Das Rauschen der Wellen verschluckte sein Näselstimmchen.

mermaid-romant-via-never-sea-landDoch er ging nicht unter. Nachdem er hilflos eine Weile in den unendlichen Ozean hinausgetrieben war und kurz bevor er zum Solei wurde, verhedderte er sich in den Maschen eines Fischernetzes. – Die Mannschaft des Segelschiffes, auf dessen Bordwand er für einen Moment den Namen “Pequod” lesen konnte, fing gerade ihr Abendbrot. Die Männer hatten alle Hände voll zu tun mit den zappelnden Fischen auf den Planken und keiner von ihnen bemerkte Humpty Dumpty, der unbeachtet gegen eine Taurolle kullerte, die mittschiffs herumlag. In der machte er es sich gemütlich und schlief nach der ganzen Aufregung augenblicklich ein…

Er erwacht im ersten Morgenrot mit dem Gesicht in Richtung Heck. Und reibt sich ungläubig die Augen – eine Geste, die er bei sich selber durchaus unüblich nennen würde. Dort achtern hockt im dämmerigen Gegenlicht ein Mädchen, spärlich bekleidet und mit nassen Haaren bis zum Po, aus denen es gerade das Wasser zu wringen sucht. – Eine Seejungfrau? Eine echte Mermaid…?

So schnell ihn seine dünnen Beinchen tragen, eilt er zu ihr. Und schafft es irgendwie, wenn schon nicht auf ihren Schoß, so doch wenigstens auf ihre Handfläche zu klettern.

“Wer bist du, wie kommst du hierher? Und was willst du hier?”

Sie bläst sich eine Locke aus der Stirn:
“Auf einem Wal bin ich hergeritten. Und was soll ich hier schon wollen – mitsegeln!”

Durch ihren nahen Anblick verwirrt, entgeht ihm völlig, dass sie die Frage nach ihrer Herkunft elegant ignoriert.

“Das hier ist ein Walfänger, voller rauer Kerle, die mit Harpunen und Walspeck um sich werfen. Da ist kein Platz für so ein junges, hübsches Ding…”

“Wer sagt das? Du? Bist du der Kapitän? Oder Gott? Dann herzliches Beileid, denn im Masttopp sind letzthin entrückte Pantheisten gesichtet worden. Die wissen nix von von Gott in persona. Ha, und wie so ein melancholisches Träumerle da oben “sein Ich [vergessen] und die mystische See zu seinen Füßen für das sichtbare Abbild jener tiefen, blauen, unergründlichen Seele [halten], die Menschheit und Natur durchdringt”* – das kann ich auch, träumen sowieso. Im übrigen bin ich älter als du denkst…”

“Mit solchen Traumtänzereien wirst du aber hier keinen Ruhm abräumen. Auf sowas wie dich hat der Kapitän gerade gewartet, Mädchen.”

“Seltsam, dass gerade du von Ruhm sprichst. Du warst doch der, der solche Wortblasen genau das bedeuten lässt, was er draus macht, und nichts anderes – oder?”

“Öh… woher weißt du…? Nun, dann nennen wir es Nützlichsein, Pflichterfüllung… Sagen wir nicht Ruhm, sondern…hm, Glück – durch Einsicht zum Beispiel oder den guten Zweck. Glückseligkeit ist sowieso solch ein Wort, dass viel besser zu euch Mädchen passt.”

Humpty Dumpty schickt einen Blick, in dem gespanntes Lauern und ein kleines Grübeln miteinander uneins sind, zu ihr hinüber. Sie rollt sich auf den Bauch, balanciert ihn vorsichtig zwischen den Fingern und schaut ihm geradewegs in die Augen:

“Jaah, jaah, blaaablaaa! Vom heldischen “A man’s gotta do what a man’s gotta do” bis zum Ruhm ist’s ja bei euch Kerlen nicht weit. Schlepp ruhig den alten Kant auch noch hier an: wem planvolles Handeln fehlt, der wird zur Beute seiner Triebe! Pflichterfüllung! Pffft… frag mal den alten Ahab, wie der die für sich zurchtgezimmert hat – und seinem vernichtenden Trieb doch Sklave ist. Hatten wir hier alles schon mal. Euch kommt immer euer krankes Ego dazwischen.”

humpty_dumpty-pic-art-von-mc-partlin1

“Was weißt du schon vom alten Ahab! Und deine Argumente und deine Logik sind keine, sind… sind Weiberlogik! Die passt in k e i n e Welt.”

“Tsss… was weißt du schon von uns Weibern! Hast nicht mal ‘ne Taille – von einem knackigen Hintern ganz zu schweigen. Wer kleine Mädchen beeindrucken kann, ist noch lange kein Frauenversteher. — Logik? Ach geh, als hättest ausgerechnet du die erfunden. Und selbst wenn – mehr fällt dir dazu nicht ein? Du warst doch immer so spitzfindig wortgewandt in deinem Humpty-Dumptyismus. Ich glaube, du lässt nach, Eiermännchen. Ist das das Alter?”

“Das kommt nur, weil du mich so durcheinander bringst, bin ja schon ganz wirr im Kopf.. Aber das Wort Humpty-Dumptyismus gefällt mir, trotz deiner Respektlosigkeit, Kleines. Und die Frage ist immer noch, wer…”

“Hach, humpty dumpty du doch, was du willst, ich bleib jedenfalls hier. Das mit den Kerls krieg ich schon hin… – Kennst du das Lied von der Seeräuber-Jenny? Oder das von der Dirne Evelyn Roe, das der alte Seebär-Busch gesungen hat?”old_humpty_dumpty-zustre

“Unterbrich mich nicht dauernd. Frauen! Die Frage ist immer noch… Waaas? – Seeräuber-Jenny? Evelyn Roe?? Himmel! Du willst doch nicht enden wie d i e?”

“Hab ich das gesagt? Ich hab nur gefragt, ob du die kennst. I c h meine immer noch, was ich sag. Tsss, und das dir! Magst du etwa keine Piratenlieder? Hey, nu reg dich mal nicht so auf, ich hab mir schon immer meine Wirklichkeit selber erfunden – und ‘ne Menge dabei gelernt. Du doch auch. Keine Angst, ich komm schon nicht unter die Räder… öhm, Wellen.”

“Du machst mich noch wahnsinnig, Mädchen. Nach Wörtern, meinetwegen sogar Worten die Wirklichkeit humpty-dumptyisch aussehen zu lassen, ist nicht alles. Die Frage ist…”

“Und du willst beim alten Carroll gelernt haben? – Wirklichkeit kann man nicht aussehen lassen – die ist das, was wirkt, deswegen heißt sie ja auch so. Na, und bin ich etwa keine?”

“Und was für eine! Ich weiß schon nicht mehr, was real und was Fantasie ist. Aber hast du denn noch nie etwas von der wahren Welt gehört?”

“Wahre Welt? Was soll das sein? Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners – ist leider nicht von mir, könnte aber von mir sein. Und real ist nicht wirklich, du Superwortverdreher. Wirklich ist nur das, was wir von der Realität wissen – wenn es überhaupt eine gibt…”

“Hör auf! Die Frage ist doch, ob du…”

“Die Frage ist, wer die Macht hat – und das ist alles. Tja, hab ich von dir gelernt.”

“Du bist… bist doch nicht… Vorsicht! Neiiiiiiin….!”

Weiter kommt er nicht. Beim Hervorbrechen der ersten Sonnenstrahlen hinterm Horizont hat sie, unbeschwert und spontan, wie es Mädchen nun mal tun, ihre Hand gehoben, die Augen abzuschirmen. Die Hand, auf der das Ei gesessen hatte. Es gleitet haltlos und nur noch der Schwerkraft gehorchend an ihrem Handgelenk vorbei nach unten. Und zerschellt auf den Planken.

Alice aber tänzelt auf denselben und Barfüßen mit wohlgereihten Zehen nach vorn zum Bug, wo ein einsamer Seemann an der Reling lehnt. Das Schiff krängt ein bisschen nach Lee, gerade genug und gerade rechtzeitig, dass sie das Gleichgewicht verliert und dem Skipper in die hilfreichen Arme fällt. Von dem man im Gegenlicht nicht erkennen kann, ob es der Käpt’n selber ist oder einer von der Mannschaft. – Und keiner ist da, dem auffiele, dass es doch vollkommen windstill ist…

Keiner?

schmitz_mobyMoby-Dick hebt backbord den Kopf aus dem Wasser. Sieht auf das Mädchen, das er letzte Nacht hergetragen hat und das die Geschichte des Skippers, der Pequod und vielleicht auch seine eigene durcheinanderbringen wird. Schaut auf die Eierschalen und den klebrigen Fleck, der unter der südlichen Sonne zu trocknen beginnt. “Soviel zum ‘Weltverändern’, Eierkopp – wir sehn uns in deiner nächsten.”

Er überlegt ein bisschen, ob die alten Herren Melville und Carroll ihm das hier wohl sehr übel genommen hätten. Stubst noch einmal sanft, doch voller Übermut mit seiner gewaltigen Stirn gegen die Bordwand und schwimmt, den alten Kindervers vor sich hin summend, davon…

“Humpty Dumpty sat on a wall,
Humpty Dumpty had a great fall,
All the King’s horses and all the King’s men,
Couldn’t put Humpty together again.”

*Zitat aus: Herman Melville. Moby-Dick. In der Übersetzung von M. Jendis, Kapitel 35, Seite 266.

Bilder: Segelschiff – via. Mermaid. Tim Thompson, 1999. Via Never Sea Land. “Humpty Dumpty”. James Mc Partlin, 2003 – via Epilogue.net. Humpty Dumpty (modifiziert) – via. Schmunzel-Moby-Dick: keine Ahnung.
Song: Carson Sage and the Black Riders: Sally Brown. Aus: Final Kitchens Blowout. Via wolfgpunkts youtube.

Glückwunsch und falls ihr ihn nicht längst tragt, den Titel B.E.L.U.G.A. (Belesener Experte für Lustige Und Gelehrte Ansichten) für beide!

Written by Wolf

2. March 2009 at 12:01 am

Februargewinnspiel: Drei Leben and still counting

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Update zu Der alte Mann und der Miez:

Katzencontent reloaded und tolle Preise!

Oscar, Unsinkable Sam

Zu den wichtigsten hands auf einem Schiff gehören die paws: Zumindest über die anglophonen Marinen weiß man, dass sie Schiffskatzen nicht nur halten, sondern sie mit Dienstgraden und besseren Sozialleistungen und aufrichtigerem Respekt als unsereinen ausstatten. Unsinkable Sam oder Oscar hieß der Schiffskater gleich dreier Schiffe der Kriegsmarine und der Royal Navy während des Zweiten Weltkrieges. Negativ gesehen brachte er allen dreien kein Glück, positiv gesehen hatte er zumindest diese drei Leben.

Der schwarz-weiß gefleckte Kater war ursprünglich im Besitz eines unbekannten Besatzungsmitglieds der Bismarck. So war er am 18. Mai 1941 dabei, als sie zu ihrem ersten und letzten Einsatz Unternehmen Rheinübung ausfuhr. Die Bismarck wurde nach schwerem Seegefecht am 27. Mai versenkt, bei dem nur 115 von über 2200 Mann überlebten — und der Kater. Stunden später wurde Oscar auf einer Planke treibend aus dem Wasser gefischt. Er war der einzige Überlebende, der vom Zerstörer HMS Cossack (F03) auf dem Heimweg nach Großbritannien aufgegriffen wurde. In Unkenntnis seines Namens und Dienstgrades auf der Bismarck rief man ihn Oscar.

Dort diente er die nächsten Monate auf Einsätzen in Mittelmeer und Nordatlantik, bis die Cossack am 24. Oktober 1941 von einem deutschen Torpedo schwer getroffen und am 26. aufgegeben wurde. Im Gegensatz zu 159 Besatzungsmitgliedern überlebte Oscar und wurde zur Niederlassung in Gibraltar verbracht.

Das trug ihm schon den Kampfnamen Unsinkable Sam ein. Sein nächstes Schiff war der Flugzeugträger HMS Ark Royal (91), der an der Versenkung seines ersten, der Bismarck, beteiligt war. Bis dahin galt die Ark Royal als ausgesprochen glückhaftes Schiff, das trotz mehrerer Treffer immer wieder repariert werden konnte, und kaum kam Oscar, erlag sie am 14. November 1941 gerade mal 30 Seemeilen vor Gibraltar einem Treffer. Immerhin sank sie sehr langsam, so dass alle Mann außer einem gerettet wurden. Das Logbuch der rettenden Schiffe HMS Lightning und HMS Legion, die auch schon der Cossack beigestanden hatten, beschreibt Oscar, wie er erneut auf einer Planke trieb, als “zornig, aber wohlbehalten”. Die Legion sank 1942, die Lightning 1943.

Das besiegelte Oscars Ruf als Unglücksbringer, woraufhin er nicht mehr auf Schiffen zugelassen war. Erst verdingte ihn der Hafenkapitän von Gibraltar als Mäusefänger, danach wurde er in einem Seemannsheim in Belfast gesichtet. 1955 verlieren sich die Zeugnisse über ihn. Das ist 16 Jahre nach seinem ersten Zeugnis. Selbst wenn man unterstellt, dass er schon die Bismarck noch als Welpe verließ, sind das gesegnete drei von sieben Katzenleben.

Natürlich alles gar nicht wahr. Urbane Legende, Spinne in der Yuccapalme, Seemannsgarn. Oder warum sonst erinnerte sich schon niemand auf dem ersten Schiff, der Bismarck — nicht einmal die Ordonnanz — an eine Katze? Warum ist sie auf keiner der zahlreichen erhaltenen Photographien von der Bismarck dokumentiert? Wie hätte ein Tier von der Größe einer Katze ein Rettungsschiff erreichen sollen, dazu noch die typischerweise besonders hohen Wände solcher Typen erklimmen? Die menschlichen Geborgenen mussten sich ölverschmiert bei schwerer See anseilen, und haben Sie mal zugeschaut, wie sich eine durchnässte Katze anstellt? Es ist unwahrscheinlich, dass einer der Männer eine glitschige, strampelnde Katze da zu seinem nackten Leben mit hianufnehmen wollte oder auch nur konnte. Für eine spätere Rettung hätte sie kaum lange genug überlebt. Im Falle der Ark Royal, die sehr langsam unterging, musste niemand aus dem Wrack gerettet werden, die Mannschaft konnte aus eigener Kraft das Schiff verlassen. Warum also sollte eine Katze ins Wasser gesprungen sein, statt sich an Bord zu verstecken?

Und schließlich gibt es zwei verschiedene Darstellungen von Oscar/Unsinkable Sam: die eine da oben mit einer gestreiften (Tabby) und ein Gemälde von Georgina Shaw-Baker: Oscar, the Bismarck’s Cat, im National Maritime Museum Greenwich, das eine Katze im “Smoking” zeigt. Es können nicht beide richtig sein, wohl aber beide falsch. Trau einem Miez.

Das Tabby-Bild war aufzutreiben, nicht aber das mit der Smoking-Katze. Ihre Aufgabe im Februar:
Beschaffen Sie es!

Es kann leicht sein, dass ich mich bei der Recherche nur dusslig angestellt hab. Genausogut kann sein, dass Sie mit dem National Maritime Museum telefonieren müssen und fragen, ob sie Ihnen vielleicht die fragliche Postkarte aus dem Museumsshop schicken. Tun Sie es. Das soll mir wert sein:

  • 1 CD mit 26 Liedern von The Muffs (privater Brand wie gehabt und jetzt schon nicht mehr in dieser Form rekonstruierbar);
  • 1 CD von Carson Sage and the Black Riders (heute What about Carson wie vorgestellt, private Brände):
    • Final Kitchen Blowout (1993);
    • Walk With an Erection (5-song-EP 1993); oder
    • Great Music in Stereo (1995);
  • 1 Kopie Herman Melville: The Lightning-Rod Man auf Deutsch in der Übersetzung von Richard Mummendey, ca. 10 Seiten. Sehr selten und stark nachgefragt; oder
  • 1 Erlaubnis für einen Gastbeitrag auf Moby-Dick™ über was Sie wollen außer Porno und Verherrlichung von Frank Schätzing.

Einsendeschluss für Ihre Bilddatei ist, sagen wir, der 1. März um Mitternacht.

[Edit:] Drei Stunden nach Stellung der Aufgabe war sie gelöst: Elke darf sich einen von ungefähr sechs tollen Preisen aussuchen. Eine weitere Stunde später hat Jürgen noch einen draufgesetzt und Elkes aufgefundenes Bildmaterial über Unsinkable Sam a.k.a. Oscar mit Georgina Shaw Bakers Pastell vervollständigt. Gewonnen haben beide, wir sind hier nicht beim Jauch. Glückwunsch![/Edit]

Unsinkable Sam aka Oscar. Battleship Bismarck. The Legend Lives   Georgina Shaw Baker, Oscar, the Bismarck's Cat. Creature Comforts on the Oceans

Bild: Purr’n’Fur: Cats in Wartime: Ship’s Cats;
Battleship Bismarck: The Legend Lives;
Georgina Shaw Baker: Oscar, the Bismarck’s Cat via Creature Comforts on the Oceans: National Maritime Museum, Greenwich;
Aufmerksamkeit: Vroni.

Soundtrack: Camille: Cats and dogs are not our friends, they just pretend, aus: Music Hole, 2008 (Fanvideo).

Written by Wolf

2. February 2009 at 4:39 am

Posted in Rabe Wolf

Überall ist Entenhausen

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Update zu Proposing a city in which I would not, in fact, be allowed to exist
und Ich verbitte mir solche zoologischen Spitzfindigkeiten! (Eine regelrechte Walschule):

Vielleicht gibt es ja sogar Bielefeld?

Nadja, ca. 2001.

It is not down in any map; true places never are.

Chapter XII: Biographical.

Everything you can think of is true.

Tom Waits/Kathleen Brennan, aus: Alice, 1992/2002.

An seinem 23. Geburtstag traf ihn der Schlag. An der Kasse vom Getränkemarkt, in dem er das Bier für die Feier zahlen wollte, war es plötzlich “so, als hätte jemand die Luft aus meiner linken Körperhälfte gelassen”. Durchblutungsstörung im Gehirn, Schlaganfall, die linke Körperhälfte erschlafft, seine Frau verließ ihn, er konnte seinen Beruf nicht mehr ausüben: Kartograph.

Das war 1969. Statt dessen wurde Jürgen Wollina Diplomingenieur für Landkartentechnik. 1994 wurde alles besser: Da trat er der D.O.N.A.L.D. bei und gründete alsbald die Unterorganisation M.Ü.C.K.E. (Meisterhafte Überarbeitung chaotischer Kartengrundlagen Entenhausens) mit dem Ziel, den einzig wahren Stadt- und Umgebungsplan von Entenhausen zu erstellen [Update: Jetzt mit Wikipedia-Artikel]. Das hat sinnigerweise ziemlich genau 13 Jahre gedauert.

Noch sinnigerer Weise präsentierte Wollina diesen Meilenstein der Kartographie in einer Stadt, die nur unter den wohlwollendsten Definitionsverrenkungen überhaupt existiert, und dann noch zum 31. Kongress auf der Burg und Festung Sparrenberg.

Alles einhändig? Nicht ganz: Wollina gewann außer allerhand Gratisanfeuerung aus donaldistischen Reihen auch Christian Pfeiler, verdientes Mitglied bei S.N.O.W.L.S., anno 2008 f. aktuelle PräsidEnte und beruflich mit Stadtplanung vertraut, als rechte — oder hier passender: linke Hand.

Für das, was im Laufe der Forschung außer dem Stadtplan entstand, wäre das Wort “Nebenprodukt” eine Beschimpfung: Das bildgenaue Barks/Fuchstext-Stichwortregister von 740 DIN A4-Seiten heißt inzwischen respekt- und liebevoll Der Große Wollina. Leider wird die Konkordanz mit ihren 52.313 Stichworten immer noch nicht regulär verlegt — nicht einmal vom hassgeliebten Ehapa —, nur zum Selbstkostenpreis von 85, Leinen mit Silberprägung 120 Euro, von Wollina auf Zuruf hergestellt. Als Sonderheft 45 des Der Donaldist erschien schon mal “Entenhausen deine Brücken”, eine Beschreibung und Darstellung aller 61 Brücken in Entenhausen, die im Werk von Carl Barks vorkommen, mit umfangreichen kartographischen Angaben auf 112 Seiten. Beim Versuch, einen Verleger zu finden, musste sich Wollina angesichts des gemutmaßten Zeitaufwands fragen lassen: “Mal ganz im Vertrauen: Haben Sie gesessen?”

Das Korpus, nach dem geforscht wurde, war spätestens 2000 mit Carl Barks’ Tod abgeschlossen. Sein Gesamtwerk, erhältlich in der Carl Barks Library in 30 Bänden in 10 Schubern, umfasst etwa 700 Entenhausener Berichte. Wollina und Pfeiler analysierten demnach rund 6.500 Seiten — 52.000 Bilder, eins nach dem anderen, auf denen Barks ganz selten einen tatsächlichen Stadtplanausschnitt sichtbar macht. Jede einzelne Erwähnung von Ortsnamen in der Übersetzung von Frau Dr. Erika Fuchs wurde berücksichtigt und ins vorhandene Material eingepasst. Eine Auffassung “Es wird schon irgendwie stimmen” kam nie in Frage.

Das Begleitbuch in Falk-Planoptik zum Stadtplan, der soeben als Sonderheft 55 an die Mitglieder der D.O.N.A.L.D. verschickt wurde, gibt außer einem erschöpfenden Register Wollinas Forschungsgeschichte wieder: die Mühen der Erhebung, Relationierung, die immer wieder auftretenden Widersprüche in Barks’ unanfechtbarem real existierenden Duckiversum, die oft genug nahelegten, den Bettel hinzuschmeißen; gibt es doch kaum etwas Donaldischeres denn Scheitern.

Und dann die Digitalisierung als standardisiertes Bildmaterial. Schließlich mussten Barks’ vorgegebene Bilder aus den Frames gehoben, in plane Perspektive gerückt und auf Maßstab gebracht werden. Ohne CAD-Programmierung mit Pfeilers stadtplanerischen Kenntnissen in Rasterentzerrung wäre das gar nicht möglich gewesen. Wollina dokumentiert es mit anschaulichen Arbeitsproben.

Jürgen Bröker hat Jürgen Wollina für Die Zeit 49 vom 27. November 2008 in seinem Wohnort Pocking interviewt — für die letzten Zweifler: nicht auf der Witzseite Leben, sondern im Teil Wissen — und gleich zwei Artikel daraus gemacht: Ächz!! würdigt die Bedeutung von Wollinas Arbeit, Dem Erpel auf der Spur ihn selbst — und bringt einen sehr schönen, sehr großen Scan des Gesamtplans der lauschigen Weltstadt an der Gumpe von der Vulkaninsel bis zum Großen Erpelsee, von der Big-Dollar-Ranch bis zur Satanszacke, einschließlich sämtlicher bekannten Wohnsitze von Donald Duck, Daisy und Gustav Gans, aller Geldspeicher von Dagobert, aller Laboratorien von Daniel Düsentrieb, aller Brücken sowie aller nachweisbaren Straßennamen und Verläufe der ÖPNV-Linien auf dem Forschungsstand November 2008.

Der einzig wahre Stadt- und Umgebungsplan von Entenhausen im Format DIN A0 quer, gerollt kann beim Kassenwart der D.O.N.A.L.D. für ein Nichts bestellt werden, weil das N in D.O.N.A.L.D. für “Nichtkommerziell” steht.

Bei seiner Projektidee war Wollina 47. Heute wird er 62. Hoffentlich kann er für den Rest seiner Karriere noch anständig Orden für dieses Lebenswerk abstauben, das wäre donaldisch. Noch einmal die Hymne für M.Ü.C.K.E.!

Der einzig wahre Stadt- und Umgebungsplan von Entenhausen

Bild: Jürgen Wollina/Christian Pfeiler/M.Ü.C.K.E./D.O.N.A.L.D., Dezember 2008.

Written by Wolf

30. December 2008 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Moby-Dick – The True Story

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Elke segelt mit Owen Chase: Der Untergang der Essex
und macht ein Update zu Warum liegt hier überhaupt Stroh rum?:

… all their enchanted eyes intent upon the whale, which from side to side strangely vibrating his predestinating head, sent a broad band of overspreading semicircular foam before him as he rushed. Retribution, swift vengeance, eternal malice were in his whole aspect, and spite of all that mortal man could do, the solid white buttress of his forehead smote the ship’s starboard bow, till men and timbers reeled.

Moby-Dick Chapter 135: The Chase–Third Day.

Elke HegewaldEs ist der 15. Dezember 1820. In der endlosen Weite des Pazifik, auf 21° 42′ südlicher Breite.

Die Sonne brennt erbarmungslos auf die zwanzig Schiffbrüchigen in den drei zerbrechlich gewordenen Booten herab. Kein Schutz vor ihren sengenden Strahlen. Der Durst wird immer unerträglicher, schlimmer als der Hunger, aber sie können die winzige tägliche Trinkwasserration nicht noch weiter kürzen. Die Lage der Männer ist verzweifelt, denn seit Tagen herrscht Windstille; sie kommen dem rettenden Land, das über 1000 Seemeilen entfernt liegt, nicht näher und werden immer schwächer. Owen Chase, vor einem Monat noch Erster Maat des stolzen Walfängers Essex aus Nantucket, schreibt auf ein paar lose Blätter aus seiner Seemannskiste, die sein Logbuch sind:

Ständig redeten wir davon, wir müssten “Geduld haben und ausharren”. Wir nahmen uns vor – so fest die Entschlüsse der Seele eben sein können –, uns so lange ans Leben zu klammern, wie uns Hoffnung und die Luft zum Atmen blieben…

Owen Chase: Der Untergang der Essex. Verlag Die Hanse, 2000; Seite 78.

Whaleship EssexOwen Chase ist nicht der Abklatsch eines Starbuck aus einem billigen Vor-Melville und erst recht kein Ismael. Nein, den gab es wirklich. Und seine Geschichte ist kein Roman mit ausgeklügelter Dramaturgie, sondern der schlichte Bericht eines whaleman und unfreiwilligen Chronisten vom realen Untergang seines Schiffes und der Tragödie danach, die nur acht von zwanzig Seeleuten überstanden. Von einem Geschehen freilich, nie dagewesen und so unvorstellbar, dass die kollektive Erinnerung der über hundertjährigen Geschichte des Walfangs von Neuengland kein Beispiel dafür kannte: Am 20. November 1820 hatte ein riesiger Pottwal westlich der Galapagos-Inseln die Essex angegriffen, sie mit seiner gewaltigen Stirn zweimal gerammt und zum Sinken gebracht. Chase, rechte Hand seines Kapitäns George Pollard und Walbootführer, gehörte zu den Überlebenden der darauffolgenden monatelangen Strapazen.

Im Spätherbst 1821 veröffentlichte er, nach Nantucket zurückgekehrt, seine Aufzeichnungen von der Odyssee unter dem unaussprechlichen Titel

Owen Chase‘s Narrative of the Most Extraordinary and Distressing Shipwreck of the Whale-Ship Essex, of Nantucket; Which was Attacked and Finally Destroyed by a Large Spermaceti-Whale, in the Pacific Ocean; with An Account of the Unparalleled Sufferings of the Captain and Crew During a Space of Ninety-Three Days at Sea in Open Boats; in the Years 1819 & 1820.

in dem schon das ganze Buch steckte. Und man darf darüber spekulieren, ob es der authentische Bericht aus dem Boot war, womöglich dezent lektoriert, oder ob er – was bei einem whaleman, der die Harpune besser als die Feder führt, wahrscheinlicher ist – einen andern die Arbeit tun ließ. Bei Nathaniel Philbrick wird ein gewisser William Coffin, Jr. als Ghostwriter gehandelt (auch auf deutsch), und in Melvilles Randnotizen an seinem eigenen Owen Chase heißt es:

There seems no reason to suppose that Owen Chase himself wrote the Narrative. It bears obvious tokens of having been written for him; but at the same time, its whole air plainly evinces that it was carefully and conscientiously written to Owen’s dictation of the facts.

Owen ChaseVon der Auflagenhöhe des Chase-Berichtes weiß man ja nix. Aber es fielen wohl auch ein paar Exemplare für den Familienclan ab, was für die Weltliteratur späterhin noch ein Segen werden sollte.

Denn 20 Jahre später geriet eins von denen in die Hände des Waljäger-Greenhorns und künftigen Schriftstellers Herman Melville und beeindruckte ihn so nachhaltig, dass der Angriff des tobenden Wals ihm zur Inspiration für den Handlungshöhepunkt seines dereinst berühmtesten Roman geriet. Frisch auf dem Walfänger Acushnet angeheuert, begegnete er 1841 mitten im Pazifik, sogar in der Nähe des Ortes, an dem die Essex untergegangen war, dem sechzehnjährigen William Chase, der auf dem Nantucketer Walschoner Lima unterwegs und der Sohn von Owen Chase höchstpersönlich war. Der hatte das Büchlein seines Vaters im Seesack und lieh es Melville zu treuen Händen – ohne es wohl jemals wiederzusehen. Verwurstet hat es Melville in mindestens zwei Kapiteln des Moby-Dick, wenn man mal voraussetzt, dass sein ganzes Buch an allen Ecken und Enden eine Hommage an solche Helden der Walfängerzunft wie die Crew der Essex ist. Und wenn man dabei nicht vergisst, dass die Geschichte von Moby Dick an der Stelle aufhört, wo die von Owen Chase anfängt.

Im Kapitel 45: The Affidavit bezieht er sich ausführlich und unmittelbar auf seine Kenntnis der Chase’schen Schilderungen, um dem ungläubigen Leser neben allem anderen zuvörderst die Wahrhaftigkeit schiffeversenkender Wale vor den Bug zu rammen. Dort erwähnt er auch seine Begegnung mit Chases Sohn auf hoher See.

Und das oben angeführte Zitat aus Kapitel 135 The Chase–Third Day, das den Augenblick des Angriffs Moby Dicks auf die Pequod wiedergibt, die nach seinem Rammstoß untergeht, lautet nahezu wörtlich wie die Darstellung des Maats der Essex. Den Vergleich hier daherzudeklamieren spar ich mir, da ich vom Chase (vorerst) nur im Besitz der deutschen Fassung bin und vom Moby (inzwischen) derer drei hab.

(Bei dieser Sachlage wundert man sich doch ein bisschen, warum die – vom Wolf zutreffend in der Literaturliste genannte – etwas rar und zögerlich erscheinende Haltung der Quellenforscher nicht weit nachdrücklicher daherkommt… was ja vielleicht inzwischen vonstatten geht, wenn man zet Be die Tatsache, dass die zur Zeit vergriffene deutschsprachige Ausgabe der Chase-Story bei Amazon kürzlich als Gebrauchtexemplar dreistellig gehandelt wurde, dahingehned deutet. Ätsch, ich hab sie voriges Jahr noch zu einem volkstümlichem Preis erhandelt.)

Nathaniel Philbrick by Ellen Warner, Random House BertelsmannAus dem unspektakulär schlichten Berichten des Owen Chase schriftstellerte Nathaniel Philbrick sein aufgepepptes In the Heart of the Sea. Was vielleicht etwas respektlos formuliert ist, denn schließlich erhielt er für das 2001 erschienene Buch den National Book Award. Philbrick, seines Zeichens Nantucketer, Segelfreak, Direktor des Egan Institute of Maritime Studies und Mitglied der Nantucket Historical Association, stellt die Geschichte in ihren wirtschaftlich-historischen Kontext. Er zeichnet fundiert und mit Liebe zum Detail das Bild der neuengländischen Walfangregion und der Nantucketer Gesellschaft jener Zeit und sortiert das Schicksal der Essex da hinein. Außerdem nutzt er – eine kleine Sensation – eine weitere Quelle des Ereignisses: das erst 1980 entdeckte Notizbuch des Schiffsjungen der Essex, Thomas Nickerson.

Zu dem gibts hier jetzt nix mehr, sondern vielleicht gelegentlich ein Update. Wie auch zu anderen Dokumenten um den Schiffsuntergang, dem sogenannten Paddack Letter beispielsweise, der die Rettung des zweiten Walbootes erhellt. Oder zu den Tagebuchaufzeichnungen der englischen Missionare Tyerman und Bennet, denen Kapitän Pollard irgendwo in der Südsee seine Geschichte erzählte. Weil – juchhei, was findet man nicht alles bei der ganzen Moby-Dick-Kramerei – in der aktuellen englischsprachigen Ausgabe des Chase-Buches bei Penguin Classics The Loss of the Ship Essex, Sunk by a Whale sind diese und noch weitere und sogar die Melvilleschen Randbemerkungen enthalten. Weil, was noch viel besser ist, das Büchlein sich grad aus U.K. in mein Melvillealien-bestücktes Bücherregal aufgemacht hat, jahaaa.

Owen Chase, Der Untergang der Essex, Verlag Hanse, Europäische Verlagsanstalt eva by Elke

So, und um die Schiffbruch-Odyssee zu Ende zu bringen, nu aber nochmal ein paar (Schiffs)Nägel mit Köpfen:

Kurz nach der Flaute vom 15. Dezember landeten die Seeleute auf einer kleinen Insel mit Trinkwasser und Essbarem, die heute Henderson Island heißt und von den Männern damals irrtümlich für das Nachbareiland Ducie gehalten wurde. Dort ließen sie drei ihrer Kameraden auf deren ausdrücklichen Wunsch zurück. Dass auch die gerettet wurden, erfuhr unser guter Chase erst, als sein Buch längst erschienen war.

Den anderen Mitgliedern der Crew stand das Schlimmste noch bevor: Die Boote wurden in einem Sturm getrennt und fanden nicht wieder zueinander, eines von ihnen fand vermutlich vollends aus dieser Welt – es ward nie wieder gesehen. Die Strapazen – widrige Winde, zur Neige gehende Rationen und einsetzender Wahnsinn – wurden unermesslich und sind menschlicher Vorstellung nicht zugänglich. Am Ende tranken sie den eigenen Urin und aßen das Fleisch ihrer gestorbenen Leidensgefährten. Und doch überlebten fünf von ihnen: Chase, Thomas Nickerson und Benjamin Lawrence wurden am 18. Februar vor der Küste Chiles von der Indian gerettet. Im Boot des Kapitäns Pollard inszenierte sich indessen noch eine Extratragödie: Ein Kamerad wurde ausgelost und erschossen, um den andern als Nahrung zu dienen. Die beiden Überlebenden nahm am 23. Februar die Dauphin an Bord.

Käpt’n Pollard erlitt auf seiner nächsten Reise einen weiteren Schiffbruch und fuhr nie wieder zur See. Melville traf ihn, einen stillen, bescheidenen und von Schuldgefühlen geplagten Mann, der inzwischen in Nantucket als Nachtwächter arbeitete, 1852 bei einem Besuch auf der Insel. Seine Sympathie für ihn war unverhohlen. Jahre später, selbst längst ein bescheidener Zollinspektor, setzte er ihm in ein paar Zeilen seines Poems Clarel (1876) ein Denkmal:

Nie lächelte er;
Rief man ihn, kam er;
nicht bitteren Geistes,
demütig und versöhnt;
Geduldig war er, widersetzte sich keinem;
Oft versank er in Gedanken an etwas Geheimes.

Deutsch von Rainer G. Schmidt, 2006.

Owen Chase hingegen wurde ein erfolgreicher und angesehener Walkapitän.

Auf seiner letzten großen Fahrt klagte er jedoch über Kopfschmerzen. Ursächlich waren dafür wohl die Qualen, die er nach dem Schiffbruch der Essex durchgemacht hatte. Zwar lebte er nach seiner Pensionierung im Februar 1840 noch viele Jahre, doch die Kopfschmerzen peinigten ihn weiter. Zunehmend plagte ihn auch zum Ende seines Lebens die Furcht vor dem Verhungern. Dies führte unter anderem dazu, dass er auf dem Dachboden seines Hauses Hartkekse und andere Lebensmittel hortete. Am 7. März 1869 starb er im Alter von siebzig Jahren.

Nachwort von Iola Haverstick und Betty Shephard
in: Owen Chase: Der Untergang der Essex, Seite 137 f.

Bilder: Thomas Nickerson für Wikimedia Commons;
Nantucket Historical Association für PBS Ocean History;
Ellen Warner für Random House;
Elke.

Lied: The Pogues: Greenland Whale Fisheries aus: Red Roses For Me, 1984.

Written by Wolf

20. December 2008 at 12:02 am

Posted in Krähe Elke

Capturing Lafontainitis

with 2 comments

Unsere verdiente Gastautorin Constanze lässt nicht nur finden, sondern sogar suchen. Ihr Suchmich im November beinhaltet neben anderen Schätzen folgende Auszüge. Niemand konnte ernsthaft bezweifeln, dass Moby-Dick™ die klauen und dann noch kürzen muss:

Cohu

Donnerstag, 27. November 2008 um 14:44 Uhr

kapitän ahab liberalismus kapitalismus
Sorry, da muss ich passen. Vielleicht fällt den Experten was dazu ein. Ahab scheint jedenfalls nicht in erster Linie aus Gewinnerzielungsabsicht zu handeln. Außerdem geht er samt Anhängerschaft mit fliegenden Fahnen unter. Sehe da eher Parallelen zum Kommunismus.

Wolf hat am Montag, 1. Dezember 2008 um 02:35 Uhr gesagt…

Es hört grade auf, aktuell zu sein, aber Kapitän Ahabs politische Bezüge sind eher als gleiche Krankheit bei dem illiteraten Weltpräsi mit dem Pflanzennamen: Call Me Bushmael: George W. Contracts Ahab-itis, nochmal beim Cruel Animal belegt. Kapitalistisch kann ich das nicht finden, der Mann versemmelt anderer Leute Produktionsmittel ja mit aller Gewalt, und liberal schon gleich gar nicht. Fällt Zynismus eigentlich schon unter die politischen Ausrichtungen?

cohu hat am Montag, 1. Dezember 2008 um 10:12 Uhr gesagt…

Ah, sehr interessant, danke für die Expertise!
(wobei man einschränkend zum Ahab-Bush-Vergleich sagen muss, dass Bush nach eigenen Angaben jeden Tag 9 Stunden schläft. Da fehlt irgendwie vollständig das Ahabsche Sich-Quälen…gut, warum sich selbst quälen wenn man auch andere waterboarden kann)

mars hat am Mittwoch, 3. Dezember 2008 um 10:09 Uhr gesagt…

Ich denke die ganze Ahab-Geschichte ist vielleicht eine Parabel auf die Geschichte des revolutionären europäischen Kapitalismus (falls man davon sprechen kann. wenn nicht, dann einfach “europäischen Kapitalismus”).

Ahab, Sohn aus gutem Hause, entschließt sich, alle Grenzen zu durchbrechen und aufs Meer zu gehen. Eine aggressive Urkraft treibt ihn dazu, Tiere zu jagen. Viele Menschen sterben für ihn.

Europa, Tochter einer jahrhundertelangen protektionnistischen Adelsherrschaft (inkl. Louis XIV), beschließt, die Grenzen der nationalen Souveränität zu durchbrechen und die Regeln des internationalen Warenaustausches zu liberalisieren. Hierbei entspringt eine entfesselte Urkraft, die viele Menschen ins Unglück stürzt (viele sterben im Krieg für ihre Ideale).

Einziger Unterschied: in der zweiten Version ist der Ausgang bisher offen. Wer Europas Kameraden sind, und ob sie sterben werden, ist genauso offen wie die Frage, ob Europa selbst den freien Markt überlebt.

mars hat am Mittwoch, 3. Dezember 2008 um 14:42 Uhr gesagt…

freunde, das rätsel ist gelöst.

zitat reinhard mohr:

Aber so ist er, der Kapitalismus. Am Ende wird er auch noch den Oskar-Lafontaine-Komplex schlucken wie der weiße Wal den Käpt’n Ahab.”

Selbst wenn man ausnahmsweise nur so Mittelrecht hatte, möchte man vergehen vor Schönheit und Harmonie der Beweisführung.

Moby Dick Whale Meat for Pets, by kqedquest, 1. März 2007

Bild: “Moby Dick” Pet Food by kqedquest, 1. März 2007.

Written by Wolf

4. December 2008 at 4:37 am

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Aust/Geyer/Schirrmacher/Hegewald: Wer die RAF verstehen will, muss „Moby Dick“ lesen

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500. Beitrag

Elke faltet sich ihr Kino aus der Zeitung:

By art is created that great Leviathan, called a Commonwealth or State — (in Latin, Civitas) which is but an artificial man.

Thomas Hobbes: Leviathan. Zitiert von Herman Melville in den Extracts.

Elke HegewaldNachdem noch rechtzeitig zum 68er Jubiläumsjahr das großangekündigte und hochkarätig besetzte Filmwerk „Der Baader-Meinhof-Komplex“ landesweit in den Kinos angekommen ist, das in vorauseilendem Nominierungseifer schon als oscarträchtig ausgekräht wird,

nachdem allerorten die einschlägigen Premierenfeiern… hm, passender wohl die Ge- und Nachdenkveranstaltungen mit erlesenem Publikum verebbt sind,

nachdem gleichzeitig der Guru des Enthüllungsjournalismus Stefan Aust seine um 300 Seiten erweiterte, akribisch nachrecherchierte und reicher bebilderte 3. Auflage der Buchvorlage auf den Markt gebracht hat —

ist es wohl an der Zeit, dass auch Moby-Dick™ als unermüdlicher Jäger und Sammler endlich gnadenlos aufdeckt und dokumentiert, welche Rolle Melville, sein Terror-Wal und die Besatzung der Pequod in der Geschichte der RAF gespielt haben. Vor allem in ihrem konspirativen Untergrund. Wir berufen uns dabei wort- und auszugsreich 1:1 auf ein aufschlussreiches Interview, das Call-me-Ismael Aust den Herren Frank Schirrmacher und Christian Geyer von der FAZ am 22. August 2007 gab:

FAZ: Der Staat, das war in der Sprache der RAF ja nicht nur das Schweinesystem, sondern auch der Leviathan, die Maschine weißer Wal, der Moby Dick. Was hat es zu bedeuten, dass sich die RAF-Leute Decknamen aus „Moby Dick“ gaben?

Filmplakat zu Moby-Dick, 1956, via FAZAust: Gudrun Ensslin war auf diese Idee gekommen, sie hatte sich die Decknamen für die Gruppenmitglieder ausgedacht, um die Postüberwacher irrezuführen. Fast alle Namen entlehnte sie Herman Melvilles Roman „Moby Dick“. Der dämonische, monomanisch-rasende Kapitän „Ahab“ stand für Baader, „Starbuck“ für Holger Meins, „Zimmermann“ für Jan-Carl Raspe, „Quiqueg“ für Gerhard Müller, „Bildad“ für Horst Mahler, „Smutje“ für Ensslin selbst. Der Wal Moby Dick, schon im Buch eine Parabel, ein chiffrenhafter Symbolkomplex, wird hier noch einmal als Chiffre eingesetzt. Der Wal ist der Leviathan, und der Leviathan ist das Sinnbild für den Staat, den die RAF als die Pappmaske der trügerischen Erscheinungswelt zerschlagen will. „Ein künstlich Ding ist jener große Leviathan, der Gemeinwesen oder Staat (lateinisch: Civitas) genannt wird und nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch.“ So lautet der in Melvilles „Moby Dick“ zitierte Eröffnungssatz von Hobbes’ Leviathan. Diesen Staat Leviathan, diesen weißen Wal, den haben die Terroristen jagen wollen. Bei der Jagd auf den weißen Wal ist jeder Irrsinn vorgekommen, den Sie nachher auch bei der RAF gefunden haben. Deswegen war das eine sehr, sehr passende Parabel für das, was die Terroristen taten. Die Charaktere, die in „Moby Dick“ beschrieben sind, passen tatsächlich sehr genau auf die einzelnen Figuren in der RAF.

Bleiben wir kurz bei Ahab als Baader.

Dann hören Sie zu Baader einmal dies: „Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde seiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das seinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag. Alle tragische Größe beruht auf einem Bruch in der gesunden Natur, des kannst du gewiss sein.“ So schreibt Gudrun Ensslin, Melville über Kapitän Ahab zitierend, an Ulrike Meinhof über Baader. Damit war tatsächlich sehr viel gesagt. Die Ensslin war ja eine hervorragende Psychologin. Sie hatte das Gespür dafür, dass Baaders Kampf gegen den Staat Züge eines metaphysischen Endkampfs trug, ähnlich jenen, die Kapitän Ahab beherrschten.

„Ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt“, sagt Ahab über sich selbst. Und weiter: „Wie kann der Häftling denn ins Freie, wenn er die Mauer nicht durchbricht? Für mich ist dieser weiße Wal die Mauer, dicht vor mich hingestellt. Dahinter, denk ich manchmal, ist nichts mehr.“ Besser lässt sich die transzendentale Selbststilisierung der RAF wohl kaum formulieren.

Filmplakat zu Starbuck Holger Meins, 2001Sie werden das auch finden, wenn Sie hinter die anderen Decknamen schauen. Wie gesagt, Starbuck, der Erste Steuermann, war Holger Meins. Über Starbuck heißt es in „Moby Dick“: „Starbucks Leib und Starbucks unterjochter Wille gehörten Ahab, solange Ahab die magnetische Kraft seines Geistes auf Starbucks Gehirn ausstrahlen ließ; allein ihm war bewusst, dass der Steuermann trotz allem den Kriegszug seines Kapitäns in tiefster Seele verabscheut.“ Ja, so verhielt es sich wohl zwischen Holger Meins und Baader.

Und was spricht aus dem „Zimmermann“ als Deckname für Raspe?

In „Moby Dick“ baut der Zimmermann in einem fort Särge für die Opfer der Jagd nach dem weißen Wal, er schnitzt dem Kapitän Ahab ein neues Bein aus Walknochen und macht sich in jeder Hinsicht nützlich. Sie erfahren — das wusste Ensslin — nichts Unwesentliches über Raspe, wenn Sie bei Melville über den Zimmermann lesen: „Er glich den nicht selbst denkenden, aber höchst sinnreich erdachten und vielseitig verwendbaren Werkzeugen aus Sheffield, die, multum in parvo, wie ein — nur ein wenig angeschwollenes — gewöhnliches Taschenmesser aussehen, jedoch nicht bloß Klingen jeder Form enthalten, sondern auch Schraubenzieher, Pfropfenzieher, Pinzetten, Ahlen, Schreibgeräte, Lineale, Nagelfeilen und Bohrer. Wollten seine Vorgesetzten den Zimmermann als Schraubenzieher benutzen, so brauchten sie nur diesen Teil seiner Person aufzuklappen, und die Schraube saß fest; oder sollte er Pinzette spielen, so nahmen sie ihn bei den Beinen, und die Pinzette war fertig.“ Ist das nicht eine hinreißende Charakterbeschreibung?

Wie hat man eigentlich Horst Mahler chiffriert?

Fahndungsplakat nach RAF-Terroristen. Bundeskriminalamt Wiesbaden, November 1980, Haus der Geschichte, BonnDessen Tarnung sollte sich als die unheimlichste entpuppen. Ensslin hatte für Mahler, der sich ja dann zum Rechtsanwalt und NPD-Mitglied wandeln sollte, den Namen des Kapitän Bildad vorgesehen. Über den lesen wir bei Melville: „Und doch offenbarte der Wandel des würdigen Kapitäns Bildad bei allen strengen Grundsätzen einen Mangel an einfachster Konsequenz. Wenn er sich auch geschworen hatte, kein Menschenblut zu vergießen, so hatte er in seinem enganliegenden Quäkerrock das Blut Leviathans in Tonnen und Abertonnen vergossen. Wie der fromme Bildad nun am besinnlichen Abend seiner Tage diese Widersprüche rückschauend in Einklang brachte, weiß ich nicht; aber sie schienen ihn nicht sonderlich zu berühren, und höchstwahrscheinlich war er längst zu dem weisen und vernünftigen Schluss gekommen, dass für den Menschen die Religion eines ist und die reale Welt ein ganz anderes. Die Welt aber zahlt Dividenden.“ Wer die RAF verstehen will, muss „Moby Dick“ lesen.

Wenn wir Sie selbst mit der Erzählerstimme im „Moby Dick“ identifizieren dürfen, mit Ismael, dann wäre unsere Schlussfrage die: Was hat Stefan Aust, der Chronist der RAF, aus seiner intensiven Beschäftigung mit diesem Stück Zeitgeschichte für sich selbst mitgenommen?

Ich habe sehr viel über menschliche Verhaltensweisen gelernt. Ich habe eine Menge über Politik gelernt. Ich habe eine Menge über Gewalt gelernt. Ich habe eine Menge über die Gesetze von Gruppen gelernt. Ich habe eine Menge darüber gelernt, wie der Mensch in den Wahn gelangt.

Joaah, das hätte sich uns’ Herman wohl niemals nicht träumen lassen, in was er mit seinen braven Walfängern dereinst noch verwickelt würde. Aber wenn mans mal so ein bisschen sacken lässt? Sind solche Charaktermixturen am Ende darauf programmiert, mit vollen Segeln in den Untergang…?

Man darf ja gar nich aufhörn, Moby-Lesen zu predigen, sach ich.

Bilder: Filmplakat zu Moby-Dick 1956, via FAZ: Der Wal als Sinnbild des Staates, den die RAF bekämpfte;
Starbuck Holger Meins, 2001;
Fahndungsplakat nach RAF-Terroristen, Bundeskriminalamt Wiesbaden, November 1980, Haus der Geschichte, Bonn;
Lied: Reinhard Mey: Das Narrenschiff aus: Flaschenpost, 1998;
Film: Trailer Der Baader-Meinhof-Komplex, 2008.

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30. October 2008 at 12:01 am

Der alte Mann und der Miez

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Endlich auch auf Moby-Dick™: Katzencontent!

Update zu Zur Abwechslung mal Ernest Hemingway beschimpfen:

From Carlene Fredericka Brennen, Hemingway's Cats. An Illustrated Bioraphy, 2006Die Nachkommen von Ernest Hemingways Lieblingskater Snowball heißen Hemingway-Katzen. Snowball trug an den Vorderpfoten je 6 statt normalerweise 5 Zehen; ob er hinten 5 statt normalerweise 4 trug, ist nicht überliefert. Heute wird im Andenken an Snowball der Begriff Hemingway-Katze für alle polydaktylen Katzen benutzt. Polydaktylie vererbt sich autosomal-dominant, manifestiert sich also nicht bei allen Genträgern, die Merkmalsträger sind nicht gesundheitlich beeinträchtigt: Menschliche Zwölfender leben — bis auf eine gewisse Abneigung gegen das Tragen von Flip-Flops — vergnügt unter uns, bei Katzen sehen die extrabreiten Pfoten sogar ausgesprochen putzig aus.

Hemingway bekam Snowball 1935 auf seinem Alterssitz in Kuba geschenkt. Katzen waren in Hemingways Weltbild so ziemlich die einzigen Lebewesen, die sich weder zum Abschießen noch zum Flachlegen eigneten. Vielmehr versammelte er diese perfekt durchgestalteten, liebenswertesten Tiere aus Gottes Portfolio um sich — “One cat just leads to another” — und versorgte etwa 35 davon. Die kannte er mit Namen und Stammbaum auseinander und ließ sie bei sich zu Tische speisen. Begeisterter Snowball.

Im weiteren Verlauf zeugte Snowball 60 Nachkommen, etwa 30 davon mit einer Zehe pro Pfote zuviel, manche auch nur an den Vorderpfoten, das macht bis zu 22 Zehen pro Katze. Nach Hemingways Selbstmord wurden alle überlebenden Katzen ins heutige Ernest Hemingway Home and Museum in Key West, Florida überführt.

2003 war die Katzenpopulation im Hemingway-Museum, einem Bau im spanischen Kolonialstil mit halbverwildertem Grundstück über ein Hektar, optimales Mausgebiet, auf etwa 50 angewachsen. Dann kam das United States Department of Agriculture dahinter, dass Katzen dort nicht leben dürfen. Nicht in dieser Ballung, nicht ohne Zoolizenz, nicht ohne Zaun drumrum.

Nach fünf Jahren harten Verhandlungen zwischen Museum und USDA hat man sich endlich darauf geeinigt, dass die Katzen, zumal sie allesamt wohlgenährt, gesund und zufrieden wirkten, nicht nur hier wohnen bleiben dürfen, sondern auch ein Taschengeld von 200 Dollar erhalten — pro Tag und Katze.

Haben Sie mitgerechnet? Das sind zehntausend Dollar täglich. Kann man gerne mitnehmen, statt obdachlos oder eingesperrt zu werden. Die Katzen stehen nicht zum Verkauf.

Man muss sich im hiesigen Leben sehr, sehr gut benehmen, um im nächsten eventuell Katze zu werden.

BIlder: Hairy Harry mit Hemingways Royal Portable Quiet DeLuxe
aus For Hemingway’s cats, the bell won’t toll, Los Angeles Times: L.A. Unleashed, 26. September 2008;
Ernest Hemingway Collection im John F. Kennedy Presidential Library and Museum via Hemingway’ Cats, 2006.
Film: Hemingway Cats by Florida Keys Travel Vison, September 2008.

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7. October 2008 at 2:27 am

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Heute vor…

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Update zu Brush Your Teeth for America! und Geopfert:

  • 954 Jahren: Chinesen, Araber und Indianer sichten in der Nähe des Sternbildes Stier eine Supernova, die monatelang hell genug strahlt, um bei Tage wahrgenommen zu werden. Ihre Überreste bilden heute den Krebsnebel;
  • 232 Jahren: Der zweite Kontinentalkongress verabschiedet die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten;
  • 82 Jahren: Der erste NSDAP-Parteitag in Weimar gründet die Hitler-Jugend.

Skimming lightly, wheeling still,
     The swallows fly low
Over the field in clouded days,
     The forest-field of Shiloh–
Over the field where April rain
Solaced the parched ones stretched in pain
Through the pause of night
That followed the Sunday fight
     Around the church of Shiloh–
The church so lone, the log-built one,
That echoed to many a parting groan
     And natural prayer
Of dying foemen mingled there–
Foemen at morn, but friends at eve–
     Fame or country least their care:
(What like a bullet can undeceive!)
     But now they lie low,
While over them the swallows skim,
     And all is hushed at Shiloh.

Herman Melville: Shiloh. A Requiem (April 1862),
in: Battle-Pieces and Aspects of the War, 1866.

The Declaration of Independence, 1819

Bild: John Trumbull: The Declaration of Independence, 1819.


Film: Susan Hayward as Jane Froman in With a Song in My Heart, 1952.

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4. July 2008 at 12:01 am

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Kein Wunsch, 125 zu werden: And Anxiety’s Plenty For Me

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Update zu Wenn Kafka “Moby-Dick” geschrieben hätte:

Franz Kafka 1888, 5-jährigWenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

Franz Kafka: Wunsch, Indianer zu werden in: Betrachtung, 1913.

Tagsüber als Sachbearbeiter bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen, die Nacht durch atemlos Tagebücher aus der wundgelebten Seele schreiben, eins nach dem anderen, eins surrealer und luzider als das andere, und sich entsetzt wehren, dass die paar fertig gewordenen und unfertig gebliebenen Sachen veröffentlicht werden, die man ihm gegen seinen letzten Willen aus dem Kaminfegefeuer ringen musste, statt der Skizzen zur Unfallverhütung, die der Menschheit und seinem inneren Vater doch viel besser gedient hätten — geht das gut?

Julie WohryzekFür uns ja, für ihn nicht. Man weiß viel über Franz Kafka, mehr als über die meisten Schreiber, selbst die noch am Leben sind. Nicht aus den Tagebüchern, die ein Leben ausbreiten, das in ihm getobt hat, mehr aus den Briefen. Vor allem an Felice Bauer und Milena Jesenská, seine Verlobten, an die er wahrscheinlich nicht mal richtig dran durfte. Kafkas Leben ist geradezu tageweise rekonstruierbar, Tag für Tag, besser als bei Goethe, auch ohne Eckermann. Was die Wahrheit ist, wie er sich darin gefühlt hat, wusste er selber wohl am schlechtesten.

Er hat gebrannt vor ewiger Schuld — an nichts, der brave Mann –, vor Angst, nicht zu genügen. Die ihn kannten, beschreiben ihn als Mädchentyp, gesellig, unbescholten, unterhaltsam, eloquent, ein Mann zum Heiraten, ein Kumpel zum Pferdestehlen. Und dann wurde es jeden Tag Nacht, in der er um sein Leben schrieb.

Habe ich an einem Abend Gutes geschrieben, brenne ich am nächsten Tag im Bureau und kann nichts fertig bringen.

Dieses Hinundher wird immer ärger. Im Bureau genüge ich äußerlich meinen Pflichten, meinen inneren Pflichten aber nicht, und jede nicht-erfüllte innere Pflicht wird zu einem Unglück, das sich aus mir nicht mehr rührt.

Tagebücher, 1911

Die Geschichten von diesem Nachtgespenst gleißen. Sie blenden wie ein Blick in die Sonne. Sein Process ist eine Luftnummer, sein Amerika ein hanebüchener Hirnfurz, seine runtergeratterten One-Night-Stands wie der Brief an den Vater, In der Strafkolonie und Die Verwandlung eine Abfolge von Fußtritten in die Magengrube:

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.

Gerard Bertrand, Kafka MétamorphoseSo geht das weiter — kompakte Information, es geht nie ums Wie, immer ums Was. Das hat es 2007 immerhin zum zweitschönsten Satz der deutschen Literatur gebracht. Typisch, hätte er gesagt, second winner is first loser.

Man kennt ihn noch, er ist präsent, mehr als zu seinen Lebzeiten, als er allenfalls in der Kneipe auffiel. In der Schule nimmt man ihn gern durch, weil man bei dem nicht viel lesen muss. Von dem ständigen, heißen, vibrierenden Weltschmerz des ewigen Vaterjüngelchens mit den rührenden Segelohren fühlen sich die Emos und perspektivlosen Ritzer in der Neunten sowieso zutiefst verstanden. Alles unfertig, alles schön kurz und vollgepackt, wer tut sich denn die zu Tode durchgestylten Thomas-Mann-Backsteine an. Und schön billig, die dünnen Heftchen, vor allem seit 1994, als nach 70 Jahren sein Copyright frei wurde und jeder Gemüsestand den tollen populären Klassiker fleddern, beklauen und missbrauchen durfte, wie es der Public Domain nicht belieben kann, die Sämtlichen Erzählungen gibt’s heute für den Gegenwert von keiner Halben Bier. Und Kafka hätte sie dafür hergegeben.

Am Ende soll er sogar ein bisschen Glück gefunden haben, weg von dem Versicherungsbau wie aus seinem Schloss, auf dem Land, mit seiner Lieblingsschwester Ottla ehrlich Kartoffeln buddeln, bis ihn in einem Krankenzimmer, das besichtigt werden kann, wohin sich aber die Anreise touristisch etwas ungünstig gestaltet, die Tuberkulose holte.

Man kommt sich ganz zynisch und schofel vor, so einem Glück zu wünschen. Trotzdem danke, Franz, dass du das seit 125 Jahren durchstehst.

George Gershwin and Franz Kafka Try to Write a Musical

Bilder: Der fünfjährige Franz Kafka: gemeinfrei;
Julie Wohryzek: franzkafka.de;
Kafka et la Métamorphose: Gerard Bertrand;
Paris, 1922: George Gershwin and Franz Kafka Try to Write a Musical:
Franz Kafka Cartoons.

Written by Wolf

3. July 2008 at 12:01 am

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Chumdenschl

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Update zu Das Land der Deutschen mit der Seele suchen:

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
bin i Chumdenschl af gebracht.

Thomas Gsella via Brainblog, 2004

Das ganze Zeug, was mich messbar ausmachen muss, wenn einer, der mich nicht kennt, mal nachgucken geht, ist ja lauter so gelahrtes, zutiefst deutsches, dünne, dicke, immer aber harte Bretter bohrendes. Mittelalterverein, deutsche Romantik, gedämpfter Donaldismus, der melvilleanisch herangediehene Sums um deutsch-amerikanische Freundschaft. Etwa aufkommender Spaß am Leben kann ja gar nicht oft genug sarkastisch gebrochen sein.

Erkennt da jemand einen Faden drin, einen roten? Aus meiner Sicht von innen nach außen betrachtet finde ich, dass es lauter verschiedene Sportarten sind, die im gleichen Stadion spielen (sehr treffend, Kollege Tarantino): Ein Deutschromantiker hätt ich werden sollen, das ist ja alles sowas von 1850 — die nie wirklich zu Ende gegangene deutsche Romantik, die sich explizit aufs Mittelalter bezieht, und das nicht, weil’s da so toll war ohne Fensterscheiben, Damenbinden und Xing, sondern um so weit zurückzuschauen, wie man mit denen, mit denen man zusammenwohnt, gemeinsame Wurzeln hat.

“Wurzeln gießen” hab ich das immer gern genannt, und selbst der Ausdruck ist von Heinz Rudolf Kunze geklaut, und wie deutsch geht’s denn noch.

Ich versteh das gut, wie einer sich um den Schlaf bringen kann, indem er seinem Land nachsinniert. Wir haben hier so ein tolles Land rumstehn — mit dem weiß Gott manches im Argen liegt, aber das macht es einem ja nicht weniger wert. An den paar Sachen, die man liebhat, mag man die Fehler gleich mit, und Deutschland die bleiche Mutter hat einen nun mal hervorgebracht, wofür niemand was kann (“Nicht mal die Römer!“). Wer in Aserbeidschan, Äthiopien oder der Antarktis geboren ist, wohnt sicher gerne dort; ich glaub nicht, dass die Leute aus Jux irgendwohin auswandern. Trotzdem hätte man es schlimmer treffen können denn als Deutscher.

Und dann erhellt, dass auch die Amis, die schon fast sprichwörtlich “stolz” auf ihr Land sein können, die in der Schule des Morgens nicht etwa beten, sondern die Hymne singen und Teile der Verfassung aufsagen und Nationalfeiertag begehn wie unsereins Kirchweih, sich auch nicht ganz im reinen sind. Die wissen ebenfalls, das sie ein tolles Land haben — und dass sie den Hanswurst des Jahrhunderts zum Anführer haben, das wissen sie auch.

USA Erklärt, German Joys, Nothing for Ungood, raskal trippin und ein wachsendes Literaturgenre beschäftigen sich mit nichts anderem. Was die anderen da drüben besser machen: Sie wissen um das tolle Land und den Hanswurst, und dazu noch, dass die sich nicht ausschließen: Bush ist kein mathematisch hinreichender Grund, Amerika nicht zu mögen. Und bei uns haben sie vor gar nicht so vielen Jahrzehnten etliche der besten Teutschen vergrault, sträflich viele, genug jedenfalls, dass die ganze Kultur sich immer noch nicht so recht davon erholt hat.

Brecht zum Beispiel. Was der durch die Welt exiliert ist! Prag, Wien, Zürich, Schweden, Finnland, Amerika. Beim Heimkommen ist er freiwillig ins etwas andere Deutschland, das ein netter Versuch hätte werden können, wenn der Mensch ein so guter wäre, wie er für den Kommunismus vorausgesetzt werden muss — geschrieben hat er den Idealfall einer Nationalhymne.

Die geht mir auch schon eine Ewigkeit nach. Wurde nie so richtig ernst genommen und als offizielle Hymne in Erwägung gezogen. Wahrscheinlich weil sie Kinderhymne heißt.

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Und da hat er doch Recht.

Ich hab meine Heimat — deren Sprache jedenfalls — geradewegs studiert. Meine Wurzeln gegossen mit Schweiß und Tränen, Blut muss es hoffentlich nicht auch noch sein. Und es wird nie aufhören, mich umzutreiben, dass die Leute tendenziell aber wahrnehmbar verblöden, so weit, dass ihnen ihre Heimat eines wohligen Mangels an Geistesregungen wurscht ist.

Die demokratische Errungenschaft der Meinungsfreiheit ist in kosmischen Maßstäben eine sehr junge, auch schon in historischen: Die Französische Revolution war doch praktisch vorgestern. Grade mal 200 Jahre ist das her, dass ich will gar nicht wissen wie viele Leute genau geköpft wurden, dafür dass man heute sagen darf, was ist. Das ist nicht selbstverständlich, weder immer noch überall, sondern ein verficktes Privileg.

Und was machen die Leute damit? Tun so, als wär’s noch nie anders zugegangen, ginge heute noch im größeren Teil der Welt nicht anders zu, und missbrauchen es. Man benutzt Meinungsfreiheit dazu, in Blogs hineinzukommentieren:

lol, ggggg

Dafür haben Bastillen gebrannt. Dafür sind Leute gestorben. Viele. Qualvoll. Freiwillig. Heldenmütig. Selbstlos.

Der 17. Juni war noch zu meinen Lebzeiten mal ein Feiertag, und ich musste mein zeitgeschichtliches Wissen ganz schön zusammenkramen, was da gefeiert wurde. “Ich glaube sogar die Augen begunnen zu tropfen.

Film: Neue Deutsche Wochenschau (West) über den Volksaufstand in der “DDR”, 17. Juni 1953, später “Tag der deutschen Einheit” mit kleinem d.
Heute vor 55 Jahren.

Written by Wolf

17. June 2008 at 4:05 am

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Hurre hurre, hop hop hop

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Update zu Schneller weiter klüger:

Sub conservatione formae specificae salva anima.

Raymond Lully, as used in Eleonora

The death, then, of a beautiful woman is, unquestionably, the most poetical topic in the world.

Edgar Allan Poe: The Philosophy of Composition, 1846.

Donna Ricci the Gothic Supermodel VintageLenor ist ein traditionsreicher Weichspüler, der Hausfrauen ein gutes Gewissen macht und damit abgehandelt sein soll, Lenore eine Ballade von Gottfried August Bürger.

Der Stoff stammt aus einer Volkssage über das Schicksal der Gräfin Eleonore von Schwarzenberg, die nach ihrem Ableben 1741 als Vampirprinzessin gespukt haben soll — also erst nach der Überlieferung durch das balladeske Gedicht An Leonoren von Johann Christian Günther 1720 –, erschienen 1774 im Göttinger Musenalmanach, überarbeitete Endversion 1789, Epoche Sturm und Drang, Grenzfall zwischen Sozial- und Naturballade, Anfang der deutschen Geisterballade, geradezu Inbegriff der Ballade überhaupt — so viel für die Stoffsammler für Gedichtinterpretationen unter uns.

Wer jemals selbst ein Gedicht wirkungsvoll gestalten wollte, merkt: Lenore rockt. Und zwar wegen der achtzeiligen Strophen in schmissigen Vagantenversen, davon die ersten vier in erzählenden Kreuzreimen, die folgenden vier in refrainartigen Paarreimen, das ergibt auch gesprochen einen Effekt wie “don’t bore us, get to the chorus”.

Obwohl Ballade von ballare kommt, was in mehreren romanischen Sprachen tanzen bedeutet, hatte Lenore weder als früher Balladenversuch von Günther noch als nachträgliche volksliedartige Vertonung viel Glück:

Der geneigte Leser wage es, auf Grund dieser Notation und die Bürgersche Dichtung in der Hand, diese musikalischen Spießruten zu laufen. Kommt er mit gesunden Sinnen davon, so mache er seinen Namen bekannt und die Nachwelt wird einen Heiligen mehr zu verehren haben.

sagt Franz Magnus Böhme 1895 in Volkstümliche Lieder der Deutschen. Vertonungen erlitt Lenore viele, berühmt geworden ist sie als Sprechtext in Rezitation und Druck, interpretiert wird sie als antiquierter Schulstoff, überleben wird sie als Kuriosität von großer, leider unfreiwilliger Komik: “Das Lied war zu vergleichen/Dem Unkenruf in Teichen.” (Bürger)

Und die Handlung erst! Achtung, Spoiler: “Lenore fuhr ums Morgenrot empor aus schweren Träumen”, trauert jambisch-pathetisch ihrem Verlobten Wilhelm nach, der nicht mit den anderen Kriegsheimkehrern aus der Prager Schlacht zu ihr kommt, hadert darob mit dem Schicksal und Gott höchstselbst, in der Folge davon wiederum mit ihrer gottesfürchtigen Mutter, wird dann doch noch spätnachts von Wilhelm zu Pferde abgeholt, zu einer versprochenen Hochzeitsnacht entführt, schmiegt sich in Wiedersehens- sowie Vorfreude an ihren Verlorengeglaubten:

Wie flogen rechts, wie flogen links
Gebirge, Bäum’ und Hecken!
Wie flogen links, und rechts, und links
Die Dörfer, Städt’ und Flecken! –
„Graut Liebchen auch? … Der Mond scheint hell!
Hurrah! die Todten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Todten?“ –
„Ach! Laß sie ruhn, die Todten.“ –

Und als ob man’s nicht geahnt hätte, ist Wilhelm der Tod in Person und hat Lenoren ob ihrer Gotteslästerei geholt.

Wir treffen Lenore, gern auch als Leonore, wieder in Amerika, dem Japan des 19. Jahrhunderts, und hier bei Edgar Allan Poe, der die moderne Literatur aus dem Boden gestampft hat, aber deswegen nicht zwangsläufig auch noch die Erde fruchtbar machen musste. 1842 erschien seine Short Story Eleonora, ebenfalls die Geschichte von einer untoten Wiedergängerin aus Liebe.

Henry Sandham, Lenore, 1886Der Unterschied ist: Eleonora selbst, nicht ihr Geliebter, ist jetzt das Gespenst — was bei Poe oft vorkommt: sehr schöne, sehr junge, leider früh verstorbene Mädchen. Siehe Annabel Lee, Berenice, The Fall of the House of Usher, Ligeia, Morella, The Oval Portrait, Ulalume, selbst die Backstory in The Raven, alle von Poe — reicht das?

Exkurs: Tun Sie sich ruhig mal die überraschend aufschlussreiche Fachliteratur zu Totenromantik und Gothic-Ästhetik von Elisabeth Bronfen an: Die schöne Leiche: Weiblicher Tod als motivische Konstante von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Moderne, 1987; Over Her Dead Body. Death, Femininity and the Aesthetic, 1992, deutsch: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Dissertation LMU München 1993, 1997, Neuauflage 2004.

Nein, es reicht nicht: Ein Jahr nach der Kurzgeschichte schoss Poe das Gedicht Lenore nach. Eddie the Divine! Der Meister gibt sich nicht mal Mühe, seine Quellen zu verschleiern, und recycelt Dramatis personae!

Der Inhalt: Totenwache bei einem sehr schönen, sehr jungen, leider früh verstorbenen Mädchen — gipfelnd in der Empfehlung, nicht über die Toten zu trauern, sondern sich für sie zu freuen, dass sie schon mal vorausgegangen sind und im Paradies aufs Weiterlieben warten. Und das ist untypisch für Poe: Normalerweise enden seine Totengeschichten in Verzweiflung, falls sie dort nicht schon angefangen haben. Schon typischer für Poe: bei Deutschen abzuschreiben; welche Schauermärchen allein von E.T.A. Hoffmann wir bei Poe wiederfinden, kriegen wir später mal.

1845: Ein großes Jahr für die Poesie, denn Poe veröffentlicht The Raven, nach begründeten Meinungen das beste Gedicht überhaupt. Gang der Handlung: Ein Stubengelehrter brütet über seinen Büchern und lässt einen prophetischen Raben in sein Studierzimmer, um seine verstorbene Liebe zu vergessen: the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore (!)/Nameless here for evermore.

Tim Burton, Sleepy Hollow. Heads Will Roll, 1999 Movie PosterTreten wir noch ein paar Jahre zurück, zu einem, der ebenfalls die Short Story erfunden haben könnte, ein paar Jahre vor Poe, aber in seiner neuenglischen Nachbarschaft: Washington Irving. Das 19., das Jahrhundert der bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen, ohne die wir heute bei Ochsentalglicht mit dem Gänsekiel Sonette illuminieren statt bei den Segnungen der Pizzadienste zu bloggen könnten, war andererseits ein dunkel schimmernder Hintergrund für Schauergeschichten, Gothic Novels, Ruinenromantik, mittelalterlich inspirierte Todesbilder und sonstigen Spuk- und Gruselkram.

Washington Irving kennt und schätzt man heute vor allem für seine Legend of Sleepy Hollow, das war 1820. Darin kommt ausnahmsweise keine Lenore vor, aber genügend Motive aus Bürgers Ballade, vor allem die Liebe über den Tod hinaus und der untote Wiedergänger.

Und Irvings Kopfloser Reiter von Sleepy Hollow stammt aus dem rheinischen Sagenschatz über die Volksmährchen der Deutschen von Musäus, 1782–1786. Phantasievolle Gesellen, die todessehnsüchtigen Romantiker und Viktorianer.

Wenn man diese ganze Abschreiberei vor Einführung des Urheberschutzes nicht als ein Unwesen von entfesselten Plagiatoren betrachtet, sondern als Entstehung eines neuen Bestands an künstlerischen Motiven, wenn nicht einer ganzen Mythologie, sollte man ihnen dankbar sein, dass sie jeder für sich die Themen durchgesponnen haben. Liest man in die erst kürzlich wieder erreichbar gewordenen Radiofeatures von Arno Schmidt hinein — und wer wollte dem misstrauen –, hat Adalbert Stifter bis in den Wortlaut hinein bei James Fenimore Cooper abgeschrieben, und schon sind die Nationalliteraturen wieder quitt. Kinowirksam ist diese Gedankenwelt allemal; allein von Irvings schmaler Geschichte sind zwölf Verfilmungen gelistet — erklärtermaßen unvollständig.

Oder will jemand behaupten, Tim Burton hätte seinen heimelig blutspritzenden Film Sleepy Hollow – Köpfe werden rollen 1999 von Washington Irving gestohlen? Na also — eine legitime Adaption eines mythisch frisch verankerten Stoffes, in der die Quelle als klassisch geehrt wird.

Lenore the Cute Little Dead Girl, Cooties Collecting Issues 9-12 CoverEs geht noch weiter: Aus Bürgers Lenore, Poes Eleonora samt Lenore und Irvings Legende von Sleepy Hollow hat sich Roman Dirge bedient und den Comic Lenore, the Cute Little Dead Girl draus gemacht. Ganz frisch, seit 2007, er entsteht noch, bislang gibt es 26 Flash-Filme. Auch wenn sie sich auf etwas pubertäre Weise morbid gebärden, sind sie richtig gut gemacht, Abendfüllendes ist für 2009 angekündigt. Bürger hätte gestaunt. Freudig.

Der wäre doch der erste gewesen, der seine Ballade verflasht hätte. Überliefert ist, dass er bei seinem Vortrag der Lenore an der Stelle

Und außen, horch! ging’s trap trap trap

gern mit den Knöcheln seines Fingers unauffällig auf das Holz seines Rednerpults klopfte, woraufhin die Damen im Publikum vor Entsetzen über den schaurigen Effekt in Ohnmacht sanken. So ein Publikum wünscht man sich, gerade in Zeiten, wo schon die Poetry Slams längst belächelt werden. Die Mädels faden heute ja nicht mal mehr auf Rockkonzerten out, und wofern doch, sind sie nicht mehr stolz auf ihr Sentiment.

Die Reihe geht also: Gräfin Eleonore von SchwarzenbergJohann Christian GüntherGottfried August BürgerMusäusWashington IrvingPoe — nochmal Poe — abermals PoeTim BurtonRoman Dirge. Weniger da hinein gehört Beethovens einzige Oper Fidelio, die in den ersten zwei Fassungen mit drei Ouvertüren ab 1805 noch Leonore hieß, aber eine recht diesseitige Handlung fern aller Phantastik verfolgt. Auch die kanadische Musikerin Lenore lebt noch, Mazeltov.

Ist The Raven eigentlich außer in der berüchtigten 1976er Schnarchnummer von Alan Parsons Project je anständig vertont?

Bilder: Donna Ricci the Gothic Supermodel auf Myspace;
Henry Sandham: Lenore, 1886;
Paramount Pictures, 1999;
Cover Browser.

Written by Wolf

26. May 2008 at 1:24 am

World of toil and trouble

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Update zum Tag der Arbeit zu While some folks row way up to heaven I’m gonna sing the pirate’s gospel:

Uncle Tupelo, No Depression, 1990. Cover1936 arbeitete die Carter Family die Weltwirtschaftskrise in einem Lied namens No Depression in Heaven auf. 2:53 Minuten, die einfach nur nach Hoffnung klingen. Dafür muss Musik gut sein: als Lichtlein in Wenn du meinst es geht nicht mehr. Das knallt in die allfällige Depression, die im Wirtschaftsleben und mit dem feinen Doppelsinn des Wortes deutlich genug innerhalb zahlreicher Einzelpersonen stattfindet. Man möchte ihnen heute noch die Hand dafür schütteln.

1990 nahmen sich Uncle Tupelo aus der Erkenntnis, dass in Amerika erneut Verhältnisse wie 1936 herrschten, des Liedes an. Und Donnerwetter, No Depression (ohne in Heaven) klingt noch viel besser. Energischer, treibender, raubauziger, nicht so tranig dahingezogen, und setzt einer Depression viel trotziger etwas entgegen: zweideutige, aber deutliche Worte, einen Ohrwurm mit dem Zeug zum Volksgut, ja sich selbst.

Nach diesem einen Lied ist die ganze Musikrichtung No Depression benannt, die gern auch alt.country heißt. Die Band weist allerdings den Ehrgeiz von sich, eine Musikrichtung einläuten zu wollen; vielmehr haben sie ihren Beitrag zu traditionellen Spielweisen geleistet: Carter Family, Woodie Guthrie, Willie Nelson und wie sie alle heißen. Man empfinde sich weder als Punk noch Revolution, wolle einfach die Musik weitermachen, die sich als gut herausgestellt hat. Dass 1995 danach eine zweimonatliche Musikzeitschrift entstand (An Introduction to Alternative Country Music. Whatever That Is), die bis 2008 ungewöhnlich lange für derlei Organe durchhielt, war trotzdem okay.

Was daran so zweideutig ist: Soll eine Aussage wie “Ich gehe dahin, wo keine Depression herrscht, verlasse diese Welt voller Müh- und Drangsal, meine Heimat ist im Himmel und da geh ich jetzt hin” von hoffnungsfrohem Aufbruch ins gelobte Land künden — oder ist das schon düstere Koketterie mit der Todessehnsucht, ja die Verherrlichung von Selbstmord? — Aus der Entscheidung halte ich mich wie immer vornehm raus, aber ich höre eine herzvergnügte Melodie auf dem Text herumhüpfen.

Konzertplakat Uncle Tupelo, ca. 1990Ich weiß noch, wie die Version von Uncle Tupelo zum ersten Mal im Radio hörte und eher zufällig auf Kassette erwischte. Das war mal, ihr Jungfröschlein, nicht nur ein beliebter Sport unter Musiknerds, sondern die Methode, sich Lieder anzueignen: sie zufällig am Radio mitzuschneiden. Der Gipfel der Technik war das Überspielkabel (oder ein Ghettoblaster mit Kassettendeck), die Katastrophe ein Moderator, der sein eigenes Dummgesabbel für wichtiger als Musik hielt. Mein Haussender war jedoch das Erlanger Radio Downtown, das seine Lieder gern ausspielte, obwohl es sich die Frequenz mit Radio Z teilen musste. Kein Wunder, dass es 1995 pleite ging. Nicht herauszufinden war jedoch, von wem das Lied war, die leiernde Scotch C90 schwieg sich aus. Dabei musste man dankbar sein, dass sie es überhaupt ein paar Jahre tat. Band, Text und Geschichte erschlossen sich erst in Zeiten des Internets aus einer nicht ganz so vernuschelten Textzeile.

Was man ihr gar nicht zugetraut hätte: Auch Sheryl Crow, die einst von klinischen Depressionen heimgesucht wurde, hat eine Version gemacht, gar nicht schlecht, die der Carter Family näher steht als Uncle Tupelo (und auf keiner ihrer CDs erscheint). Das hört man erstens, und heißt zweitens mit dem ursprünglichen vollen Namen No Depression in Heaven.

Was das nun wieder mit Moby-Dick zu tun hat? Nu, hören Sie einfach mal genau hin. Das erste Kapitel kennen Sie: “whenever it is a damp, drizzly November in my soul; whenever I find myself involuntarily pausing before coffin warehouses, and bringing up the rear of every funeral I meet; and especially whenever my hypos get such an upper hand of me, that it requires a strong moral principle to prevent me from deliberately stepping into the street, and methodically knocking people’s hats off” — dann geht man entweder zur See oder schickt eine CD im Kreis herum, die als Lebenshilfe taugt. Außerdem ist das Zeug zutiefst amerikanisch in jenem Sinne, den man nur liebhaben kann.

Das ist eine Bereicherung für das Lagerfeuerrepertoire aller bierseligen Klampfisten (kein Problem, es sind nur die üblichen drei Griffe), und Idgie Threadgoode muss dazu mit einer Bottel Jackie in der Hand in aufgekrempelten Latzjeans — und zwar auf Terz! — krähen:

1. For fear the hearts of men are failing,
For these are latter days we know
The Great Depression now is spreading,
God’s word declared it would be so.

Refrain: I’m going where there’s no depression,
To the lovely land that’s free from care.
I’ll leave this world of toil and trouble,
My home’s in Heaven, I’m going there.

2. In that bright land, there’ll be no hunger,
No orphan children crying for bread,
No weeping widows, toil or struggle,
No shrouds, no coffins, and no death. — Refrain

3. This dark hour of midnight nearing
And tribulation time will come
The storms will hurl in midnight fear
And sweep lost millions to their doom. — Refrain

Und Tribulation heißt Trübsal.

Bilder: Cover Uncle Tupelo: No Depression, 1990, nach Tracing alt.country;
Konzertplakat der viertbesten Country-Band 1994: The Gumbo Pages.


Bonus Track: Carter Family: Can the Circle Be Unbroken (By and By), 1935
mit Bildern aus der Great Depression 1928–1939.

Written by Wolf

1. May 2008 at 12:01 am

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Signed: Adolf Wolf, Colossal Stinker

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Update zu Vorabendvorstellung:

taz: Können Sie uns einen schönen Islamwitz erzählen?

Harald Schmidt: Nein. Davon lasse ich die Finger. Das ist mir zu heikel.

taz: Auch wenn Sie selbst keine solchen Witze machen – würden Sie wenigstens sagen, dass man solche Witze machen dürfen muss?

Harald Schmidt: Aus dieser Diskussion halte ich mich vollkommen raus, weil ich mir nicht ein Problem auf den Tisch ziehen möchte, das ich zum Glück nicht habe.

taz: Als Rudi Carrell 1987 in seiner “Tagesshow” Chomeini in Dessous grabbeln ließ – Herr Schmidt, war das nicht ein großartiger Gag?

Harald Schmidt: Aber Carrell hat damals einen gefährlichen Ärger bekommen. Und mittlerweile ist das nicht mehr zu steuern. In einer kleinen dänischen Zeitung erscheint die Karikatur und in Indonesien wird die dänische Botschaft gestürmt. Bei Carrell war es noch Ajatollah gegen Carrell. Zwanzig Jahre später leben wir in einer anderen medialen Landschaft.

taz: Sie haben einen gefährlichen Beruf.

Harald Schmidt: Nein. Man muss nur ein bisschen wachsam sein. Sie brauchen die nötige Portion Feigheit. Machen Sie doch lieber Witze über Bush, das ist ungefährlich. Insofern hat die westliche Zivilisation doch einige ganz großartige Errungenschaften hervorgebracht.

taz: Kann man denn sagen, dass es diese Karikaturen geben dürfen muss – auch ohne sie abzudrucken?

Harald Schmidt: Das ist Filigran-Analyse. Die nutzt Ihnen nichts, wenn Sie Leute gegen sich aufgebracht haben, von denen Sie vorher noch gar nicht wussten, dass es die gibt. Sie diskutieren auf Salon-Niveau. Wir reden hier aber von der Möglichkeit: Kawumm neben der Küche. Deswegen sage ich auch: Vorsicht mit glorreichen Selbsteinschätzungen. Wie hätte ich mich im Dritten Reich verhalten? Ich bin nicht gestrickt wie die Geschwister Scholl.

taz: Im besten Fall unauffällig?

Harald Schmidt: Gelinde gesagt. Da kann keiner von sich Zeugnis ablegen, bevor er nicht in die Mündung geguckt hat. Es gibt vielleicht Leute, die sind zum Helden geboren. Ich bin es nicht. Ich habe mich auch noch nie geprügelt. Das System, in dem ich spiele, funktioniert nur, wenn alle die Spielregeln einhalten. Ich bewege mich in einer Demokratie, in der gewisse Grundrechte garantiert sind. Aber wenn Sie sagen, interessiert mich nicht, ich habe ne Knarre, dann funktioniert die ganze Sache nicht mehr.

taz: Da sind wir bei der Frage, die Ihnen wahrscheinlich gestellt wurde, bevor Sie Ihren Zivildienst antreten durften: Wenn nachts ein böser Mann kommt und Ihre Freundin vergewaltigen will, und die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, wäre mit Gewalt …

Harald Schmidt: Die Frage wurde mir nicht gestellt. Sie müssen wissen: Mein Verhandlungsdatum war am 20. April 1978. Und ich komme rein und da sitzen vier Herrschaften und zwei davon haben ein Holzbein aus dem Krieg. Und die erste Frage an mich war: “Wissen Sie, was heute für ein Datum ist?”

taz: Darauf kann man nur falsch antworten.

Harald Schmidt: Wissen Sie, was ich geantwortet habe? “Jawoll, Führers Geburtstag.” Da muss der Rhythmus stimmen. Da können Sie nicht sagen: “Diese Bestie wurde da leider zur Welt gebracht.” Und dieser Begriff hat entspannt. Das war aber nichts anderes als eine historische Information. Wissen Abiturienten heute noch, was der 20. April ist?

Interview: Man braucht die nötige Portion Feigheit,
taz, 8. Februar 2006 (Ausschnitt)

Von Moby-Dick™ erfahren Sie’s jedenfalls nicht. Aber ich ergehe mich in Andeutungen.

Noch im Produktions- und vorvorvorletzten Kriegsjahr 1942 beschloss Disney, seinen Donald-Duck-Film Der Fuehrer’s Face (7:52 Minuten) nie wieder in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. 2004 wurde das Versprechen aus dokumentarischen Gründen gebrochen. Wahrscheinlich die Anti-Nazi-Propaganda mit den meisten überlebenden Fans.

Dagegen weigern sich AOL-Time-Warner bis heute, ihren Bugs-Bunny-Film Tokio Jokio, 1943 (7:05 Minuten) zu zeigen. Der Humor darin ist sehr viel zorniger als im immer noch mitreißenden Der Fuehrer’s Face.

Spinach fer Britain, 1943 (6:14 Minuten) ist ideologisch einer der fragwürdigsten, technisch und sogar dramaturgisch einer der besten der ganzen Popeye-Serie.

Überhaupt hängte Amerika in die Anti-Nazi-Propaganda mittels Zeichentrickfilme erstaunlich viel Liebe. Für Blitz Wolf, 1942 (9:50 Minuten) war Tex Avery für den Oscar nominiert und verlor wogegen sonst als Der Fuehrer’s Face.

Am beklemmendsten von allen ist wohl doch der unbekannteste. Walt Disney: Hitler’s Children. Education For Death, 1943 (10:12 Minuten).

Sollte Sie das trösten, haben am 20. April auch Joan Miró, Ryan O’Neal und Blümchen Geburtstag.

Written by Wolf

20. April 2008 at 12:01 am

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Should we shout? Should we scream?

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Update zu And if the band you’re in starts playing different tunes, I’ll see you on the dark side of the moon:

Tell me true
tell me why
was Jesus crucified?
Is it for this that Daddy died?
Was it for you?
Was it me?
Did I watch too much TV?
Is that a hint of accusation in your eyes?

Karfreitagslied The Post War Dream
in: The Final Cut, 21. März 1983.

Cover The Final Cut, 1983In unserer Serie “Unterschätzte Jubiläen” gedenken wir des 25-jährigen Erscheinungsdatums von The Final Cut von Pink Floyd: 21. März 1983, damals kein Karfreitag, sondern ein Montag.

Nach dem Monument The Wall, das in der laufenden Musikepoche wohl nicht mehr gestürzt wird, war The Final Cut, wie der Name nicht absichtlich sagen sollte, gerade noch eine letzte Gemeinschaftsarbeit der alten Bandbesetzung. Was man auch anders sehen kann, wenn man wie Roger Waters seine Kollegen unter Zwang ins Aufnahmestudio zitieren muss, damit sie ihren Part einspielen. Dann formuliert man auch gerne etwas leichtfertig egozentrisch in die Liner Notes: “by Roger Waters performed by Pink Floyd” und zerstreitet sich darüber erst recht. Roger Waters und David Gilmour sollen sich inzwischen wieder grüßen, die “musikalischen Differenzen” waren aber nie wieder auszuräumen.

In umfassender Vergessenheit ruhen heute die 19 Minuten Extended Play als PR-Film, die vier Musikvideos aus der LP in einen losen Handlungsverlauf stellen. Die offizielle Website zum Album rettet sie.

Text und Ausrichtung sind noch eindeutiger politisch als auf dem Vorgänger The Wall, die Musik klingt ähnlich und zitiert The Wall so weit, dass die Kritik Worte wie “Armutszeugnis” dafür fand. Trotzdem bleiben die besonnenen Melodien in durchsichtiger Instrumentierung auf The Final Cut besser als alles, was unterschiedlich zusammengewürfelte Reste von Pink Floyd danach noch ablieferten, und vornehmlich geeignet, große Mädchen zu beeindrucken. Das war ein Tipp für unbeheizte Osterfeiertage, Jungs.


Teil 1: The Gunner’s Dream;


Teil 2: The Final Cut;


Teil 3: Not Now John;


Teil 4: The Fletcher Memorial Home.

Musik kaufen: Pink Floyd: The Final Cut, 1983.

Written by Wolf

21. March 2008 at 12:01 am

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Mit Medusa oder ohne

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Elke sucht Perseus und findet Keto:

Elke HegewaldDa also danach gefragt ward, worüber ich im Nachhinein gar richtig happy bin, fallen mir zwei Interpretationen zu Hermans Cellini-Ahab ein:

Die erste kurz und schlicht und augenscheinlich, ohne Hintergedanken, lässt den Perseus gänzlich außen vor und bezieht sich nur auf die Statue (als solche ist Ersterer einfach nur ein fraglos äußerst fein gelungenes Exemplar). Wenn man Einem das Attribut zuschreibt, “wie aus harter Bronze gegossen” zu sein (Jendis, Seite 212), will man ihm wohl auch eine vergleichbare menschliche Härte und Standfestigkeit bescheinigen, körperlich und in seinem Wesen, oder? Als Kerl aus einem Guss ist unser Ahab — wenigstens bedingt — vorstellbar. So weit, ihm auch noch bronzene Korrosionsbeständigkeit im maritimen Gewerke oder das Edle und den wärmenden Glanz, die diesem Metall anhaften, anzudichten, möcht man fast gar nicht gehen – aber es könnt ja sein. Melville selbst hat jedenfalls durchaus Sympathien für seine düstere Schöpfung, find ich.

William Hogarth, Perseus rettet AndromedaDie zweite, die mir anfangs viel zu abenteuerlich vorkam, um sie hier öffentlich zu machen, gefällt mir inzwischen immer besser und scheint mir überhaupt nicht mehr so abwegig — denn watet unser guter Melville nicht tief in Allegorien und wird er nicht zu Recht des symbolistischen Vorreitertums verdächtigt? Diese Deutung wiederum hat vor allem mit Perseus zu tun, mit seiner Rolle in der griechischen Mythologie und dem, was Cellini in seiner Skulptur vom Perseus-Mythos abbildet. Danach hat nämlich Perseus — entweder mit dem Haupt der Medusa oder auch ohne (da sind die Sagenerzähler sich uneins) — das Seeungeheuer Ketos getötet. Das — ihr ahnt es? — in sprachlich augenscheinlicher Weise zum Namensgeber für Mobys Familie der Cetacea wurde.

So weit, so gut. Ha, und das ist doch ein Thema, wie gemacht für die Elke, auf das sie schon lange gewartet hat.

Bild: William Hogarth: Illustration zum Gedicht »Perseus und Andromeda« von Lewis Theobald: Perseus rettet Andromeda, Radierung 1730–1731, British Museum, Department of Prints and Drawings.

Written by Wolf

19. March 2008 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

Lies Bücher, nicht T-Shirts!

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(Wenn eines auf der Welt kein Jazz ist,
dann ja wohl Pilze!
)

Update zu Phasen eines Umschlags von Deutsch into English:

Katz und Goldt, Wissen Schweigen VorübergehenEs ist schwer geworden, Max Goldt zu verteidigen. Seit Anfang der 1990er, als dieser sympathisch autoritäre Moralist mit einer ungewohnt blitzsauberen Sprache das deutsche Literaturgeschen von hinten aufrollte und von zuinnerst erleuchtete, sind seine Epigonen so viele geworden, dass er allenfalls noch als selbstgerechter Querulant auffällt.

2008 wird Max Goldt 50: für einen Popliteraten zu alt, für einen besserwisserischen Sabbelsack zu jung. Vermuten wir mal, dass man im jungen Jahrtausend für diese Altertümelei in Wort- und Themenwahl immer entweder zu jung oder zu alt ist. Die Codes haben sich überlebt. Vorwürfe von Ex-Fans lauten dahin, dass er den Leuten gegenüber einen reichlich präpotenten Ton anschlägt; selbst wenn man sich seinen Büchern heute mit einem Vorschuss an Wohlwollen nähert, kann man sich noch ziemlich angeranzt vorkommen. Seinen dauererigierten Zeigefinger hat man mal geschätzt. Es funktioniert nicht mehr. Selbst die unverwüstlichsten Fans sind nur noch treu.

Seine Kolumne in der Titanic zählt immer noch zum Besten, was nur irgendwie monatlich erscheinen kann. Im Februar hieß sie Im Visier von Pakistan und Texas, singt ein selten luzides Abschiedslied auf Weblogs, lobt jedoch ausdrücklich die German Joys von Andrew Hammel, die seit langem in den Nordamerikana der Linkrolle nebenan hausen und mit Vergnügen und Gewinn gelesen werden. Max Goldt hat einen Lieblingsblog, schau mal einer an, dabei gar keinen schlechten, und einen, der sich mit den krausen Moby-Dick™-Themen vereinbaren lässt. — Aus Goldts Laudatio:

Andrew Hammel, andrewhammel.comHammel ist Texaner und, soweit ich es verstanden habe, seit einigen Jahren als Jurist an der Uni Düsseldorf tätig, Interessenschwerpunkt: Todesstrafe. Damit hier nichts mißverstanden wird: Er setzt sich gegen die Todesstrafe ein. Verblüffend ist es, daß er trotz Berufstätigkeit und eines regen Reiselebens Muße findet, ein so regelmäßiges und ausführliches öffentliches Diarium zu schreiben, und das auch noch in bestens gebauten Sätzen ohne modische Sprachsalopperien und sogar fast ohne Tippfehler. Offenbar gehört er zu den beneidenswerten Autoren, die druckreif denken können und nicht nach jedem Satz erst einmal zehn Minuten rauchend und zweifelnd in der Wohnung auf und ab gehen müssen. Auf Privates und redundanten Meinungsausfluß über Sport und Popmusik […] ist er liebenswürdig genug, ganz zu verzichten, statt dessen gibt es allerlei Gewitztes über Politik, Kultur, Wissenschaft und das, was man in der inzwischen stark abgenutzten Kategorie “Alltag” zusammenfaßt, sowie dienliche Rubriken wie “German Word of the Month”.

German Joys ist demnach eine Art USA Erklärt umgekehrt: Im letzteren, 2007 fast grimmepreiswürdigen Falle erklärt ein Amerikaner in Deutschland auf Deutsch den Deutschen Amerika; im Falle Andrew Hammel erklärt ein Amerikaner in Deutschland auf Englisch den Amerikanern Deutschland (und raskal trippin hat auch mal was in der Richtung gemacht…).

Womöglich ist es inzwischen mit Max Goldt selbst so bestellt, wie er das Weblogwesen im Febraur 2008 beschreibt: dass es “so’n bißchen vorbei” sei, dass man dafür aber in angenehmer Weise von Hypes wie einer “Blogosphäre” verschont bleibe. Sein stiller, aber gar nicht überschätzbarer Einfluss ab Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau 1989 ff. bleibt: Von Max Goldt abzuschreiben ist immer noch keine richtige Schande, das macht man nämlich sowieso dauernd.

Bilder: Rumpfkluft bei Katz & Goldt;
Andrew Hammel bei Andrew Hammel.

Written by Wolf

4. March 2008 at 12:01 am

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Fremde im Zug

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Update zu Pissed about having to work in a post office to support himself:

Rolf Tietgens, Patricia Highsmith collection, 1942
Rolf Tietgens: Patricia Highsmith at age 21, 1942

Mit Schreibmaschine auf der Vorderseite:

Pat Highsmith – all photos at age 21 just out of University

Mit Schreibmaschine auf der Rückseite:

Rolf Tietgens, friend from Hamburg, who took pictures on other side, when I was 21. I cannot easily unglue these pictures, so I send the whole page to you.

Rolf Tietgens, ca. 1942Ein Deutscher, der 1942, statt sich im Schlamm der Schützengräben Handgranaten um die Ohren pfeifen zu lassen, Nacktbilder von Literaturstudentinnen macht, Respekt, das lass ich mir eingehen.

Rolf Tietgens war einer der wenigen Männer in Patricia Highsmiths Leben, mit denen sie sich näher einließ, dazu noch unmittelbar nach ihrem Abschluss auf dem Barnard College, das nur Frauen zulässt. Vor allem wenn man nur die offiziellen Verlagsfotos des Diogenes Verlags kennt, die Frau Highsmith in fortgeschrittenem Alter mit hängenden Backen und verhärmtem Blick zeigen, finden wir sie vor Zeiten überraschend schön. Ein tolles Bild von einer tollen Frau. In einer abschreckenden Weise hässlich konnte ich sie auch später nie finden; gerade la Highsmith gehört zu jenen Patentweibern, die ich von Kind auf immer gerne mal kennen gelernt hätte.

Dmitri Kasterine, The Parting Shot. Patricia Highsmith 1986Frau Highsmiths verlagswirksam vom Leben zerfurchtes Gesicht rührt vermutlich von ihrer Zerrissenheit zwischen der Produktion reißerischer Krimis und dem Schaffen anspruchsvoller psychologischer Literatur, die unpraktischerweise meist im selben Roman stattfanden, dazu noch der ungebetenen Kürzung ihrer fertigen Werke seitens Diogenes, die auch seit der Neuausgabe 2002 innerhalb des Verlags erst nach und nach bereinigt werden. Melville-Bezug: Herausgeber ist Melville-Experte Paul Ingendaay; phüh, das war knapp. Und dann noch das ständige Umherziehen, wahrscheinlich auf der Flucht vor den wechselnden lesbischen Liebesbeziehungen, in denen sie nie glücklich wurde.

Bei allem Respekt vor ihrem literarischen Werk sollte uns spätestens das davon abhalten, einen Lebenslauf als Comictexter, Drehbuchschreiber für Hitchcock und so ziemlich einziger Kirimigroßmeister, der noir statt cosy arbeitet, obwohl “er” eine Frau ist, anzustreben.

Das alles, unter anderem ihre lesbische Identität, war 1942 noch nicht zu ahnen. Rolf Tietgens muss ein sehr glücklicher Mann gewesen sein.

Rolf Tietgens, Patricia Highsmith, 1942
Rolf Tietgens: Patricia Highsmith at age 21, 1942

Bilder erscheinen in: Franz Cavigelli, Fritz Senn, Anna von Planta: Patricia Highsmith. Leben und Werk und Andrew Wilson: Beautiful Shadow: A Life of Patricia Highsmith. Vor allem das untere, um das es sichtlich andauernd geht, wird viel schöner, wenn man es groß anzeigen lässt, und liegt hochauflösend vor.

Hausaufgabe: Verfassen Sie 1000 Anschläge über Patricia Highsmith, ohne das Wort “subtil” zu verwenden.

Bilder: Patricia Highsmith Papers aus den 50 laufenden Regalmetern Nachlass im Schweizer Literaturarchiv;
Dmitri Kasterine: The Parting Shot, 1986;
Andrew Wilson.

Written by Wolf

18. February 2008 at 12:01 am

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Moby Sonnendeck

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Update zu sieht ja ulkik aus:

Death and hell are never full
And neither are the eyes of men
Cats can fly from nine stories high
And pigs can see the wind.

Willie Nelson

Name:
1851: Moby Dick
2008: Manned Cloud

Technische Daten:
1851: Bis zu 18 Meter lang, 50 Tonnen, Flukenantrieb, Tintenfische, Fische, Krustentiere, Sauerstoff, Landungen unerwünscht
2008: 210 Meter lang, 82 Meter breit, 52 Meter hoch, Auftriebskörper 520.000 Kubikmeter, 170 km/h, 20 Zimmer, Helium, Landetechnik ungeklärt

Verträglichkeit:
1851: Aggressiv, frisst menschliche Gliedmaßen, versenkt Walfänger, Inbegriff des Bösen
2008: Umweltfreundlicher Antrieb, landschaftsschonend, Restaurant, Bücherei, Fitnessstudio, Bar, Sonnendeck, 15 Angestellte

Status:
1851: Nie gestorben
2008: Noch nicht geboren

Fachliteratur:
1971: Philip José Farmer: The Wind Whales of Ishmael,
Mass Market Paperback
1980: Philip José Farmer: Ismaels fliegende Wale, Moewig

Manned Cloud

Bild: Antje Blinda: Weißer Wal für Luxustouristen
in: Spiegel Online, 4. Februar 2008;
Film: Airshipworld: Massaud — Manned Cloud Hotel.

Written by Wolf

5. February 2008 at 2:00 am

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Lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt

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oder: The White Americans have never really been proud of their own history

Update zu Was man überhaupt noch glauben soll
und Bürgerkriegsware:

Herman Melville und die Deutschen. Belesener Weltbürger, der er war, setzte er eine Momentaufnahme aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe in die dem Wal vorausschwimmenden Extracts:

The papers were brought in, and we saw in the Berlin Gazette that whales had been introduced on the stage there.

Eckermann’s Conversations With Goethe
as quoted in the Extracts for Moby-Dick

Das muss er aus der seinerzeit kursierenden englischen Übersetzung von Margaret Fuller, Boston 1839, haben. Der weite Weg vom Ereignis zu Weimar, Eckermanns Dokumentation, Fullers Übersetzung, Melvilles Kenntnisnahme bis zur Verwendung in Moby-Dick wurde also recht zügig zurückgelegt:

Es kommen verschiedene Zeitungen, und wir sehen in den Berliner Theaternachrichten, daß man Seeungeheuer und Walfische auf dortige Bühne gebracht.

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 31. Januar 1830

Es kommen verschiedene Zeitungen, und wir sehen, dass die Nazis ihren Feiertag gestern hatten. Jenen 31. Januar 1830 verbrachte Goethe mit Eckermann über der Durchsicht seiner Jugendmanuskripte (Götz sieht sehr reinlich aus, Werther ist verloren), und die Berliner Theaterleute spinnen wieder.

Bei belustigtem Zurückblättern gab es schon prekärere Themen im Hause Goethe. 1. September 1829:

Whipped Slave Gordon, 2. April 1863Während aber die Deutschen sich mit Auflösung philosophischer Probleme quälen, lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt. Jedermann kennt ihre Deklamationen gegen den Sklavenhandel, und während sie uns weismachen wollen, was für humane Maximen solchem Verfahren zugrunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Objekt sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie tun und welches man hätte wissen sollen. An der westlichen Küste von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Besitzungen, und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort ausführe. In Amerika haben sie selbst große Negerkolonien angelegt, die sehr produktiv sind und jährlich einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen versehen sie die nordamerikanischen Bedürfnisse, und indem sie auf solche Weise einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die Einfuhr von außen ihrem merkantilischen Interesse sehr im Wege, und sie predigen daher, nicht ohne Objekt, gegen den inhumanen Handel. Noch auf dem Wiener Kongreß argumentierte der englische Gesandte sehr lebhaft dagegen; aber der portugiesische war klug genug, in aller Ruhe zu antworten, daß er nicht wisse, daß man zusammengekommen sei, ein allgemeines Weltgericht abzugeben oder die Grundsätze der Moral festzusetzen. Er kannte das englische Objekt recht gut, und so hatte auch er das seinige, wofür er zu reden und welches er zu erlangen wußte.

Holla, der alte Geheyme Rath (80). Parliert geläufig über die Motive der Sklavenbefreiung. Eine menschliche Existenz gesteht er der Handelsware nicht zu, mich erinnert seine Wortwahl an die Beurteilung der Heuernte, in einer Oberpfälzer Bauernbierschwemme vom Dorflehrer mitgeschrieben beim Versuch, dem Volk aufs Maul zu schauen.

Sehen wir es ihm nach: Auch solche, die der Negerhaltung misstrauten, ich denke da an Herman Melville in Benito Cereno und seinen humoristisch gezeichneten poor old Yorpy aus The happy Failure, nahmen bei allem Wohlwollen für die komische Rasse bestenfalls einen Paternalismus ein, für den sie heute schlicht als glatte Rassisten durchgingen, dabei waren sie in einem Kontext real existierender Sklaverei das Gegenteil davon. Es muss wirklich eine sehr fremdartige Begegnung gewesen sein, als Abendländer auf Stärkerpigmentierte trafen.

Gordon im DienstHerr PJM, der jeden lieben Tag ein Old Picture of the Day ausstellt, hat sehr treffend beobachtet, wie auffallend wenige Bilder von Negersklaven aus der Zeit existieren, als Sklaverei eine lebenserhaltende Industrie darstellte. Wenn überhaupt, zeigen die Bilder entlaufene oder befreite Sklaven, nie aber die zweibeinigen Arbeitstiere im Einsatz. Vielleicht doch ein tiefes Bewusstsein von Unrecht und Schuld bei denen, die sich Sklaven — und dann bestimmt auch Kameras — leisten konnten?

Das dokumentierte Foto zeigt Gordon, nach anderer Quelle Peter, aus Mississippi, der nach seiner Flucht zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs in Baton Rouge, Louisiana vorsprach und erst als Vorzeigeflüchtling, danach als Soldat auf konföderierter Seite Verwendung fand. 1860 waren 47% der Bevölkerung von Louisiana versklavt; 1863 für Gordon immer noch eine Verbesserung seiner Umstände. Nach Louisianas strategischem Wechsel der Kriegsfront durfte Gordon immerhin für seine Interessen eintreten.

Vom misshandelten Arbeitstier zum Kanonenfutter für seine eigene Befreiung. Memo an mich: Bei dem ganzen Wirrwarr aus Unionisten, Konföderierten, Abolitionisten, Southern Unionists und border states steigt heute sowieso kein Schwanz mehr durch; da konnte sich selbst Melvilles Lyrik darüber nur noch ins Lamento retten. Da schaut ein Dialogdrama mindestens so lang wie die Iphigenie raus, Eckermännchen.

Bilder: Scars of a whipped slave, 2. April 1863: Wikimedia Commons;
Gordon in his uniform as a US soldier: Civil War Harper’s Weekly, 4. Juli 1863.

Written by Wolf

31. January 2008 at 12:01 am

Posted in Rabe Stephan

Vorabendvorstellung

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Update zur Seeräuber-Jenny:

Erreichte um 8 Uhr abends Heidleburgh. […] Bestieg um 2 Uhr mittags den Zug nach Frankfort am Maine. […] Nahm um halb elf den Zug nach Wiesbaden, stieg aber versehentlich in Mayence aus — um 2 Uhr. Weiter mit dem Schiff nach Cologne. […] Fuhr durch das Land des Rheinweins. […] Stand um 5 Uhr auf, frühstückte & ging zum Amsterdamer Bahnhof auf der anderen Flußseite. Durch Duselldorff & Utrecht. […] Darüber ließe sich wohl etwas Gutes schreiben, im ironischen Stil.

Herman Melville: Reisetagebuch, 21.—23. April 1857,
nach: Ein Leben, 2004, Seite 478ff.

Was den Film Cabaret von anderen Musikfilmen wohltuend abhebt, ist das Setting im, ja, eben: Cabaret, damit die Figuren ihre Lieder auf einer Bühne singen können, wie sich das gehört, und nicht dauernd unversehens in Gesang ausbrechen müssen. So schaurige Schießbudenfiguren ihn bevölkern, hält ihn das geradezu realistisch.

Das eindrucksvollste Lied des Films ist trotzdem das einzige, das nicht auf einer Bühne performt wird, sondern gerade doch in einem Biergarten geschmettert. Frischen Sie mal Ihr Gedächtnis auf, aber machen Sie sich auf alles gefasst: Es tut heute weher als vor dreißig Jahren, als Sie extra lange aufbleiben durften und sich nur über Liza Minnellis Schimpfkaskaden gefreut haben:

Tomorrow Belongs to Me wurde aus der Musical-Vorlage von 1966 für den 1972er Film übernommen und stammt demnach von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Text), dem Team hinter New York, New York.

Die Melodie orientiert sich an der Wacht am Rhein und dem Horst-Wessel-Lied, zwei durchaus schmissigen Gebrauchsliedern der Nationalsozialisten, so dass der Vorwurf an die beiden Schöpfer laut wurde, sie könnten ihre Nazihymne einen Tick zu ernst gemeint haben. Letztendlich ein Kompliment an ihr Lied, aber genauer besehen haltlos, weil sie von der späten Geburt begnadete Juden waren. Dafür, dass die als neonazistisch eingestufte Kapelle Skrewdriver es für sich entdeckte, konnten sie schon nichts mehr.

Nach der lebhaften Legendenbildung Hollywoods soll die Broadway-Kapazität Mark Lambert das Lied schon eingesungen, nachher aber ihren Auftritt verweigert haben, weil sie sich die Haare nicht blondieren lassen wollte. Im Film erscheint deshalb ein angeblich echter deutscher Statist namens Oliver Collignon. Die deutsche Synchronisation ist sowieso auch technisch ein Graus.

Was erwarten wir von Deutschen in amerikanischen Filmen? Dass sie als dümmlich oder gefährlich dargestellt werden, am besten beides. In dieser auf mehreren Ebenen zermürbenden Dramaturgie bedeutet das einen Gewinn. Nehmen wir es dieses eine Mal hin, die Deppen abzugeben: Zeit und Ort der Handlung sind dort angesiedelt, wo ziemlich viele Deutsche drauf und dran waren, ziemlich viel falsch zu machen.

Das Lied ist auf eine gespenstische Weise mitreißend. Als Ohrwurm ist es wahrhaft gemein.

Der Beste ist sowieso die überschminkte Schwuchtel auf dem Rücksitz am Schluss. Das ist Joel Grey als Conferencier, eine Art spukhafter Begleitmephisto durch den Film. Das war einen der acht Oscars und den Tony Award wert.

Morgen vor 75 Jahren war Machtergreifung. Das können Sie feiern, wenn Sie müssen, aber ohne mich.

Tomorrow Belongs to Me, Cabaret, 1972, Joel Grey

Film: ABC; Bild: Xah Lee.

Written by Wolf

29. January 2008 at 12:01 am

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One Total Inky Blot

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Update zu A Note on “Isle of the Cross”
aus der Reihe Verpasste Jubiläen:

In view of the description given, may one be gay upon the Encantadas? Yes: that is, find one the gaiety, and he will be gay. And, indeed, sackcloth and ashes as they are, the isles are not perhaps unmitigated gloom. For while no spectator can deny their claims to a most solemn and superstitious consideration, no more than my firmest resolutions can decline to behold the specter-tortoise when emerging from its shadowy recess; yet even the tortoise, dark and melancholy as it is upon the back, still possesses a bright side; its calipee or breastplate being sometimes of a faint yellowish or golden tinge. Moreover, everyone knows that tortoises as well as turtle are of such a make that if you but put them on their backs you thereby expose their bright sides without the possibility of their recovering themselves, and turning into view the other. But after you have done this, and because you have done this, you should not swear that the tortoise has no dark side. Enjoy the bright, keep it turned up perpetually if you can, but be honest, and don’t deny the black. Neither should he who cannot turn the tortoise from its natural position so as to hide the darker and expose his livelier aspect, like a great October pumpkin in the sun, for that cause declare the creature to be one total inky blot. The tortoise is both black and bright.

The Encantadas, Sketch Second: Two Sides to a Tortoise,
March 1854, opening

Suddenly, Last Summer, Filmplakat 1959Am 7. Januar vor 50 Jahren, das ist: 1958, wurde der Einakter Suddenly, Last Summer von Tennessee Williams uraufgeführt.

Kennen Sie nicht? Ich auch nicht. Noch dazu gehört das Jubiläum dem Stück nicht mal alleine: Am selben Abend gab es noch den Einakter Something Unspoken, was als Doppelpack Garden District hieß.

Wäre da nicht der Handlungsstrang in der 1. Szene:

Mrs. Venable. One long-ago summer—now why am I thinking of this?—my son, Sebastian, said, “Mother, Listen to this. He read me Herman Melville’s description of the Encantadas, the Galapagos Islands. He said that we had to go there. And so we did go there that summer on a chartered boat, a four-masted schooner, as close as possible to the sort of a boat that Melville must have sailed on. We saw the Encantadas, but on the Encantadas we saw something Melville hadn’t written about.

Obwohl das eher zu Anfang des Stücks vorkommt, war es nachweislich eine der letzten Stellen, die Williams einfügte: Durch Mrs. Venables Monolog zeigt Williams seine Hauptfigur Sebastian nebst Mutter auf den Encantadas, vulgo Galápagos-Inseln, wie sie das üppig sprießende und treibende und wimmelnde Stirb und Werde vom Krähennest ihres Schoners aus beobachten, vor allem wie frisch geschlüpfte Meeresschildkröten unter den Angriffen von flesh-eating birds zum ersten Mal ins Meer krabbeln. Abermals Mrs. Venable:

My son was looking for God, I mean for a clear image of Him. He spent that whole blazing equatorial day in the crow’s nest of the schooner watching this thing on the beach … and when he came down the rigging he said “Well, now I’ve seen Him!”, and he meant God.

Nach Pau Gilabert Barberà:
Literature and Mythology in Tennessee Williams’s
Suddenly Last Summer:
Fighting against Venus and Oedipus
,
Universitat de Barcelona

Schon bald nach Bekanntwerden des Stücks und vor allem des nachfolgenden Films hat James R. Hurt Melvilles Sketch Second über Galápagos-Schildkröten in Suddenly Last Summer: Williams and Melville (ein abgelegener Artikel in Modern Drama III vom Februar 1961) unter einem moralisierenden Gesichtspunkt behandelt, obwohl Melville sich darin ausgesprochen sachlich und wertfrei naturbeobachtend äußert. Das erlaubt uns heute, den Vergleich mit Williams’ moralischem Einakter anzustellen:

Wie alles auf der Welt haben Schildkröten eine helle und eine dunkle Seite — richtig und gut so. Der Mensch aber, der in seinem Leben immer nur eine von beiden Seiten betrachtet, bereitet sich stete Enttäuschung oder gar den Untergang. Bei hellen Tieren sind wir auch schnell beim bekannten weißen Wal, den Ahab nicht als unschuldiges Tier oder, philosophischer, als neutrales Wesen ansieht, sondern als Inbegriff des Bösen. Was er damit anrichtet, ist mythisch geworden. Hören wir James Hurt selbst:

Sebastian’s fascination with Melville’s account is consistent, then, with his own fascination with the primeval and with his own vision of the evil face of God. But ironically Sebastian does not see the other theme of The Encantadas: the theme that the universe will be “one total inky blot” for him who sees it thus. And ironically the world which Sebastian sees mirrored in the spectacle of the turtles and the birds will turn and devour him as it devoured the turtles.

Noch eine Parallele Melville—Williams: Die Kritikerin Carol F. Reppert hat sich nicht der zweiten, sondern achten Skizze aus den Encantadas zugewandt: Sketch Eighth: Norfolk Isle and the Chola Widow, die als eine der schönsten und reifsten Arbeiten Melvilles gilt: Von Norfolk Isle, einer einsamen Insel bei Galápagos, wird eine Schiffbrüchige gerettet, die daraufhin ihre Geschichte voller Entsagungen erzählt. Frau Reppert zieht eine nicht ganz stringente Parallele zwischen Melvilles schiffbrüchiger Witwe Hunilla zu Catharine Holly aus Suddenly Last Summer, beobachtet aber schlagend, dass beider Berichte unbesehen geglaubt werden, nur weil sie überzeugend genug erzählt werden.

Die besondere Qualität aller dieser Werke, die sie zu Weltliteratur machen: Man muss sie selbst zu Ende denken. So lassen sie einen nicht in Ruhe.

Bild: Filmplakat Suddenly, Last Summer, 1959: Fair Use;
Film: Columbia Pictures, 1959.

Written by Wolf

24. January 2008 at 2:55 am

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A thick card was inserted to stiffen them.

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Update zu The still unannotated Melville, Oops und Herba Santa:

Ab den 1930er Jahren wurde das Sammeln von Sammelbildchen durch die zum Teil mit viel Text versehenen und sehr günstigen (Preise um 1 Reichsmark) Alben zu einem Massenphänomen, und die Auflagen der Alben gingen in die Millionen, die der Bilder sogar in die Milliarden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland wurden die Zigarettenbilder vor allem für Propagandazwecke eingesetzt, wie zum Beispiel das Album über den Raubstaat England des Soziologen Ernst Lewalter verdeutlicht.

Cream of Cards, Alice in Wonderland Cigarette Cards, 1930

Bild: Cream of Cards; Text: Wiki.

Written by Wolf

19. January 2008 at 12:01 am

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LiederJan Mayen und die Wahrheit über den alten Flegel

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Elke macht ein Update zu ihrem Und Jan Mayen, der alte Flegel:

Elke HegewaldKennt noch jemand Liederjan?

Ganz am Anfang der Siebziger, als sie noch Irish Folk sangen, nannten sie sich Tramps & Hawkers. Und dass deutsches Volksliedgut oder solches, das eins sein will oder könnt’, auch anders geht als im Musikantenstadl, haben sie in ihrer dreißigjährigen Bühnengeschichte fraglos bewiesen. Sie haben irgendwann sogar angefangen, selber welches zu schreiben. Und dürfen mit Fug und Recht den Titel dienstälteste deutsche Folkgruppe für sich beanspruchen. Obwohl der dritte Mann des Trios zugegebenermaßen in den Jahren mehrmals gewechselt hat. Zum vorerst letzten Mal und zugleich überaus augenfällig, als nach dem Tod eines der beiden verbliebenen Gründerväter (Anselm Noffke) 2003 die erste Lieder-Jana, die in Wirklichkeit Hanne heißt, die Truppe veredelte.

Ihr Markenzeichen sind der gepflegte Satzgesang und die Verwendung exotischer Streich- und Zupfinstrumente, die nicht nur den Mittelalteraffinen und -fininnen unter uns das Herz aufgehen lassen. Oder sind die Zeiten längst vorbei, da die unverbesserlichen Romatiker am Lagerfeuer gern ein Opus dieser Urviecher unter den Volksbarden zur eigenen Klampfe nachträllerten?

Jan Mayen View towards south as seen from the Beerenberg Glacier, picture postcardHa, und deren Angewohnheit, in verstaubten Büchern nach alten, vorzugsweise unbekannten Liedern fürs eigene Repertoire zu kramen, lässt sie nun gar in die Annalen des Moby-Dick-Blogs eingehen. Fiel ihnen doch auch die in norddeutschen Walgründen überaus bewanderte Glückstädterin Wanda Oesau und vor allem deren schmalbrüstiger Jan Mayen, der alte Flegel, in die Hände, hier als — wenn auch weitgehend vages — Fundstück längst verbloggt. Und — tadaaa! — sie haben ihn lebendig besungen, wahrscheinlich als erste und einzige nach den ollen Waljägern anno dunnemals. Auf ihrem antiken Scheibchen Mädchen, Meister, Mönche von 1978 nämlich:

Und Jan Mayen, der alte Flegel

Alle segeln nach dem Norden in das eisigkalte Meer
Rolle, ja rolle, rolle Schifflein hin und her,
tanze, ja tanze, auf dem weltbewegten Meer.

Groß und stolz die Flagge wehet in der Luft am Großmasttopp.
Rolle, ja rolle, rolle Schifflein hin und her,
tanze, ja tanze, auf dem weltbewegten Meer.

Und Jan Mayen, der alte Flegel, ist passiert mit einem Blick.
Rolle, ja rolle, rolle Schifflein hin und her,
tanze, ja tanze, auf dem weltbewegten Meer.

Joan Blaeu-Insula Qvæ Ioanne Mayen nomen sortita estZusammen mit dem “Grönländischen Wachtlied”, einem Einströpher zum Wecken der nächsten Wache, und “Unser Bootsmann”, einem derb-zotigen Spottliedchen auf einen solchen selben ist es dort in der Nummer “Wallieder” zu finden.

Mit diesem Fang erhellt sich uns auch schlagartig und auf überraschende Weise die Identität des alten Flegels. Entgegen naheliegender Vermutungen der Ahnungslos-Unwissenden – und auch wenn die Norwegen-Freunde jetzt aus dem Grinsen über mich überhaupt nicht mehr rauskommen – ist der aktuelle Jan Mayen nämlich kein besoffener Maat von der Art des soeben bespöttelten Bootsmanns. Ein unwirtliches Eiland ist’s, gelegen sehr, sehr nördlich, zwischen Grönland und Spitzbergen, und den alten Walfängern als Wegweiser auf stürmischer See dienend:

Und Jan Mayen, der alte Flegel, ist passiert mit einem Blick…

sangen sie in ihrem Shanty, wenn sie, womöglich in den Wanten schindernd, an ihm vorbeisegelten. Hei, doch seinen Namen hat es von einem Walkapitän, wie der finstere Ahab einer war: dem Niederländer Jan Jacobs May van Schellinkhout (genannt Jan May), der sich zwischen 1614 und 1635 gelegentlich auf der Insel herumtrieb.

Ismael und seine Kameraden haben Jan Mayen Island nie gesehen, jedenfalls nicht auf der Jagd nach Moby Dick. Die Pequod segelte auf der andern Seite der Welt entlang, gen Süden. Und endete irgendwo da hinter Australien…

Aber dafür kann der alte Jan Mayen nix.

Bilder: Vidar’s Jan Mayen Page;
Joan Blaeu (Amsterdam 1596—1673):
Insula Qvæ Ioanne Mayen nomen sortita est;
RGBfoto.
Film: Liederjan: Auswandererlied, WDR Folkfestival, 1978.

Written by Wolf

13. January 2008 at 12:01 am

Das Land der Kuhjungen mit der Seele suchen

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Update zu Amiot! und Alle lieben Bartleby
(und Das Land der Deutschen mit der Seele suchen):

Manu Larcenet, Hundejahre. Die wundersamen Abenteuer von Sigmund Freud, 2001Sigmund Freud, Kind vom 6. Mai 1856, verlegte nach einer ausgiebigen Praxis der Psychoanalyse an neurotischen alten Wiener Schachteln den Schauplatz seiner Seelenforschung in den Wilden Westen.

Manu Larcenet, Kind vom 6. Mai 1969, macht die unbewussten Tatsachen dramaturgisch schlüssig. Vor allem auch die Nebenerscheinung, dass im Indianergebiet kaum jemand auf Verhaltensmuster seiner Kindheit festzunageln ist, vielmehr allzu bereitwillig Koriander gegen halluzinogene weiße Pilze, rote Kräuter aus den Hügeln und Maismehl eintauscht.

Die Weißen werden Krieg gegen die Inhaber echter Seelen führen. Nicht den mit Gewehren, das tun sie ohnedies, und es wird vorübergehen. Ihre schlimmste Waffe werden die Krötenhäute sein, Geldscheine, die ihnen erlauben, auf einem Boden zu marodieren, den ihre Füße nie kennen werden. Wenn die mit den Seelen eines Tages nichts mehr haben, werden auch sie diese Seelen annehmen, um noch eine Weile zu überleben. Dann haben die anderen gewonnen. “Ist es das, was du willst, Vetter Hund? Eine Siegerseele?” — Spot, der Hund auf der Suche nach seiner Seele, meint mit Seele etwas anderes als der angegraute Doktor seiner selbsterfundenen Disziplin mit Psyche.

Glaube mir, liebes Kind:
Wenn man einmal in Sansibar
Und in Tirol und im Gefängnis und in Kalkutta war,
Dann merkt man erst, daß man nicht weiß, wie sonderbar
Die Menschen sind.

Deine Ehre, zum Beispiel, ist nicht dasselbe
Wie bei Peter dem Großen L’honneur. —

Joachim Ringelnatz: Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vom dem Wilberforcemonument in: Kuttel Daddeldu, 1923

Manu Larcenet, Hundejahre. Die wundersamen Abenteuer von Sigmund Freud, 2001, Seite 7

Bilder: Repodukt.

Written by Wolf

26. December 2007 at 12:01 am

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Herz des Positivismus

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Update zu Was man überhaupt noch glauben soll:

Das Garn der Seeleute ist von einer rückhaltlosen Einfältigkeit, deren ganzer Sinn in einer aufgeknackten Nußschale liegt. Aber Marlow war nicht typisch (wenn man von seiner Neigung, ein Garn zu spinnen, absieht), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht in dieser eingeschlossen wie der Nußkern, sondern draußen, rings um die Geschichte, die ihn lediglich sichtbar machte, so wie eine Feuersglut einen Dunst sichtbar macht — ähnlich einem jener Schleierhöfe, die mitunter im gespenstischen Licht des Mondscheins sichtbar werden.

Joseph Conrad: Herz der Finsternis 1899/1902,
Übersetzung von Urs Widmer 2004.

Joseph Conrad, rätselhafte ZeichnungMarlow darf Conrad den vorgeschobenen Rahmenerzähler machen, all seinen Rassismus schultern und sich dann noch einfältig schimpfen lassen. Gut, dass Novellenfiguren so wehrlos sind und ihrem Schreiber nur dann was husten können, wenn er es entweder so einbaut oder Flann O’Brien ist.

Mal ganz langsam mitdenken.

Der Sinn einer Begebenheit wohnt ihr nicht inne, sondern umwabert sie.

Der Sinn wäre demnach nicht kleiner, sondern größer als eine Begebenheit.

Der Sinn einer Begebenheit ergibt sich also nicht zwingend aus ihr, vielmehr ist eine Begebenheit einer von vielen Wegen, die zu ihrem Sinn führen.

Der Sonderfall, den eine Begebenheit darstellt, führt zu einem Allgemeinen, ihrem Sinn. In der Lehre von der Folgerichtigkeit des Denkens, vulgo Logik, nennt man das Induktion.

Im Positivismusstreit von 1961, den vor allem Karl Popper gegen Theodor W. Adorno anzettelte, wollte Popper neue Theorien innerhalb der Sozialwissenschaften ausschließlich anhand des Kritischen Rationalismus gebildet sehen. Grob gesagt, darf danach innerhalb der Sozialwissenschaften, sofern sie den Status einer Theorien bildenden Wissenschaft einnehmen wollen, ausschließlich induziert, niemals deduziert werden. Man sagt entlang der klassischen Syllogistik:

Praemissa maior: James Wait ist ein Nigger.
Praemissa minor: James Wait ist doof.
Conclusio: Nigger sind doof.

Timthy Lantz, Her Heart of Darkness, 2007Das wäre anhand des Beispiels einer anderen Novelle von Joseph Conrad, die mit selbstverständlich rein stilistisch gemeinter Gottgegebenheit das böse N-Wort für stark pigmentierte Leute verwendet, eine zulässige Induktion. Der Klassiker “In Holland erscheint mindestens eine Kuh mindestens drei Menschen von mindestens einer Seite schwarz” hätte auch funktioniert, aber es geht ja um Joseph Conrad und Karl Popper. Hören wir dem letzteren zu:

Sechste These (Hauptthese):
a) Die Methode der Sozialwissenschaften wie auch die der Naturwissenschaften besteht darin, Lösungsversuche für ihre Probleme — die Probleme von denen sie ausgeht — auszuprobieren.
Lösungen werden vorgeschlagen und kritisiert. Wenn ein Lösungsversuch der sachlichen Kritik nicht zugänglich ist, so wird er eben deshalb als unwissenschaftlich ausgeschaltet, wenn auch vielleicht nur vorläufig.
b) Wenn er einer sachlichen Kritik zugänglich ist, dann versuchen wir, ihn zu widerlegen; denn alle Kritik besteht in Widerlegungsversuchen.
c) Wenn ein Lösungsversuch durch unsere Kritik widerlegt wird, so versuchen wir es mit einem anderen.
d) Wenn er der Kritik standhält, dann akzeptieren wir ihn vorläufig; und zwar akzeptieren wir ihn vor allem als würdig, weiter diskutiert und kritisiert zu werden.
e) Die Methode der Wissenschaft ist also die des tentativen Lösungsversuches (oder Einfalls), der von der schärfsten Kritik kontrolliert wird. Es ist eine kritische Fortbildung der Methode des Versuchs und Irrtums (“trial and error”).
f) Die sogenannte Objektivität der Wissenschaft besteht in der Objektivität der kritischen Methode; das heißt aber vor allem darin, daß keine Theorie von der Kritik befreit ist, und auch darin, daß die logischen Hilfsmittel der Kritik — die Kategorie des logischen Widerspruchs — objektiv sind.
Man könnte die Grundidee, die hinter meiner Hauptthese steht, vielleicht auch folgendermaßen zusammenfassen.
Siebente These:
Die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen führt zum Problem und zu den Lösungsversuchen. Aber sie wird niemals überwunden. Denn es stellt sich heraus, daß unser Wissen immer nur in vorläufige[n] und versuchsweisen Lösungsvorschlägen besteht und daher prinzipiell die Möglichkeit einschließt, daß es sich als irrtümlich und also als Nichtwissen herausstellen wird. Und die einzige Form der Rechtfertigung unseres Wissens ist wieder nur vorläufig: Sie besteht in der Kritik, oder genauer darin, daß unsere Lösungsversuche bisher auch unserer scharfsinnigsten Kritik standzuhalten scheinen.
Eine darüber hinausgehende positive Rechtfertigung gibt es nicht. Insbesondere können sich unsere Lösungsversuche nicht als wahrscheinlich (im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung) erweisen.
Man könnte diesen Standpunkt vielleicht als kritizistisch bezeichnen.

Karl R. Popper: Die Logik der Sozialwissenschaften,
in: Der Positivismustreit in der deutschen Soziologie,
1961/1993, Seite 105f.

Und ob man das könnte. Alles was man sich zu wissen einbildet, sei einer fortgesetzten Selbstfrustration unterworfen, werde so lange kritisiert, bis es widerlegt ist, ansonsten sei es Nichtwissen. Induktion. Die einzig zulässige Art des Wissens. Kein Wunder, dass man so, ohne sich auf jemand anders außer sich selbst zu berufen, Streit anzettelt.

Marlow aus dem Herz der Finsternis, der unbedarfte Seebär, weiß davon nichts, er induziert einfach so, weil es ihm liegt. Das macht ihn jedenfalls nicht ganz so einfältig wie Poppers Widerpart Adorno. Eine wie depressive Persönlichkeitsstruktur man jedoch dafür braucht, beginnen wir nach Poppers Hauptthese ganz vage zu ahnen.

Induktiver Logiktest:

Praemissa maior: Sokrates war ein Mensch.
Praemissa minor: Synchronschwimmer sind Menschen.
Conclusio: Sokrates war Synchronschwimmer.

Gut, lassen wir Popper den einen Punkt. Mir schwindelt. Zu Ende denken können Sie ab hier selbst. Wenn mich jemand sucht, ich bin was Unverfängliches gucken.

Bilder: Joseph Conrad: gemeinfrei;
Her Heart of Darkness: Timothy Lantz, 2007;
Film: Steamboat Willie, die Erscheinung der Maus, 1928.

Written by Wolf

17. December 2007 at 4:07 am

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Call me Fishmael

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Update zu (… und hört schon auf, mich dauernd Ismael zu nennen):

Volker Jahr berichtet in der Lesemaschine seit Aberwochen darüber, wie er Georg Forster: Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand nicht liest. Man hat schon weit Unspannenderes mitverfolgt.

Salzte James Cook nach?

“Stattlich und feist erschien James Cook am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen.”

Das könnte der erste Satz im hochpreisigen Forsterband sein: Forster beobachtet seinen Kapitän aus der Kajüte heraus bei der Morgentoilette, während er selbst über einer Tierzeichnung brütet. Aber vielleicht auch nicht. Ich habe ja keine Ahnung, bis Weihnachten ist es noch lang und ich habe damit begonnen, mir mögliche Buchanfänge auszudenken, um nicht in völliger Duldungsstarre ausharren zu müssen. Waren die Forsters zum Essen in der Offiziersmesse zugelassen? Dann könnte der erste Satz lauten James Cook salzte nach. Aber auch dies eher unwahrscheinlich, denn dann hätte er ja heimlich bei Grass abgeschrieben und den alten Zausel so vor 200 Jahren schon salonfähig gemacht.

Ich fange noch mal von vorne an und variiere ein wenig, vielleicht geht es ja mit einer Selbstbeobachtung los:
Stattlich und feist stand ich am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Könnte passen, denn Forster schien einen Hang zur Fettleibigkeit aufzuweisen, wie die Notiz eines Zeitgenossen in seinen späteren Jahren nahe legt: “Er war dicker geworden, dicker denn je. Die Knöpfe vom Halskragen seiner Hemden sprangen ab.” Aber kann diese Anlage angesichts der Schiffszwieback-und-Pökelfleisch-Diät auf der Erdumrundung zum Tragen gekommen sein? Doch wohl eher nicht.

Hat er seinen Bericht möglicherweise mit einem Nachruf auf seinen schwierigen Vater begonnen?
Heute ist Papa gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.
Unsinn, denn Reinhold Forster hat die Reise ja lebendig beendet und seinen Sohn letztlich sogar überlebt. Vielleicht hat er stattdessen seine der fliegenden Gicht geschuldete Unfähigkeit porträtiert, an den allmorgendlichen Bordspielen teilzunehmen:
Reinhold Forster war schon vierzig Jahre alt und immer noch so langsam, dass er keinen Ball fangen konnte.
Nein, das klingt zu uninteressant für einen Buchanfang, aber lagen in dieser Verweigerung eventuell die gegen Reinhold Forster verhängten Sanktionen begründet und wurden vom Sohn sogleich literarisch verarbeitet?
Jemand musste Reinhold verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Könnte schon eher zutreffen, wenn man sich anschaut, dass sein Vater mehrmals von Cook unter Kajütenarrest gestellt worden ist.
Oder breitet Georg zum Anfang minutiös seinen Tagesablauf vor uns aus?
Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Auch das nicht unwahrscheinlich, denn was soll man ohne Fernseher, I-Phone und Internet in seiner kleinen Kabine schon anfangen, 1111 Tage lang.
Luana, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden… Denkbar, möglicherweise hatte er ja auf einer der angesteuerten Südseeinseln nach einem Landgang was am Laufen, der Junge war 17 und auf einem Schiff voller Männer unterwegs, aber würde man so einen wissenschaftlichen Reisebericht beginnen?

Ich sehe schon, das bringt alles nichts, ich sollte einfach geduldig abwarten und mich wie ein Maulwurf langsam aber stetig auf die greifbar nahen Festtage zubewegen. Jan Schumacher vom Eichborn-Verlag ist zum Punkt geworden, ich bin eine Linie. Ich komme voran.

Kaufen, kaufen, kaufen (in dieser Reihenfolge):

Und für mich einmal den Forster, bitte.

Written by Wolf

15. December 2007 at 12:01 am

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Happy Birthday nachträglich,

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Emily Dickinson.

If I can stop one heart from breaking,
I shall not live in vain:
If I can ease one life the aching,
Or cool one pain,
Or help one fainting robin
Unto his nest again,
I shall not live in vain.

Quasi als Update zu Das Schwirren eines Vogels auf Blütenblättern, der Aufprall einer Nippesfigur auf dem Fußboden, Teil 2, wurde erst anno 2000 die angeschlossene Photographie von ca. 1850 entdeckt.

Und zwar auf Ebay. Es ist das zweite Foto von Emily Dickinson, das je bekannt wurde.

Sogar erst vor zehn Minuten wurden ihre sämtlichen Gedichte entdeckt, aber nur von mir… Wenn man sich die .zip-Datei saugt, was wegen ausgelaufenem Copyright legal sein sollte, kann man sich die 2006er Hanser-Ausgabe ihrer Gedichte sparen, was trotzdem schade wäre. Die ist nämlich zweisprachig.

Das lebenslange Fräulein Barfuß-Dichterin wird mir die paar Stunden Verspätung nachsehen. Sie war eh ein so wenig greifbares Wesen.

Probably Emily Dickinson, ca. 1850

Die Bildrechte an Emily Dickinson bleiben trotz der mehr als 70 Jahre post mortem auctoris wie immer bei ihren Inhabern.

Written by Wolf

11. December 2007 at 2:06 am

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So dürft ihr nach eurem eigenen Gesetz heute nicht hier stehen, sondern müsstet alle tot sein, wenn euer Gesetz wahrhaftig wäre

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Update zu Über die Magie des Bösen:

Ich möchte nun zu gerne wissen, wer es war, der den Befehl gab, mich festzunehmen und zu hängen. Ich lebte friedlich dort mit meiner Familie im Schatten der Bäume und tat genau das, was General Crook mir geraten hatte zu tun. Ich habe oft um Frieden gebeten, aber Ärger kam immer von den Agenten und Dolmetschern. Ich habe nie Unrecht ohne Grund getan, und wenn ihr von Unrecht redet, oder auch nur an Unrecht denkt, so tätet ihr besser daran, an das Unrecht zu denken, das ihr dem Roten Manne zugefügt habt, und das tief und weit wie ein Ozean ist, durch den niemand mehr waten kann, ohne darin zu ertrinken.

Geronimo bei San Bernardino Springs
zu General George Crook, 25. März 1886.

Je ne suis pas d’accord avec ce que vous dites, mais je me battrai jusqu’à la mort pour que vous ayez le droit de le dire.

Voltaire

Skull & Bones LogoGeorge Walker Bush, der erste ungewählte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, hat noch nie in seiner Amtszeit, wozu er die Befugnis und eine moralische Verpflichtung hätte, eine einzige Begnadigung von einer Todesstrafe ausgesprochen. Vielmehr hat er auch Frauen, geistig Behinderte und Minderjährige braten lassen. Seinen Erbfeind Saddam Hussein, erst ein Verbündeter der USA, später Kriegsgegner seines Vaters George Herbert Walker Bush, hat er als den Inbegriff des Bösen, nicht wesentlich über dem Satan stehend, stilisiert. Husseins Strafverteidiger Ramsey Clark, früherer Justizminister und schon Verteidiger von Slobodan Milošević, spricht nicht von einem Prozess, sondern einer Zirkusnummer mit ziemlich vielen Clowns und festgelegtem Ausgang (“Wir brauchen keinen Prozess, sondern eine Hinrichtung!”).

Geronimo, 76Ferner gehört George Walker Bush jun. der diskreten Gesellschaft Skull & Bones an, die der Yale University angeschlossen ist und über deren Gebräuche man naturgemäß nicht viel weiß, außer dass ihre Mitglieder bei der Initiation Blut aus einem Schädel trinken, und das vermutlich nicht, um ihre besondere Friedfertigkeit zu demonstrieren. Besonders geeignet schien Bushs Großvater, dem Senator Prescott Bush, dafür der Schädel des Apachenhäuptlings Geronimo; er stahl ihn 1918 aus dem Grab in Fort Sill bei Oklahoma und schenkte ihn seinen Mit-Bonesmen. Himmelangst kann einem werden, wenn man Ismael bekennen hört: “A whale-ship was my Yale College and my Harvard.”

Persönlich imponiert mir in dem ganzen Gruselkabinett Ramsey Clark: Der äußert sich so missbilligend wie jeder moralisch Empfindende auch über seine Schützlinge, steht aber nicht an, einige der schlimmsten Verbrecher der Welt zu verteidigen, weil sie ein Recht auf einen fairen Prozess haben — einzig aus dem Grund, dass sie, was schwer zu widerlegen wäre, Menschen sind und den Menschenrechten unterliegen. In der Bewertung meiner weiland Facharbeit über Günter Wallraff: Ganz unten hat mir mein Deutschlehrer “engagierte Sachlichkeit” bescheinigt und nur den letzten von 15 möglichen Punkten verweigert: weil ich nicht deutlich genug zwischen Äußerungen der “linken” und “rechten” Presse unterschieden hatte. Dabei wäre mir unwohl gewesen. Wichtiger finde ich heute noch das positiv moralische Handeln nach Kant, das sich von der Kohlschen Überbewertung dessen, “was hinten rauskommt”, durch knochenharte Stringenz in der Pflichterfüllung unterscheidet:

Der Begriff der Pflicht fordert also an der Handlung, objektiv, Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber, subjektiv, Achtung fürs Gesetz als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe.

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1788

Ab 1952 hieß das: A man’s gotta do what a man’s gotta do. Es gibt nämlich auch anständige Amerikaner. Schon der allerfrüheste Donald Duck sah am Ende seines ersten Filmauftritts 1934 die Fragwürdigkeit seines Tuns ein und bestrafte sich gegenseitig mit seinem Kompagnon selbst.

Bild: Skull & Bones Logo, Geronimo: Public Domain;
Film: The Wise Little Hen, 1934.

Written by Wolf

10. December 2007 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Das Bild zur Geschichte hinter der Geschichte

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Update zu The Life of Moby and the Death of Mocha:

Stephan hat gestern den Originalartikel aus dem Independent beigebracht. Musste auf drei Mal gescannt werden, das Mittelstück davon einzupassen war das Gesellenstück für einen DTP-Redakteur, dafür können Sie den Text vom 4. Dezember jetzt durch einfaches Anklicken groß stellen. Sieht doch viel besser aus.

The stories behind some of literature’s best-known novels, The Independent, 26 November 2007

Written by Wolf

9. December 2007 at 12:01 am

Posted in Rabe Stephan

Wo der Nikolaus wohnt

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Vom Seeleuteretten, Kinderbeschenken
und Urlaubmachen

Elke hat fast das Christkind gesehen und macht ein Update zu Stephans Only that day dawns to which we are awake:

Elke HegewaldDurch die Landschaft von Lykien in der heutigen Türkei fließt das Flüsschen Myros. Nicht weit von der Stelle, wo der Myros in das Mittelmeer mündet, liegt das Städtchen Patara. Das Städtchen liegt dort schon sehr lange, ist voll von Geschichte und deren Ruinen, voll von wundersamen und wundertätigen Legenden.

Ich bin dort gewesen, vor ein paar Jahren, in einem Urlaub zwischen Ruhe und Abenteuer fernab vom wuselnden Touristentrubel. Patara liegt für mich am Ende eines unvergesslichen Tages, an dem ich an eben jener Mündung des Myros aus einem Kanu stieg, das mich flussabwärts dorthin getragen hatte. Die Haut von der Sonne verbrannt und die Fußsohlen vom kochendheißen Sand an einer Schwefelquelle in der Wildnis. Deren heilsamer Schlamm war uns nach dem Bade in der Gluthitze vom Leib geplatzt, bevor wir, gefühlte Halbwilde, uns in einem Teich mit silberklarem Nass wieder in Zivilisationsmonster verwandelten. Ein bisschen erschöpft vom Fulltime-Manövrieren mit dem Stechpaddel und den Aufregungen beim Umschiffen tückischer Baumstämme und Überwinden harmlos sprudelnder Stromschnellen stand ich am Meer – atemlos. Denn zur Rechten streckte die Sonne grad den großen Zeh in die See und vor mir, auf dem Weg zum Wasser, lag – ein riesiger Teppich aus strahlend weißem, feinem Sand, wie ich noch nie einen gesehen hatte. Ein Paradies. Feenstaub, in den man die Zehen wühlen musste. Und sie ließen ihn auch dann nicht los, als die Wellen die Füße umspülten, die weit, weit in das flache nasse Glitzern hinauswaten konnten… am Strand von Patara.

Hl. NikolausSommer, Sonne und Wasser – man mag es nicht glauben, dass gerade von dorther der Alte kommt, aus dem wir den Rauschebart mit dem roten Mantel gemacht haben, der den Kindern Süßes in die Schuhe steckt. Und doch hat es den Heiligen Nikolaus wirklich gegeben. Und in “meinem” Patara ist er vor fast zweitausend Jahren geboren. Allzu viel weiß man allerdings nicht über ihn und Belegtes gibt es kaum, dafür Legenden zuhauf. Scho recht, wie es sich halt für den Nikolaus gehört, möchte man beinahe sagen. Als Bischof von Myra – das ist da gleich um die Ecke – soll er ein richtiger Powertyp gewesen sein und in dieser Eigenschaft viel Gutes an den Menschen getan haben: Jungfrauen vor dem Los der Prostitution gerettet, Hinrichtungen verhindert, verschleppte Kinder heimgeführt oder gegen den Hunger Korn vermehrt.

Auf dass solches fortdauere, wurde er von aller Welt als Schutzpatron erkoren. Eine Tatsache, die ich schon deshalb sehr begrüße, weil sie mich endlich die Kurve kriegen lässt und rechtfertigend den Bogen schlagen zu Moby-Dick. Denn der Heilige Nikolaus von Myra ist auch der Schutzheilige der Fischer und Seeleute, aus gutem Grund. War er doch neben sonstigen Wundertaten kompetent, Seestürme zu stillen, die Segel zu sortieren und die Navigation zu übernehmen.

Der Mannschaft der Pequod hats allerdings nix genützt. Vielleicht weil sie mehrheitlich Quäker waren und auch sonst nicht die richtige orthodoxe Religion hatten? Hm, ich versteh ja als religionsfernes Mädchen nicht so viel davon, aber sollte ein Patron nicht ohne Ansehen der Person schutzheiligen? Also ich glaub ja, dem hat der Ahab dazwischengepfuscht – welcher heilige Beschützer will schon den Satan retten? Und Herr Melville hatte da wohl auch ein Wörtchen mitzureden. Obwohl er das – so – wahrscheinlich nie zugegeben hätte…

Ich weiß, meine Niklausgeschichte kommt einen Tag zu spät. Wünsche trotzdem allen, was zum Naschen im Schuh gehabt zu haben. Nikolaus sei Dank!

Ach ja, und fahrt mal nach Patara.

Nikolausschiff

Bilder: Tintoretto: Nikolaus von Myra via Christkindls Weihnachtsseiten;
Lorenzo Monaco, 15. Jahrhundert: Nikolaus rettet die Schiffbrüchigen,
Galleria dell’ Academia Venecia via Die Kelten.

Written by Wolf

7. December 2007 at 4:39 am

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The Life of Moby and the Death of Mocha

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Update for Zwischen Elephant Island und den Jagdgründen von Mocha Dick:

Stephan did some research and found in The Independent from 26 November a collection of insider knowledge to what we all have read since we can read. Beside the following paragraph about Moby-Dick, there are bits to Joseph Heller: Catch-22 (1961), PG Wodehouse: My Man Jeeves (1919), F Scott Fitzgerald: The Great Gatsby (1925), George Orwell: Nineteen Eighty-Four (1949), Vladimir Nabokov: Lolita (1955), William Shakespeare: Hamlet (c. 1600), Jules Verne: Around the World in Eighty Days (1872), TS Eliot: The Waste Land (1922), and Anthony Burgess: A Clockwork Orange (1962). One, two:

The stories behind some of literature’s best-known novels

Stephan De Maria

Moby-Dick (1851)

Moby-Dick was a real whale. In the days when whales were not sages of the deep but floating oil repositories, sailors would give names to individual whales who were particularly dangerous or unkillable. One of the most famous was “Mocha Dick”, named after the island of Mocha off the Chilean coast. An albino sperm whale (like Moby-Dick), Mocha Dick was said to have drowned over 30 men, sunk five ships and been harpooned 19 times, which probably accounted for his mood.

Herman Melville’s chief source was an article by Jeremiah N Reynolds in the Knickerbocker Magazine of 1839 entitled “Mocha Dick Or, the White Whale of the Pacific”. He also took from the article the ship’s name the Penguin, changing it to the Pequod.

The change from Mocha to Moby is more difficult to explain. It may have had its origin in another project that was on Melville’s desk at the time he was writing his whale story: this was “The Story of Toby” about a seafaring friend, Tobias Greene. It may be that “Toby” influenced the change from Mocha Dick to Moby-Dick.

So much for the title of Moby-Dick, one might think. But there is an odd twist in the tale. Moby-Dick was not the title of the book at all. The title was The Whale when it was first published in London by Richard Bentley on 18 October 1851. Now rare, the English edition was substantially different textually from the American Harper edition, which followed later on 14 November 1851, and bore the familiar title Moby-Dick.

And, as if to give its imprimatur to the true, the pure American edition, an odd circumstance heralded its publication. On 5 November 1851, just nine days before its appearance, news reached New York that the whaler Ann Alexander, out of New Bedford, had been rammed and sunk by a whale. Despite stories of vicious and malignant whales, this was still a rare event, and the news spread rapidly throughout the globe.

Melville could barely hide his glee. On 7 November he wrote animatedly to his friend Evert Duyckinck: “Crash! comes Moby Dick himself, & reminds me of what I have been about for part of the last year or two. It is really & truly a surprising coincidence – to say the least. I make no doubt it IS Moby Dick himself, I wonder if my evil art has raised this monster.”

Randall Enos, The Life and Death of Mocha Dick. A Suite of Linoleum Cuts

Image: Randall Enos: The Mocha Dick Project: A Suite of Linoleum Cuts. Cover.

Written by Wolf

4. December 2007 at 1:05 am

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Life and Death and All That’s Bittersweet

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Update for Carroll, Milton, and Proust in the Blogroll:

Amanda Palmer, yes, exactly the Amanda Palmer of the Dresden Dolls, recommends: Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern kann, in English, of course: How Proust Can Change Your Life:

it’s been years since i read this one but i so loved it that i went out and bought 5 copies and started shoving this book into folks’s hands. alain writes a bit like bill bryson, pick topic: go, talk about life and death and all thats bittersweet and wrap it all up in a very tasty philisophical pastry shell. reading like a mockery of a self-help book, the jumping off point is proust and his tragicomic life and Work (there was really just the one book….) and the insights are so wide, deep and hilarious that you too will want to force this book on all your loved ones.

Amanda Palmer’s current Myspace recommendation

Helpful Links:

Amanda Palmer reading her fanmail

Image: Amanda Palmer reading her fanmail.

Written by Wolf

29. November 2007 at 12:01 am

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Children of the future Age/Reading this indignant page,/Know that in a former time/Love! sweet Love! was thought a crime.

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Update for Astrid Lindgren:

Every night, and every morn,
Some to misery are born.
Every morn, and every night,
Some are born to sweet delight.
Some are born to sweet delight.
Some are born to endless night.

William Blake: Auguries of Innocence, 1800—1803, published 1863

William Blake by Thomas PhillipsWilliam Blake was born in Broad Street (now Broadwick Street), Soho, London, on 28th November 1757, and died, less than a mile away, in Charing Cross, on 12th August 1827, singing songs of joy and triumph.

In his lifetime he was largely unrecognised, but if ever there was an artist who became happy with what he created and how he had been blessed to live, it was William Blake. Among the things he invented is the principle to print on demand and a strange illustration technique called relief etching that was not fully comprehended before 1947.

His system of “print on demand” allowed some of his works to be reproduced posthumously: With a little help from his friends, he continued creating original copies even after his death. Among his numerous talents is second sight. His happiness is due to his rich sexual life, which is hinted all over his works. For a great part of his time on earth, he may be imagined etching copper plates with his own poems and pictures: A labouring and loving man he was.

William Blake, Europe Supported By Africa and America, 1796In the years since his death he has become one of the most famous and influential artistic figures in English history, rivalling even Charles Dickens as the greatest English literary figure since William Shakespeare.

There is no “correct” Blake, but only the Blake which one personally needs. Those who come under his spell emerge with not only with the benefit of his artistic prowess and power, but with a greater understanding of themselves. As such, whether he is merely the messiah of the written word, or in fact a conduit for some deep and personal spiritual growth, William Blake’s influence has filtered through into every aspect of contemporary art, from poetry and prose, to popular music, film, theatre, and multimedia.

German booktrade has not exactly dislocated its arm to celebrate Mr. Blake’s quarter chiliad. At least Matthes & Seitz have republished a bilingual edition of his Montypythonesque juvenilium An Island in the Moon/Eine Insel im Mond.

Images: William Blake: by Thomas Phillips; Europe Supported By Africa and America, 1796.

Written by Wolf

28. November 2007 at 12:01 am

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Something it would be hard to imagine the real Moby being caught dead doing

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Update zu Die Katze, die sich nicht nass machen will, fängt keinen Fisch:

Bis Mitte der 1960er hatten die Hanna-Barbera-Studios — die mit Tom & Jerry und Familie Feuerstein — genug Funny-Animal-Zeichentrickfilme produziert, dass das Genre erschöpft schien und man mit Superhelden experimentierte. Der erste nach der Mischform Atom Ant 1965 war Space Ghost ab 1966. Nach dessen Erfolg wurde The Mighty Mightor nachgeschossen, der zusammen mit Moby Dick ab 9. September 1967 das halbstündige Morgenprogramm bei CBS bestreiten durfte.

Der Mightor war als typischer Durchschnittssuperheld mit Maske, Umhang und ahnungsloser Freundin konzipiert. Die üblichen Strumpfhosen blieben ihm erspart, weil er ein Höhlenmensch sein sollte; in seiner alltäglichen Identität namens Tor war er eher ein Höhlenteenager.

Die Serie umfasste an einen Opener angeschlosse zwei Staffeln mit insgesamt 36 Folgen, manche mit Crossover-Auftritten von Space Ghost und anderen. Das Merchandising hat eine überschaubare Fangemeinde. Die Serie selbst wird bis heute gelegentlich wiederholt.

Hanna-Barberas Umgang mit Moby Dick als Zeichentrickfigur ist nicht anders als lieblos zu nennen. Als back segment für den Mighty Mightor wurde einfach eine allgemein bekannte Figur gebraucht, möglichst fertig vorcharakterisiert und für Unterwasserabenteuer verwendbar — und zwar bitteschön gemeinfrei.

Dem Zeichentrick-Moby haftet nichts von Melvilles symbolträchtigen Konzept an. Freundlich und rundlich hilft er einem Paar Streber Tom und Tub beim Wracktauchen gegen ein paar handlungsstiftende Angriffe und erinnert darin am ehesten an Flipper. Ein Verlegenheitscharakter, der es auch nicht zu einer eigenen Comicserie brachte, nur zu Crossovers mit Dino Boy in the Lost Valley, Birdman und Young Samson. Als Ehrenrettung sei zugegeben: Es hat auch nie jemand einen anderen Anspruch erhoben. Den Kampf hat Moby Dick, eine letzte Abweichung von Melville, verloren.

Links:

Moby Dick 1:

Moby Dick 2:

Moby Dick 3:

Written by Wolf

26. November 2007 at 4:54 am

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Tjolahopp tjolahej tjolahoppsan sa

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 Astrid Anna Emilia Ericsson som konfirmandWarum war 2007 eigentlich kein anständiges Astrid-Lindgren-Jahr? Es ist ein Skandal. Zum 150. Geburtstag dann aber schon, hm?

Die Ur-Pippi-Langstrumpf auf Deutsch seit August bei Oetinger.

Här kommer Pippi Långstrump,
tjolahopp, tjolahej, tjolahoppsan sa.
Här kommer Pippi Långstrump,
ja här kommer faktiskt jag.

Har du sett min apa,
min söta, fina, lilla apa?
Har du sett Herr Nilsson?
Ja han heter faktiskt så.
Har du sett min villa,
min Villa Villekullavilla?
Vill å vill du veta,
varför villan heter så?

Jo, för där bor ju Pippi Långstrump,
tjolahopp, tjolahej, tjolahoppsan sa.
Där bor ju Pippi Långstrump,
ja där bor faktiskt jag.

Det är inta illa,
Jag har apa häst och villa,
En kappsäck full med pengar,
är det också bra att ha.
Kom nu, alle vänner,
Varende kotte som jag könner,
nu skal vi leva loppan,
Tjolahej tjolahoppsan sa.

Här kommer Pippi Långstrump,
tjolahopp, tjolahej, tjolahoppsan sa.
Här kommer Pippi Långstrump,
ja här kommer faktiskt jag.

Danke für alles, Frau Lindgren.

Bild: Astrid Anna Emilia Ericsson som konfirmand, 1920: Svensk officiell webbplats;
Interview: Hylands hörna, 1970;
Lied: Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza (im Film: Schokominza) Efraimstochter Langstrumpf, i.e. Pippilotta Viktualia Rullgardina Krusmynta Efraimsdotter Långstrump.

Das Beste wie immer im Bonusmaterial:

Mors Lilla Lathund; Sommarsången; Sjörövar Fabbe. — Nach aufsteigender Putzigkeit geordnet. Ruhig die 4 Minuten 14 durchhalten. Das letzte ist als Piratenlied sogar fast on topic:

Written by Wolf

14. November 2007 at 12:01 am

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Shorebound breezes shove the weary ship along! — Eine Lanze für Island

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Update zu Fast Fish anlässlich des 200. Geburtstags von Jónas Hallgrímsson am 16. November:

Skipkoma

Sér ei skáldið skip á öldu
skautum búið að landi snúa?
er ei þys við þorskakasir?
þóttast ekki búðadróttir?
“Harður byr að hafnavörum
húna- rekur -jóinn lúna,
glatt er lið á götustéttum,
glápa sperrtir búðaslápar.”

A Ship Comes In

Can the bard descry a schooner
scudding landward, sails expanded?
Hear what’s said beside the cod-stacks?
See the merchants strut like peacocks?
“Shorebound breezes shove the weary
ship along! The boys are thronging!
Packs of people crowd the sidewalks!
Perky shop-clerks stop and goggle!”

Jónas Hallgrímsson: Skipkoma/A Ship Comes In, April 1830

Jónas Hallgr�mssonStellen wir uns eine Insel im Nordpolarmeer vor, so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Bevölkern wir sie mit 312.851 Leuten, das ist so viel wie Karlsruhe mit Vororten (Stand 1. Oktober 2007) oder 3,1 Einwohner pro Quadratkilometer; zum Vergleich: In Deutschland sind es 231. Dann haben wir Lýðveldið Ísland und damit das größte Land für Bibliothekenwesen der Welt. Nicht einmal die Sprache kommt mit unseren 26 Buchstaben aus, sondern braucht 32.

Die isländische gilt als die kleinste aller Nationalliteraturen, entstanden aus der frühesten europäischen Kunstlyrik, der Skaldik.

Islands Analphabetenrate liegt bei 0,01 Prozent. In Deutschland beträgt sie 0,6 Prozent — 60-mal so hoch. Das wären für Deutschland 494.496 Leute, die nicht lesen können, also sehr viel mehr als Island insgesamt Einwohner hat, gegenüber knapp 32 Leuten in Island (wahrscheinlich 31 und Björk).

Der isländische Nationalfriedhof beherbergt keine Könige und Politiker und schon gar keine Krieger, sondern genau zwei Dichter: Jónas Hallgrímsson und Einar Benediktsson aus der Zeit der Romantik und des Poetischen Realismus und sonst niemand.

Auf die Bevölkerung umgerechnet, werden in Island mehr Bücher verlegt als sonstwo auf der Welt — einschließlich der lauthalsigen Kulturnationen Deutschland, USA, Irland, Indien oder China. Bei der geringen Auflage, die bei 300.000 überlebenden aktiven Sprechern möglich ist, würde jeder deutsche Verlag jedes einzelne dieser Bücher ablehnen. Das literarische Übersetzungsgewerbe gilt als außergewöhnlich gut ausgebildet: Einige schwächere Gedichte des Deutschen Heinrich Heine sind in der isländischen Übersetzung zu volkstümlich gewordenen Stücken umgebildet. Da ist der einzige Literaturnobelpreisträger des Landes, Halldór Laxness 1955, gar kein schlechter Durchschnitt.

Inzwischen sollen sie sich sogar das Walefangen abgewöhnt haben; jedenfalls verlautet seit 27. August nichts Gegenteiliges (und Björk verhält sich angenehm still).

Um dann noch mit einer modernen Legende aufzuräumen: Island beschäftigt keine Elfenbeauftragte — es sagt aber viel aus, dass der Rest der Welt das seit 1995 als Allgemeinwissen so hinnimmt.

Kärtchen von Island, 1888

Bilder: Das Kärtchen von Island (sic) und Jónas Hallgrímsson sind gemeinfrei.

Written by Wolf

12. November 2007 at 2:18 am

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Die Zukunft war noch nie, was sie mal werden sollte

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Update zu Freundliche Begegnung: Moby-Dick goes after Arthur Gordon Pym:

Hildebrands Deutsche Schokolade, Schiffseisenbahn im Jahre 2000

1895—1899 lag jeder Tafel der seinerzeit führenden Schokoladenmarke Hildebrands Deutsche Schokolade eins von 12 Sammelbildern bei.

Damals stellte offenbar jeder Gebrauchsschreibknecht und Werbeschildermaler Jules Verne in den Schatten: Die Schönwettermaschine ist auch im Rückblick auf das Jahr 2000 ein großes Konzept.

Written by Wolf

11. November 2007 at 12:01 am

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Lady Liberty Enlightening the World Since 121 Years

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Update to New York 1660 and The New York Rant:

Frédéric Auguste Bartholdi's Design PatentThe pedestal block supporting the Statue of Liberty has been financed by the people of New York. Only the statue was a gift from France, as a recognition for the friendly relations between France and young America. However, the latter was left alone with the problem where (and whether) to erect the bounty from the large heart of the freedom-loving country overseas. — French.

French again: Liberty is pictured as a beautiful lady. Architect and sculptor Frédéric Auguste Bartholdi had designed her face after his strong-minded, dominant mother, and her body after his girlfriend — down to her Morton’s toe. Her skeleton was built by Gustave Eiffel, as a warm-up for his second Wonder of the World.

The wealthy elite of New York failed to finance a pedestal contruction, the less wealthy salt of the New York earth relied upon the upper class to provide the funds. The construction of the statue was finished in 1884, but no pedestal found.

A Hungarian immigrant named Joseph Pulitzer (right, that one with the Pulitzer Prize) felt the importance of everything the statue symbolized, and started in his time as a journalist for The World a fundraising campaign for a pedestal. From 1883, when he opened up the editorial pages of his newspaper with that call, it took another three years until the poorest people of New York had rounded up the entire amount.

Emma Lazarus, The New Colossus Bronze PlateWe may in fact imagine butchers, steelworkers, and shoeshine boys dedicating their off-Sunday to a walk to the World publishing house to donate a few cents for Lady Liberty. New York star architect Richard Morris Hunt agreed to make the drafts.

Thus the Statue of Liberty has become a genuine monument for the common people, resting on a pedestal which was literally carried together cent by cent.

Moreover, the pedestal block supporting the Statue of Liberty has been a bed for a sonnet by yet another lady, Emma Lazarus, on a bronze plaque: The New Colossus, written in 1883, engraved not before 1903.

Not like the brazen giant of Greek fame,
With conquering limbs astride from land to land;
Here at our sea-washed, sunset gates shall stand
A mighty woman with a torch, whose flame
Is the imprisoned lightning, and her name
Mother of Exiles. From her beacon-hand
Glows world-wide welcome; her mild eyes command
The air-bridged harbor that twin cities frame.

“Keep, ancient lands, your storied pomp!” cries she
With silent lips. “Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tossed to me:
I lift my lamp beside the golden door.”

At the unveiling of Lady Liberty Enlightening the World on 28th of October 1886, only the rich elite of New York had been invited, who had refused to compensate for the statue before, to hear US President Grover Cleveland thank France for their noble gesture.

The firecracks from men-of-war in New York harbour to salute President Cleveland befogged the Statue of Liberty in smoke.

German Herman Melville biographer Daniel Göske states in Ein Leben (A Life) there is no sign that Herman Melville attended the ceremonies, although or because he should have been working nearby in the customs office; it was a Thursday. For two weeks later, presidential elections were scheduled.

Übersetzung (dies ist ein teutsches Weblog): Die Freiheitsstatue wurde am Donnerstag, den 28. Oktober 1886 enthüllt, nachdem Frédéric Auguste Bartholdi nach Franzosenart seiner Freundin die Zehen nachmodelliert und unter Gustave Eiffels Beihilfe auf wahnwitzige Größe hinaufkonstruiert hatte. Diese Perversion schenkte er dem kat’exochenen Amerika als Geste der Freundschaft, um sie als Symbol von etwas, dem kein Volk der Welt widersprechen konnte, dort aufzubauen, wo man sie als erstes sieht, aber die rochen was und wollten keinen Sockel spendieren. Das schafften erst die kleinen Arbeiter, die auf eine Werbekampagne seitens des ungarischen Zeitungsschwengels und späterhinigen Literaturpreisstifters Joseph Pulitzer hin drei Jahre lang ihre letzten Kröten für einen Sockel zusammenopferten, auf dem die überzüchtete Megäre ihre grünspanigen Hammerzehen abwetzen konnte. 1903 bauten sie ihr auch noch ein Sonett hinein. Herman Melville konnte gar nicht hinsehen, auch weil die Salutschüsse für den festredenden Präsidenten Cleveland den New Yorker Hafen einschließlich Bedloe’s Island in Rauch hüllten.

Und jetzt im Ernst: Herman Melville hatte als Zollinspektor 1883 womöglich die Bauteile der Freiheitsstatue noch begutachtet, nach seiner Quittierung gibt es keine Anzeichen mehr, dass er sich noch einmal im Hafen herumgetrieben hätte, und war am Tag der Enthüllung eher mit dem Schreiben seines Testaments beschäftigt. Aber wenn es irgendwo auf der Welt ein Denkmal vom Volk fürs Volk gibt, dann die Freiheitsstatue, und das findet Moby-Dick™ dann wieder richtig gut.

Besuchet auch The True Story of the Statue of Liberty im Neatorama.

Images: Frédéric Aguste Bartholdi’s Design Patent;
Emma Lazarus: The New Colossus Bronze Plate: Public Domain.

Written by Wolf

28. October 2007 at 12:01 am

Anna Amalia Slept Here

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Update zu The Encantadas, Sketch Ninth: Hood’s Isle and the Hermit Oberlus und Wo man Bücher verbrennt:

Zu Herman Melville sollte auf dem aktuellen Buchmarkt fürs erste alles gesagt sein: Wir haben gleich zwei Übersetzungen von Moby-Dick, eine toller als die andere, und was anderes will die Zielgruppe von dem sowieso nicht kennen, dabei macht Hanser sogar noch weiter mit seinen ausgewählten Werken, und in passenderweise Hamburg, ja selbst in Österreich machen sie sich um ihn verdient, sogar sehr.

John Woram, Charles Darwin Slept Here, Rockville PressDie Süddeutsche Zeitung, um Zurechnungsfähigkeit bemüht wie immer, macht nach ähnlichen Versuchen der Bildzeitung, des Spiegel und ihrer selbst eine besonders wertige Bücherreihe für so Leute, die bei Manufactum nicht nur kichernd das Coccoina in die Brunnen Kompagnons pinseln, sondern für ein Wandtelefon aus der Schweiz von 1950 allen Ernstes 490 Mark ausgeben.

Heraus dabei kommt die Bibliotheca Anna Amalia, eine eine Schatzkiste der Weltliteratur in zwölf literarischen Kostbarkeiten, hilft der Gesellschaft Anna Amalia Bibliothek e.V. ihre 2004er Brandschäden beheben und ist schon rein deshalb nicht vollends missraten.

Ein Euro von jedem Buch geht an die Anna-Amalia-Bibliothek. Endlich mal eine Aktion, die gerade von der Bücherkundschaft gerne unterstützt wird. Und sie hilft anscheinend sogar: Ebenfalls die Süddeutsche meldet, dass Horst Köhler den Laden soeben zum Tag der Bibliotheken wiedereröffnet hat. Mich freut dergleichen.

Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis, nach dem Goethe den seinigen geschrieben hat, in der Rechtschreibung von 1812 mit allen th und ey, 800 Seiten fremde Länder, fremde Zeiten, fremdartige Ansichten, das ist natürlich ein Fest. Ludwig Tieck, und von dem gerade Das alte Buch, ist seit eineinhalb Jahrhunderten trostlos unterschätzt, aber für 60 Mark gefühlter Währung ein versprengtes Kunstmärchen aufwärmen…? Fürs Freiheitsbüchlein von Jean Paul müsste man sich ohne Anna Amalia an die vergriffene Gesamtausgabe bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wenden, in der von Wieland verlieren selbst NDL-Professoren den Überblick, bis sie die Feenmärchen finden — aber wer will hier wem Venus und Adonis von Shakespeare nebst The Rape of Lucrece, die es in jeder Grabbeltischausgabe gibt, ja wo man eine Ausgabe suchen muss, in der diese drögen Long Poems fehlen, als kostbaren Schatz verkaufen?

Sailing AnarchyHätte man nicht, eigennütziger Gedanke, mal die Encantadas von Melville durchkommentieren, mit einem engagierten Nachwort erschließen, mit zeitgenösischen Bildern im Direktvergleich mit heutigen Fotos illustrieren und in den modernen Kontext stellen können, in den sie gehören? — Nein, kein eigennütziger Gedanke. Jetzt, wo die Galápagos-Inseln, vormals Islas Encantadas, Mallorca werden sollen, erzählt mir verdruckstem Literaturfreak doch sonst jeder Business and Key Account Optimization Coach, dass jetzt das öffentliche Bewusstsein für diese Weltecke geschärft werden muss.

Winkler hat seine Mummendey-Übesetzung 2002 als Einzelausgabe gemacht. Es ist ein nettes Geschenkbändchen geworden. Der Süddeutsche Verlag hat’s auch schon verschenkt.

Zu Herman Melville sollte auf dem aktuellen Buchmarkt fürs erste alles gesagt sein. Schade eigentlich.

Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 02. September 2004 um 22:30 Uhr

Bilder: John Woram: Charles Darwin Slept Here, Rockville Press, 2005;
Sailing Anarchy, Where the Status Quo Blows;
Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, 2. September 2004, 22.30 Uhr: Hilfe für Anna Amalia;
Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

25. October 2007 at 12:01 am

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Sunk by something big, mythological, and white

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Update to Zwischen Elephant Island und den Jagdgründen von Mocha Dick:

Somebody actually photographed the iceberg that sank the Titanic.

Let us therefore for a minute’s worth, o my brethren, imagine how he ran into his ship cabin three or four decks lower, got out his camera, ran back, built it up on its three legs, and took the picture in the middle of the raging stampede around him, and how the film with him to the ground of latitude 41-46N, longitude 50-14W, until it was recovered by a bunch of dauntless frogmen and given to developing — before we are disillusioned by the fact that the pictures were taken by the chief steward of the Hamburg-American liner Prinz Adelbert on the morning of April 15, 1912, a few miles south of where the Titanic went down — after she went down.

The iceberg in question (1912) bore a streak of red paint on one side. Mocha Dick, the other big mythological white thing that used to sink ships (1839 ff), bore an unsually big number of barnacles all over him.

Titanic iceberg, Slightly Warped, but still Whale-Like

Ship Collisions with Icebergs database.

Collisions Between Ships and Whales .pdf.

Written by Wolf

21. October 2007 at 2:19 pm

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Peg Leg Pedro 1938: A Chevrolet Is Not A Disney.

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Update to Call Him Ahab and
Die Katze, die sich nicht nass machen will, fängt keinen Fisch:

How long have appearances of one-legged pirates really been inventive, illuminative, illustrative, or at least funny? Every time you think of the oldest story featuring early impersonations of Captain Ahab avant la lettre, you stumble over an even older one — but it must have been even before Treasure Island. The captain being engaged in a pirate’s or a whaler’s job, is a question of the plot, not the topos.

1938. Pirates have become mythological, Chevrolet is trying to advertise with cartoons.

Favourite bit: The idyll in Nicky Nome’s Trouble Shooting Station from minute 4:00.

Peg Leg Pedro dwells in Arcade Nerds, Archive, and Youtube, but always in the Public Domain.

Written by Wolf

19. October 2007 at 12:50 am

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Wie die andere Hälfte lebt

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Technical update (daguerrotype goes flash photography!)
to Work in Congress:

And the sign said the words of the prophets are written on the subway walls and tenement halls.

Simon & Garfunkel: Sounds of Silence, 1966

Jacob Riis, The making of an AmericanThe first coffee-table book in history was a work of clandestine ploy — which is no problem since it was also a work of socially committed muckraking and poetical realism.

In the 1880s, Danish-American immigrant Jacob Riis crawled the slums of Lower East Side Manhattan to portray by means of just emerging flash photography How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York, 1890. Up to then, the “first” half of New York population did not show themselves aware of poverty, crime, squalor and arising sub-cultures in the middle of their prospering boomtown.

Riis did not experience any gratitude from the underprivileged he was trying to help — first of all because he inflammated some of the depicted slums with his primitive flashlights; secondly because his methods of illegally invading residences and picturing people withour their permission, were regarded as impure. However, his aims were finally acknowledged as laudable, not least under the impression of Charles Dickens‘ success who spread a similar message in a great output of partly humorous, partly melodramatic prose: “From first to last he was a novelist with a purpose” — and who likewise visited New York to have a glimpse.

Recent criticism stresses Riis’s distinction between “deserved” vs. “undeserved” poverty, and the passages where he portrays ethnic groups such as Jews, Chinese and Irish in way which nowadays cannot be called other but racist. Measured in terms of his own time, Riis still wrote and photographed with all available sympathy.

Like Dickens’ novels (and to stay on topic, the sociocritical diptychons by Herman Melville, Poor Man’s Pudding and Rich Man’s Crumbs, The two Temples, and The Paradise of Bachelors and the Tartarus of Maids), How the Other Half Lives is still readable and of more than mere historic fascination.

Theodore Roosevelt would be prompted to close down the police-run poorhouses of The Five Points and Little Italy in Lower Manhattan. The legend has it that in the wake of the book’s impact, Roosevelt, New York City Police Commissioner, sent a note to Riis:

Please, come to me.

Übersetzung (dies ist ein teutsches Weblog): How the Other Half Lives gilt als erster Bildband der Welt. Damals noch etwas textlastig, aber immer noch interessant und gar nicht mal so teuer. Können Sie getrost kaufen.

Jacob Riis, Minding the Baby

Images: Jacob A. Riis: National Portrait Gallery, Smithsonian Institution, Washington, D.C., photographer unidentified; Minding the Baby;
Licence: Public Domain.

Written by Wolf

16. October 2007 at 1:01 am

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Schneller weiter klüger

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Update zu Das Land der Deutschen mit der Seele suchen:

Haben wir je geklärt, in welcher literarischen Epoche wir uns mit Herman Melville bewegen?

1851, zum Erscheinen von Moby-Dick, herrschte in Deutschland gerade Romantik. Goethe, die Epoche der Klassik in Person, wurde noch geschätzt, aber nicht nachgeahmt, eher im Gegenteil: Man respektiert seinen Vater, will aber alles anders machen als der Alte. Die Nationalkulturen, die Deutschland umgaben und beeinflussten, waren schneller damit: Französische und vor allem englische Romantik sind zwei, drei Jahrzehnte früher anzusetzen.

Washington IrvingAuf die USA ist das so 1:1 nicht zu übertragen. Das war eine junge Kultur, die anderes zu tun hatte als von Sonnenuntergängen auf das Weben der Liebe zu schließen. Die Siedler, die sich als erste und bevorrechtigte Einwohner dieses überwältigend weitläufigen Landes begriffen, mussten Lebensraum für sich und ihre zu erwartenden Erben urbar machen und dabei ein paar lästige Indianer beiseite räumen. Wenn sie Bücher besaßen, dann die Bibel und ein paar Vertreter der florierenden christlichen Erbauungsliteratur, deren literarischer Wert heute vernachlässigt werden darf. Der Stauraum in Blockhütten und Planwägen ist bemessen.

Als erster vollwertiger Schriftsteller der USA gilt Washington Irving. “Vollwertig” heißt hier: überdauernde, bleibende Werte schaffend, die seinen Lesern dauerhaft bedeutsam bleiben; “der USA” heißt hier: genügend typisch für das Land, dass solche Hervorbringungen nur hier gedeihen konnten. Bis dahin ahmten die literarischen Bemühungen Amerikas zwangsläufig die Strömungen im Mutterland England nach, mit Washington Irving kann man vom Anfang einer Nationalliteratur sprechen.

Washington Irving wurde 1809 mit einer humoristischen History of New York als Diedrich Knickerbocker berühmt. Der Rip van Winkle von 1819, die Geschichte eines holländischen Siedlers, der in den Bergen 20 Jahre lang eine komplette Generation und die amerikanische Unabhängigkeit gleich mit verschläft, hat dann endlich mythologische Dimension und stiftet nationale Identität: eine amerikanische Nibelungensage. The Legend of Sleepy Hollow erfährt bis heute Bearbeitungen.

Herman Melville hat spät im Leben die Erzählung als Mischform aus Prosa und Lyrik paraphrasiert — was nicht gleich “geklaut” bedeuten muss. Rip van Winkle’s Lilac fand sich in Melvilles Nachlass und ist nicht genau zu datieren. Spätwerk, also aus den 1880ern, erreichbar im Bryant.

James Fenimore CooperDer nächste ur-amerikanische Schreiber war James Fenimore Cooper, der mit dem Lederstrumpf: Gleich wieder ein ausgewachsenes Nationalepos, späterhin als Kinderbuch missbraucht — fast wie Moby-Dick. Der letzte der fünf Lederstrumpf-Romane, The Deerslayer, den wir als Wildtöter kennen, ist von 1841. Da war Melville 22 und muss schon die vorigen Bände benutzt haben wie unsere Väter den Karl May.

(Wer sich hier und heute die Lederstrumpf-Romane antun will, nehme gleich die richtige Ausgabe vom insel-Verlag, es gibt nichts Vergleichbares.)

Und dann kam schon Poe, der praktisch die moderne Literatur aus dem Boden gestampft hat, Mark Twain lappt schon ins 20. Jahrhundert, fand jedenfalls nach Melville statt. Ein Husarenritt von Literaturgeschichte; keine Zeit, Epochen zu bilden.

Edgar Allan PoeEine Kultur, die als erste eigene Philosphierichtung eine Gegenbewegung zu allzu hastigem Fortschritt ausbildet — Transzendentalismus —, feiert auch nach ihren ersten zweieinhalb Klassikern gleich ihre Renaissance: Die Zeit, als in USA endlich in einer breiteren Bevölkerung die Muße möglich wurde, was außer Büffeljagd und Wälderroden noch so anliegt, definierte um Leute wie Emerson, Thoreau, Hawthorne, Whitman und Margaret Fuller die Amerikanische Renaissance, und der deutsche Wiki-Artikel darüber ist (bis jetzt) ausführlicher als der englische. Melville selbst war erst im Gefolge seines Busenfreundes Hawthorne glühender Anhänger, später Spötter des Transzendentalismus.

Lassen wir das mal als Stoffsammlung so stehen. Vorerst gibt’s in den meisten Fällen auch “nur” die Wikipedia-Links. Das wird uns die kommenden Jahre noch oft und tief beschäftigen (hey: Warum sollte man wohl ein Weblog anfangen, wenn man es jemals wieder beenden wollte?).

Bilder: allesamt Wikimedia Commons, Lizenz: Public Domain.

Written by Wolf

11. October 2007 at 11:49 am

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Absurd and Nonprofit

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Update zu The People of Poets and Philosophers:

Kaum sagt der führende Literaturkritiker der USA etwas wie:

Librarians after darkIt is absurd that our most read and studied writers should not be available in their entirety in any convenient form.

schon dauert es nur noch 21 Jahre, bis sich ein Verlag mit derselben Zielsetzung gründet. Edmund Wilson war das, 1961, und die Library of America besteht gerade seit 25 Jahren. Wenn Reich-Ranicki je dergleichen angeregt hätte, dann hätten sich höchstens alle amüsiert, was dem alten Kauz noch für lustige Ideen beifallen.

Soeben erreicht mich der Jubiläumsprospekt des Verlags, über dem man wieder ganz neidisch wird, dass die Deutschen da nicht drauf gekommen sind: ein Verlag, der mit staatlicher Unterstützung ständig die wichtigste Literatur des Landes reasonably priced bereithält.

Die Veröffentlichungen der Library of America sind uneingeschränkt zu empfehlen: Sauber editiert, auf nicht gilbendem Papier mit Hardcover, eins wie das andere ein Stück fürs Leben. Man hat sie gerne in der Hand und fühlt sich gut davon bedient. Die Bücher, die ich selber von denen hab, sind bei Feueralarm zu retten.

Es soll mir also bloß keiner mit dem Argument kommen, in Form der ganzen Kaufhof-Ausgaben wäre doch das deutsche Literaturgut ständig “preiswert” greifbar. Wer heute beispielsweise eine verlässliche Ausgabe von Jean Paul will und seine Freizeit nicht in Antiquariaten verplempert, muss der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt beitreten.

Volksfront zur Einrichtung eines staatlich unterstützten Verlags zur Erhaltung des deutschen Kulturguts. Das wäre ein Aushängeschild fürs Volk der Dichter und Denker, das man sich nicht von Amerika vormachen lassen sollte, dient der in allen Landesverfassungen verankerten Bildung, und die ganzen Bücherwürmer, die viel mehr sind als man glaubt, weil sie sich ob ihrer minderbewerteten Berufung nie aufzumucken trauen, finden ernstzunehmende Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Kann denn das so schwer sein? — Jawohl, da kann ich engagiert werden…

Nur warum sie in New York zu ihren drei Bänden Melville in wissenschaftlicher Textgestalt der kompletten Prosa immer noch keinen Band mit der Lyrik zustande gebracht haben, verschweigen sie.

Spenden an die Library of America sind auch in Deutschland steuerlich voll absetzbar.

Büchereimädchen

Bilder: Librarian Type; ein unbekannter Meister des späten Novecento;
Lizenz: Creative Commons.

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13. September 2007 at 12:01 am

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Billy Budd heute

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Stephan guckt in die Ferne und sieht die Sopranos beim Streiten, ob Herman Melville schwule Bücher schreibt:

Stephan De MariaOkay, es hat nicht wirklich mit Melville zu tun. Aber ich habe diese Episode gesehen, als ich bereits eine erhöhte Aufmerksamkeit für Melville hatte. Ich möchte für diese U.S.-amerikanische TV-Serie eine Lanze brechen, die im deutschen Fernsehen so schmählich behandelt wurde.

Like her son A.J. Carmela has also missed the homosexual subtext of Billy Budd when to subject had came up after A.J. revealed he got a grade “C” on the essay he wrote on it. A.J. said his teacher Mr. Wegler said that it was a homosexual book. Carmela denies it. When Meadow points out her error she is totally hostile to the idea and maintains that Billy Budd had nothing to do with homosexuality. Carmela becomes more miserable throughout the dinner and gets into an argument over the homosexual content of Billy Budd.

Wikipedia

The Sopranos

Bild: HBO, About The Sopranos; Lizenz: Creative Commons.

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12. September 2007 at 12:01 am

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New Bedford bei Kaufbeuren

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Update zu Father Mapple Goes to the Top Again und Ahab voraus:

Schiffe ruhig weiter,
wenn der Mast auch bricht.
Er ist dein Begleiter,
er vergisst dich nicht.

Christoph August Tiedge: Urania

Schiffskanzel Irsee, Alte AnsichtskarteWas Father Mapple in Kapitel 8: Die Kanzel besteigt, ist eine Schiffskanzel und auch in Deutschland vorrätig: in Irsee, ein Stück auf der B16 nördlich Kaufbeuren im Allgäu.

Es sind immer die Landratten, die maritimer Romantik am zugänglichsten sind; man sehe sich allein die Teilnhemer an Moby-Dick™ an. Joachim Ringelnatz, ein oft und gern genannter Lieblingsdichter und erfahrener Seebär mit bestechend schönen, überaus authentischen Seemannsgedichten, stammte aus Sachsen. Die Marineeinheiten der Bundeswehr schätzen den auffallenden Zulauf an Freiwilligen aus Bayern.

Und Ignaz Hillenbrand aus dem schwäbischen Türkheim, ein spärlich belegter Meister des Barock, baute 1724/25 eine sage und schreibe Schiffskanzel in die Klosterkirche der Benediktinerabtei Irsee im Allgäu.

Für die Kirche außen herum arbeitete der Maler und Stukkateur Johann Baptist Zimmermann zunächst mit seinem Bruder, dem Baumeister Dominikus zusammen, dann dann mit dem flämisch-deutschen Baumeister und Dekorateur François de Cuvilliés dem Älteren. Für das Schmuckwerk war der Bildhauer Hillenbrand in enger Zusammenarbeit mit der Kunstschreinerfamilie Bergmüller zuständig.

Der Schwabe war schon 1725 mit dem guten Stück fertig, konnte also schlecht von Moby-Dick inspiriert sein. Selbst 1851 war Father Mapples Originalkanzel noch eine stimmungsvolle freie Erfindung von Herman Melville. Wer heute nach New Bedford, Massachusetts reist, wo er dem New Bedford Whaling National Historical Park nur schwer ausweichen kann, trifft ebenfalls auf so eine Schiffskanzel im konfessionslosen Gotteshaus Seamen’s Bethel, Father Mapples Kirche, die 1832 fertig war und deshalb schon Melville zur Anschauung dienen konnte.

Die Kanzel in Schiffsform ist da allerdings erst 1961 nachträglich hineingebaut – und dann etwas platt in Bodennähe, nicht wie bei Melville in Ehrfurcht gebietender Höhe zum donnernden Runterpredigen und ganz ohne stilechte Strickleiter. Das war unter dem Eindruck von John Hustons Verfilmung von 1956, als plötzlich Filmfans aus aller Welt anreisten und Father Mapples Kanzel sehen wollten. Schade, dass Huston nur die Außenaufnahmen on location in New Bedford gedreht hatte; Orson Welles in der Rolle des Father Mapple predigte in Studiokulissen.

Schiffskanzel Irsee, irsee.deWas treibt nun einen Handwerker mit künstlerischen Ambitionen aus der bedeutungslosen Seefahrernation Schwaben dazu, seine Auftragskirche mit Schiffen zu möblieren? Gerade deswegen?

Das Schiff steht seit den Alten Ägyptern, vor allem auch in bronzezeitlichen Schiffssetzungen in Stein (zum Beispiel auf Gotland) für die Reise ins Jenseits. Auch die Fahrt der Pequod, symbolbeladen wie sie ist, dürfen wir als Seelenreise auf der Suche nach einer anderen Welt begreifen, und an Endzeitstimmung herrscht in Moby-Dick kein Mangel. Am deutlichsten wird das, als Queequeg sich wegen deutlicher Todesahnungen in Kapitel 110 einen Sarg schreinern lässt (hard facts nach Eugen Drewermann: Moby Dick oder: Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, Seite 449 f.).

In der mittelelalterlichen Symbolik steht das Schiff für die Kirche schlechthin: Auf dem Ozean der Welten bietet sie Sicherheit und segelt stolz durch die Stürme der Zeit, die Kirche. Und streng hierarchisch organisiert ist sie ja auch. Hören wir dazu Captain Ahab, der das wissen muss und mit geladener Muskete im Anschlag vertritt:

There is one God that is Lord over the earth, and one Captain that is lord over the Pequod. – On deck!

oder in der Jendis-Übersetzung:

Es gibt einen Gott, welcher ist Herr über die Erde, und es gibt einen Kapitän, welcher ist Herr über die Pequod. – An Deck!

Ahab zu Starbuck, Kapitel 109

Das ist doch ein Wort, hol’s der Klabautermann.


Besuchet auch die ehemalige Benediktiner-Klosterkirche in Irsee bei Johannes Michalowsky! Am besten richtig, aber wenn elektronisch, dann dort. Der hat da eine lohnende Bilderschau mit 21 großen, sonnigen Bildern von einem Ausflug von der Kirche von außen bis zum Klosterbiergarten in angenehm unprätenziösem, einsnulligem Webdesign liebevoll selbst hergestellt, die fast die Anreise erspart.

Klosterkirche Irsee, Altarraum

Bild: Irseer Schiffskanzel, Alte Ansichtskarten; Kanzel von rechts unten: Markt Irsee; Altarraum: Johannes Michalowsky.

Written by Wolf

26. August 2007 at 12:01 am

New York 1660

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Update zum New York Rant:

Im August 1660 zeichnete der Generalgouverneur von Neu-Amsterdam Jacques Cortelyou (1625 in Utrecht bis 1693 in New Amsterdam, Montgomery) den bis heute schönsten Stadtplan von New York, das zu dieser Zeit noch nicht mal so hieß, sondern noch bis 1664 Nieuw Amsterdam.

Um 1667 muss der Kartograph Joan Blaeu, allerdings schon im richtigen, alten Amsterdam, das Schmuckstück zusammen mit anderen handgefertigten Ansichten zu einem New Amsterdamer Atlas gebunden haben, der an Cosimo III. de’ Medici verkauft wurde.

Der Plan, noch oder schon altersbedingt entfärbt, wurde 1900 in der Villa di Castello bei Florenz entdeckt, deshalb Castello Plan genannt und 1916 in besserer Kolorierung nachgedruckt, wodurch er seine heutige Schönheit erreichte und angemessene Verbreitung erfahren konnte.

Nieuw Amsterdam war damals eine rasant aufstrebende Kleinstadt mit 1500 Einwohnern; das Haus in der Pearl Street, in dem 159 Jahre später Herman Melville geboren werden sollte, stand schon.

Eine brauchbare Darstellung des Castello-Plans findet sich auf einer großformatigen Doppelseite auf hochwertigem Papier in Ric Burns, James Sanders, Lisa Ades: New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute, 2005. Norden bleibt rechts.

Castelloplan 1660

Bild: Castello-Plan von 1660 in Wikimedia Commons; Lizenz: Public Domain bei der New York Historical Society.

Edit 3.30 Uhr: Im englischen Wiki hab ich gerade einen Artikel zum Castello Plan neu angelegt, um die verstreuten anderslautenden Informationen auszuräumen. Was ich hier wiedergebe, erscheint mir wenngleich rudimentär, historisch am wahrscheinlichsten. Mal sehen, ob die englischen User lieb zu dem Eintrag sind.

Written by Wolf

22. August 2007 at 1:30 am

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Für Moby-Dick gibt’s keine Orden

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Über eine große weis(s)e Walin im russischen KaviarKarpfenteich

Elke macht ein Update zu: Voll der Moby
und erst recht zu Die Welt spricht Moby:

Elke HegewaldAllzu viel erfährt der virtuelle Fremdling nicht im kyrillischen Labyrinth des World Wide Web – über die Frau, bei der Herman Melvilles Weißer Wal russisch sprechen lernte. Nicht mal ein Foto ist aufzutreiben. In einem Land, in dem so viele Leute Poeten sind, ohne auch nur selbst eine Ahnung davon zu haben, werden Übersetzer wohl nicht zu Helden ihrer Leser, wenn in ihnen nicht selber ein kleiner Puschkin wohnt oder sie nicht wenigstens ihren eigenen Moby-Dick geschrieben haben. Ich versuche trotzdem mal, ein Bild von ihr zu zeichnen, sei es auch ein Schemen… wie Der Wal in Melvilles erstem Kapitel

Inna Maksimowna Bernstein, Jahrgang 1929. Eine, wenn man den spärlichen Spuren glauben darf, geistig noch sehr rege alte Dame, die stramm auf die Achtzig zugeht. Berufsbezeichnung: Übersetzerin aus dem Englischen. Wobei schon das nicht so ganz stimmt: die fremdsprachige Ausschließlichkeit ist wohl erst mit den Jahren gewachsen und die junge Bernsteinin soll sich früher auch schon mal in dänischen Übertragungen versucht haben.

Geboren ist sie in Moskau. Und ihr Elternhaus bezeichnete sie 2001 in einem Interview freimütig als nicht sonderlich literaturverbunden. Um gleich darauf – wie könnte es anders sein, wenn man Bernstein heißt – mit einer jüdischen Großmutter väterlicherseits herauszurücken, die jiddische Gedichte schrieb und darob sogar mit einem kleinen Eintrag in der Encyclopaedia Judaica verewigt ist. Worauf die inzwischen selbst betagte Enkelin nicht wenig stolz zu sein scheint.

Für die waschechte Moskwitschka Inna B. kam eigentlich für die Studien andrer Herren Sprachen nur die philologische Fakultät der Moskowskogo Gosudarstwennogo Universiteta (MGU) in Frage, was auf Deutsch die Staatliche Moskauer Universität ist. Und so geschah es, im Studienfach Romano-germanische Philologie. Die Absolventen der Filfak (Filologitscheskij Fakultet) zeichneten sich immer durch die solide bis exzellente Beherrschung fremder Idiome aus; das weiß man – hat man doch in fröhlichen Studentenzeiten selber ein paar fesche und redegewandte Austauschstudiosi von da gekannt.

Bernsteins erste veröffentlichte Übersetzung waren die humorigen Told after Supper-Geschichten von Jerome K. Jerome, den die Welt vor allem als Autor seiner berühmten – und in Deutschland als Heinz-Erhardt-Klamauk verfilmten – Drei Mann in einem Boot kennt. Es folgten Werke von Sir P. G. Wodehouse ebenso wie weitaus Ernsteres, so Erzählungen von J. D. Salinger, Thomas Malorys Le Morte d’Arthur oder Captains Courageous von Rudyard Kipling.

Cover Moby-Dick 2007, russischNicht zu vergessen unser breitstirniger Wal, der zu ihren beeindruckendsten Leistungen zählen dürfte. Und das nicht nur, weil es immerhin stolze 110 Jahre brauchte, bis die Russen endlich auch ihren Moby-Dick (erschienen 1961, wahrscheinlich im Verlag Chudoshestvennaja Literatura) hatten.

Was mich eine vom Schicksal launig geschnörkelte Parallele ziehen lässt, die mir am Wegesrand auffiel: Genau so viele Jahre ist nämlich auch Inna Bernstein jünger als Herman Melville. Und – was beide wundersam über mehr als ein Jahrhundert geradezu verbindet – sie war, genau wie Melville, 32 Jahre alt, als sie mit dem Wal kämpfte. Genug der Spinnwebereien.

Was dagegen unbedingt noch hierher gehört: Die Bernstein scheint – was die Russen wiederum deutlich von den Deutschen mit ihren Jendis und Rathjen und wie sie sonst noch alle heißen unterscheidet – mit ihrer Übersetzungsversion bis heute allein auf weiter Flur dazustehen. Jedenfalls vermerken die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder erscheinenden neuen Moby-Dick-Ausgaben bis auf den heutigen Tag: Übersetzung aus dem Englischen: Inna Bernstein. Die vorerst letzte stammt aus diesem Jahr, 2007.

Neben immer noch neuen literarischen Übersetzungen (zur Zeit wieder mal Wodehouse beim Verlag Ostoshje) beteiligt sich die ehrwürdige alte Dame an öffentlichen wissenschaftlichen Diskussionen zu Übersetzungstheorie und -praxis, ja sogar zu Übersetzungs-“Politik”. So erfährt der geneigte Leser in dem bereits erwähnten Interview auf die Frage nach nicht übersetzbarer Prosa Interessantes, durchaus eigenwillig Bernsteinisches, das einen Elkeschen Versuch wert ist, sie hier möglichst wörtlich übersetzt zu zitieren:

Ist dem Leser ein Buch nicht verständlich, bedeutet das, es ist nicht übersetzbar. Sehen Sie, so ist bei der Übersetzung von Ulysses [gemeint ist die russische Übersetzung] nichts Gutes herausgekommen. Überhaupt ist die Übersetzung dieses Romans teilweise unter dem Druck einer politischen Konjunktur entstanden; die Amerikaner tönten damals dauernd im Radio: “Jaaa, in der Sowjetunion ist der Ulysses immer noch nicht übersetzt!” Ich denke, das ist ein Buch für Schriftsteller. Um zu verstehen, was genau Leopold Bloom am 16. Juni 1904 in Dublin gesehen hat, … muss der Leser nach Dublin fahren. Andererseits kann man andere Autoren, die dem Weg von Joyce gefolgt sind, wunderbar übersetzen. Bei Faulkner, bei den Franzosen ist der stream of consciousness einfach großartig gelungen…

Für die so zahlreichen Übersetzungen englischer und amerikanischer Literaturklassiker über viele Jahrzehnte hat Inna Bernstein nie einen Preis bekommen. Befragt, ob sie das ärgere, antwortete sie mit Würde und in weiser Gelassenheit:

Wenn man auf dieses Thema zu sprechen kommt, sage ich gewöhnlich: Ja, es war nun mal so, dass ich zwei Reihen englischer und amerikanischer Bücher übersetzte – immer in Zeiten des Kalten Krieges. Wir haben unseren Beitrag zur Annäherung der Kulturen geleistet. Und ich hätte schon nichts dagegen gehabt, für den Moby-Dick von den Amerikanern einen Orden zu kriegen. Schließlich war unsere Arbeit für sie auch wichtig.

Nun, sie haben mir keinen gegeben…

St.-Basilius-Kathedrale Moskau 2006

Bilder: ozon.ru, St.-Basilius-Kathedrale, Moskau;
Lizenz: Fair Use, Creative Commons.

Written by Wolf

11. August 2007 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

The New York Rant

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Update zu Happy birthday, Herman:

Bettie Page will teach youKürzlich gelernt: Herman Melville ist kurz vor der Battery geboren, unter einer Adresse, die es heute noch gibt, 6 Pearl Street, und die bestimmt auch schon vor zweihundert Jahren nicht die billigste war, praktisch mit Blick auf die Freiheitsstatue.

Auf Google Earth kann man durch The Narrows an der Freiheitsstatue vorbei den Battery Park und Pearl Street anfliegen, von rechts winkt Brooklyn Bridge (Helmut Grokenberger sagt: “Bruckland Bridge! Beautiful!”), dafür sieht man die Freiheitsstatue überhaupt nicht, entweder weil sie zensiert ist, weil sie sich in Seattle vorstellen, dass jeder Google-Earth-Benutzer nichts eiligeres zu tun hat als Screenshots von der Freiheitsstatue lizenzfrei zu missbrauchen, oder weil sie senkrecht von oben fotografiert wurde und nur ihr Schatten auf Liberty Island übrig bleibt. Die Stadt, die nie schläft, muss doch unbequem sein, in einem früheren Leben war ich da ja schon mal, ein halber Zentner Bücher aus dem Barnes & Noble in der Fifth Avenue zeugt davon. Ferner kann man den Hudson River hinaufdüsen, um mal zu gucken, was der schon alles gesehen haben muss, bevor er Manhattan umpült. Schöne Gegenden, bezaubernd vor allem die ganzen knuffigen Leuchttürme, sieben an der Zahl, die liebevoll von Google-Earth-Benutzern bebildert sind. Wäre so einer nichts für Melville gewesen? Aber nein, es musste ja Arrowhead sein, das heute zwischen lauter Parkplätzen am Arsch von Pittsfield, Massachusetts liegt. Fünf der sieben Leuchttürme im Hudson River sehen höchst geeignet dafür aus, Bibliotheken eines Süßwassermatrosen wie zum Beispiel die meinige aufzunehmen. Keineswegs mündet der Hudson wie angenommen in die Hudson Bay, die nach dem selben Herrn Hudson heißt, aber nach einer anderen Tour. Vielmehr entfaltet der Hudson River ein paar der schönsten Panoramen Amerikas, vorbei am Bärenberg, den man aus der ersten Donald-Duck-Geschichte kennt, in der Dagobert auftritt, und entspringt in einem waldigen Gebirge, das nicht einmal der Satellit von Google Earth je durchdringen wird, da wo das Gelände Adirondack Mountains heißt und man ständig das Fähnlein Fieselschweif umherwuseln sieht. New York, jedenfalls der Staat, ist doch ganz erstaunlich viel größer als das bisschen Lower East Side, das man aus Filmen mit Hugh Grant kennt. Zwischen dem Hudson River und der gleichnamigen Bay oben in Kanada liegen noch mindestens die Niagarafälle, mit denen sich der Nordamerikaner in Ermangelung Venedigs behilft, um Flitterwochen zu halten, und an die er sich dann mit seiner Neuerwerbung nicht so richtig heranzutreten traut, weil sie beide gewandet sind wie das Michelinmännchen und die Windschutzscheibe vom Leihwagen selbst bei dem, was sie hier unter Sonnenschein verstehen, so vollgesprüht wird, dass man hinterher gar nicht mehr zurück ins Motel findet, in dem sie bis vor sechs Stunden ihre Hochzeitsnacht auf einer quietschenden Pritsche bis die Zellennachbarn an die Wand geklopft und am Morgen Norman Bates an der Rezeption so blöd gegrinst aber hey es sind 106 Meilen bis Chicago und wessen Hochzeitsnacht ist das hier. Wenn das Henry Hudson geahnt hätte. Die Nordwestpassage hat er trotzdem nicht gefunden, was ihn wiederum in tragischer Weise mit der glücklosen Reise von Melvilles Pequod verbindet, aber ich schweife ab.

Sofort zur geografischen Buchhandlung gerannt, “Grüß Gott, ham Sie einen Stadtplan von New York?” Ob es denn einer von Downtown oder mit den Außenbezirken sein solle. Ja, ein bissel außenrum wär schon recht. Schublade hinter der Theke auf, fünf Stadtpläne in allen Größen rausgeblättert, mir in die Hand gedrückt, mit dem typischen Blick: Das ist genau das, was du brauchst, nach dem man sich kompetent bis zu Ende bedient fühlt, da macht keine Servicephilosphie was dran. Den von Rand McNally und den von Freytag & Berndt zur Kasse geschleppt, einen für die Außenbezirke und das Einordnen ins große Ganze, einen zum Andiewandnageln.

Jetzt weiß ich, dass es im Central Park tatsächlich eine Statue von Alice in Wonderland gibt, und wofür sie mich aber wirklich killen werden: Die Freiheitsstatue steht gar nicht in New York, sondern schon ein paar Seemeter drüben bei den Bauernschädeln in New Jersey.

Ich werde gerade mit einer Haarbürste versohlt

Bilder: Bettie Page™, The Bettie Page; Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

9. August 2007 at 11:25 am

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Mark Herostratos Booth

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Update zu Aspects of Abraham:

John Wilkes Booth wusste genau, was er tat: Er kannte die Theaterfarce, mit der Abraham Lincoln den Abend im Ford’s Theater ausklingen ließ, von seiner eigenen Schauspielarbeit. Our American Cousin von Tom Taylor, bisschen was zu lachen in diesen Kriegszeiten. Darum wartete er die lustigste Stelle ab, an der zuverlässig das ganze Publikum schallend lachte. Vielleicht lachen Leute lauter, als Pistolen knallen.

John Wilkes Booth hatte ja gar keine Ahnung, was er tat: Der politische Effekt blieb aus, und heute wird er in eine Reihe mit Herostratos und Mark David Chapman gestellt.

Bild: Library of Congress via Old Picture of the Day; Lizenz: Public Domain.

Written by Wolf

27. July 2007 at 11:53 am

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Die Welt spricht Moby (und Moby spricht russisch)

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… wie kann der unbelesene Ismael dann hoffen, das altehrwürdige Chaldäisch auf der Pottwalstirn zu lesen? Ich stelle diese Stirn nur vor euch hin. Lest sie, wenn ihr könnt.

Kapitel 79, Seite 545

Elke hat ihr Schulrussisch nicht nach der letzten Schulaufgabe verdrängt, sondern zu Ende studiert. Darum weiß sie heute:

Elke HegewaldHabt ihr Lust auf ein bisschen Nachwort-Fleddern? Ich meine, so ein kleines Waljagen ohne Ozean? oder Harpunenwerfen aus dem Bücherregal? Eine ausdauernde Kissenschlacht in der Kajüte…?

Dabei hatte ich sowas gar nicht nicht vor. Eigentlich war ich einer Walsichtung in bislang unerforschten Jagdgründen auf der Spur, und zwar in russischen Wassern. Also nicht in denen zum Gurgeln jetzt, den Wässerchen (Wodki) mit der hohen Drehzahl. Nee, ich meine die großen, ausgewachsenen (vody) von anderem Geist. Aber davon später.

Bei der ganzen Sucherei kam mir nämlich die Neugier in die Quere – und die einschlägige Frage, wann denn nun sich Moby Dick überhaupt in die weite Welt aufgemacht und in fremd(sprachig)en Meeren schwimmen gelernt hat. Denn wie wir wissen, tat er sich damit ja etwas schwer.

Mobi Dik 2006Das war von vornherein nicht unbedingt zu erwarten, hatte doch der junge, hoffnungsvolle Autor mit seinen beiden Frühwerken, den Südseeromanen Typee und Omoo schnellen – auch internationalen – Ruhm eingeheimst. Doch dann begann mit The Whale, diesem „alle Konventionen brechenden Romanmonstrum“ (Göske, Seite 904), mit dem der auf eben selbige geeichte Leser nichts anzufangen wusste, bereits sein ebenso schneller Abstieg. Den perfekt zu machen er dann nur noch den Pierre (1852) schreiben musste. Nach dem wurde ob der enthaltenen „sexuellen Verirrungen“ sogar seine Zurechnungsfähigkeit angezweifelt. Obwohl er nie aufgehört hat zu schreiben, hatten die Heimat und die Welt ihren Melville, als er fast vierzig Jahre später starb, so gut wie vergessen.

Dabei wäre es womöglich geblieben, wenn nicht die eigensinnig verschlungenen Wege der Kunst und ihrer Jüngerschaft in den zwanziger Jahren des nachfolgenden Jahrhunderts zu einem wundersamen Melville-Revival geführt hätten, in dem man ihn begierig wiederentdeckte und neu zu lesen begann (siehe Göske, S. 904). Obwohl der Herr Nachwörtler es nicht dezidiert erwähnt, kombiniert Ms. Elke Holmes mal (logisch!), dass dafür die Veröffentlichung des Melvilleschen Nachlasses 1924 verantwortlich zu machen ist.

Man feierte Melville als großen Modernen, und den natürlich vor allem als Schöpfer des Moby-Dick. Ausschweifende und literaturwissenschaftlich verquaste Definitionen möchte ich dem geneigten Mitleser an dieser Stelle gerne ersparen. Nur die feine, mir so wunderbar moby-kompatibel scheinende Erklärung für Modernität, von Charles Baudelaire bereits 1863 formuliert und von mir aus dem Wiki-Artikel über die Moderne rausgeklau(b)t, sei hier zitiert:

Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.

Und zu dieser Zeit begab es sich, dass der Moby polyglott zu werden anfing. Ha, und es ist durchaus der Erwähnung wert, dass die erste fremde Sprache, die er lernte, die deutsche war.

Im Jahr 1927 erschien mit Wilhelm Strüvers stark gekürzter, auf die Abenteuerhandlung beschränkter Adaption die erste fremdsprachige Buchfassung überhaupt (Berlin: Knaur).

Kapitel 79, Göske, Seite 904

Damit war’s allerdings mit der Melvilleschen Deutschsprachigkeit erstmal wieder für eine ganze Weile vorbei. Denn “die ersten seriösen Versuche deutscher Verlage, eine verlässliche Werkausgabe vorzulegen, erlitten Schiffbruch; sie gerieten in den Strudel der Nazizeit und des Krieges.” (ebenda) Dass einer dieser – zugegeben stichhaltigen – Hinderungsgründe, ja selbst, dass beide zusammen als Argument für das Immer-noch-nicht-Vorhandensein einer umfänglichen Ausgabe der Werke herhalten könnten, dürfte weit schwerer einzusehen sein…

Mobi Dik russische ErstausgabeWoanders begann “Moby-Dick” inzwischen munter und babylonisch zu erscheinen. Bereits vor dem II. Weltkrieg hatten ihn die Holländer, die Ungarn und die Tschechen übersetzt vorliegen. Als meisterhaft gilt die erste italienische Fassung von Cesare Pavese, der seinem Vorwort zur ersten Ausgabe 1932 die programmatische Verkündigung voranstellte: “Moby-Dick übersetzen heißt mit der Zeit gehen” (siehe Göske, Seite 905). Und über den vielleicht der Stephan noch was weiß.

Von Jean Giono, der 1939 den Wal zu seinen Franzosen brachte und den Melville nach dieser Arbeit nicht losließ, weiß der aufmerksame Leser schon aus den hiesigen Walfängen. In wie viele Sprachen dieser “Walbulle im Karpfenteich der Romanliteratur” (Göske, Seite 869) bis zum heutigen Tag übersetzt wurde, vermag wohl nicht mal mehr die größte Melville-Koryphäe zu sagen – hat er doch mittlerweile die ganze Welt erobert.

Aber ich bin euch noch was schuldig. Denn aufgemacht hatte ich mich ja, um Moby Dick in Russlands Weiten aufzuspüren.

Der obige Fund ist eine Online-Übersetzung des Romans auf der Seite der Elektronnaja Bibliotheka, basierend auf der Hendricks House Edition, die von Professor Eugene F. Irey der University of Colorado bearbeitet wurde. Der auf dieser Erwähnung ausdrücklich besteht. Genauer gesagt, handelt es sich um zweimal die identische Volltextversion, übersetzt von Inna Bernstein, mit paralleler englischsprachiger Fassung. Die einzige Erklärung, die ich für diese Doppelung für mich gefunden habe, ist, dass es sich wohl um zwei Versuche des Hochladens handelt und schlicht und ergreifend der Speicherplatz für das monströse Upload nicht gereicht hat. Denn so ganz Volltext – also bis zum Ende – ist es denn doch nicht, denn selbiger bricht jeweils nach dem 60. Kapitel ab.

Weitere Googeleien führten lange ins Nichts, bis – ja, bis ich auf die Idee kam, den russischen Wal doch einfach mal mit kyrillischen Zeichen und entsprechend getippselten Suchanfragen aus der Reserve zu locken. Wozu hat man schließlich mal, vor einem gefühlten Walalter, mit summa cum laude sein Diplom in russischsprachiger Literatur erschwitzt. Und siehe da, das Ungetüm kam zutraulich ans Ufer geschwommen, seinen Papa Melville nebst reger einschlägiger Literaturwissenschaftlerei im Schlepptau.

Mobi Dik 1967Mit dem, was ich da so alles an Bord gehievt habe, werde ich euch gelegentlich häppchenweise füttern – wenn ihr Lust habt. Ich muss mich selber erst noch da durchwühlen. Einstweilen nur so viel: Es gibt diverse komplette Online-Versionen des Romans: diese hier zum Beispiel mit erklecklichem Anmerkungsteil und einem Nachwort von J. Kovaljov, allerdings leider ohne Inhaltsverzeichnis, dafür aber in Seiten gegliedert. Eine sperrigere mit fortlaufendem Text hat ein Inhaltsverzeichnis am Ende.

Die Russen können ihren Moby erst seit 1961 in kyrillischen Lettern lesen, dank der erwähnten Frau Bernstein, die das absolute Moby-Monopol zu haben scheint.

Und der erste Satz – heißa! – lautet: Зовите меня Измаил (Zovitje menja Izmail). – Was eins zu eins übersetzt unser “Nennt mich Ismael” ist.

Written by Wolf

23. July 2007 at 12:01 am

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Red Moby (nicht von Lefebvre) (noch nicht)

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Sozialkritisch sein. Soll man doch immer. Hat man jedenfalls gelehrt, als ich noch in der Schule war. Mich hat das genervt, dauernd an allem irgendeinen Haken finden zu sollen, statt sich zu freuen, dass endlich mal alles passt. War ich viel zu beschäftigt mit Moby-Dick-Lesen, Reclam-Ausgabe (und Heftchen gucken, voll Mädchen).

Bettie Page, Dominant DamselsGeht aber aber auch beides:

Ist nicht Moby-Dick, neben so vielem anderem, eine Parabel auf den Kapitalismus?

Ahab ist nicht Eigentümer der Pequod, sondern er hat Vorgesetzte, Peleg und Bildad, die wahren Eigner des Kapitals, die ihn für dessen Vermehrung bezahlen. Sobald er jedoch auf See ist, gibt es über ihm nur noch Gott, was ihn faktisch eben doch die größtmögliche Verfügungsgewalt über jenes schwimmende Produktionsmittel gibt, das nach einer ausgerotteten Indianerkultur heißt. Und er nützt sie weidlich aus: für seine persönliche Rache.

Sehen wir den Wal Moby Dick (ohne Bindestrich, den hat nur der Romantitel) als zu erwirtschaftenden Mehrwert, so setzt Ahab wirklich alles bis hin zum Leben seiner unterstellten Arbeitskräfte einschließlich seines eigenen ein. Wie reinrassig kann ein Kapitalist noch sein?

Ahabs Rachebedürfnis rührt auch noch daher, dass der Mehrwert sich ihm schon einmal entzogen, ja ihm dabei sogar ein Stück seiner selbst entrissen hat. Der Mehrwert lässt sich nicht erwirtschaften, vielmehr lässt er die Inhaber und Akkumulatoren des Kapitals an ihrem eigenen Geiz, ihrer Verbissenheit, ihrem Festhalten an ihrem Prinzip, verderben.

Noch nie war materielles Denken so irrational, der Kapitalismus so deckungsgleich mit Wahnsinn.

Ist er nicht?

Ist er doch.

Bild: D-Kline für Dominant Damsels; Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

19. July 2007 at 3:36 am

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Zwischen Elephant Island und den Jagdgründen von Mocha Dick

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Elke kennt sich da aus und gibt Stephan Antwort:

Who is the third who walks always beside you?
When I count, there are only you and I together
But when I look ahead up the white road
There is always another one walking beside you
Gliding wrapt in a brown mantle, hooded
I do not know whether a man or a woman
— But who is that on the other side of you?

T.S. Eliot in: The Waste Land, 1922.
Die Strophe ist Shackletons Marsch
über das Südgeorgische Gebirge gewidmet.

Elke HegewaldDas Stichwort Endurance und noch mehr die Erwähnung Sir Ernest Henry Shackletons, des exzessiven Antarktis-Fahrers, haben mich an etwas erinnert: Ich habe ihn vor gar nicht so langer Zeit nämlich auch gesehen, den Dokumentarfilm Verschollen im Packeis (Originaltitel: Shackleton’s Legendary Antarctic Expedition – USA 2000) und fand ihn atemberaubend. Das heißt, so es denn gestattet ist, den tiefen und anhaltenden Eindruck einer Dokumentation in bewegten Bildern so zu umschreiben.

Und ich kann Stephan verstehen. Denn die Story fühlt sich an wie das perfekte Szenario zu einem dramatischen Abenteuerfilm, das man nicht spannender hätte ersinnen können. Und doch ist es eine von den Geschichten, die das (Forscher-)Leben schreibt, auch wenn man sie kaum glauben mag:

Shackletons Expedition, die drei Tage vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges begann und die erste Überquerung des antarktischen Kontinents werden sollte, scheitert. Nach 327 Expeditionstagen wird die Endurance am 27. Oktober 1915 vom Packeis zerdrückt. Die Besatzung ist zu diesem Zeitpunkt tausende Kilometer von jeder Zivilisation entfernt. Sie erreicht mit ein paar geretteten Booten, die sie auf einem Marsch voller Strapazen mit Manneskraft übers Eis gezogen und zwischen Eisschollen hindurch manövriert hat, am 15. April 1916 Elephant Island auf den südlichen Shetlandinseln.

Ernest Shackleton, Shackleton's Antarctic Journey, EnduranceVon dort aus bricht Shackleton mit fünf Männern auf, um Hilfe zu holen, und es gelingt ihm und dem Skipper der Endurance, Frank Worsley, in einer seemännischen und navigatorischen Meisterleistung nach 15 Seetagen am 10. Mai das 1200 km entfernte Südgeorgien zu erreichen. Nach einem kräftezehrenden Fußmarsch über das Gebirge erreichen sie am 20. Mai die Walstation Stromness an der bewohnten Ostküste der Insel. Und endlich glückt am 30. August 1916, erst im vierten Anlauf, die spektakuläre Rettungsaktion, und Shackleton holt seine Männer nach Hause.

Sein Ruhm ist in den heißen Kriegszeiten groß genug, ihn zum Nationalhelden zu machen, und kann dazu herhalten, die Frontkämpfer zu motivieren. Viele seiner Männer melden sich freiwillig an die Front – und fallen.

Das Buch zum Film schrieb die Amerikanerin Caroline Alexander, die einige Jahre zuvor bereits einen Bildband über die Shackleton-Expedition veröffentlicht hatte. Ihr Verdienst dabei ist vor allem eine lebendige Zeichnung der Charaktere der Crew mit Hilfe der alten Bordbücher und Dokumente:

… eine Besetzung von altgedienten Forschungsreisenden, Wissenschaftlern und der Schiffsmannschaft. Wir erfahren beispielsweise, daß der Zimmermann und Schiffbauer Henry McNish — oder “Chippy”, wie er genannt wurde — “weder verträglich noch tolerant”, und Mrs. Chippy, seine Katze, “voller Charakter” war. Beschreibungen dieser Art aus erster Hand, gepaart mit 170 von Frank Hurleys intimen Fotografien (hier zum ersten Mal umfassend zusammengetragen), durchdringen den Rumpf der Endurance und die rauhen Schalen dieser zähen Männer. Sie bringen das kaum bekannte häusliche Leben einer Expedition zum Vorschein — das Liedersingen, die Festgelage, die Vorträge und die Kameradschaft — so daß uns diese Leute über die stereotype Gestalt der Forscher hinaus vertraut sind, als die Entbehrungen einsetzen und wir um ihre Sicherheit bangen.

Alexander stellt Shackleton als einen inspirierenden Optimisten dar, als “einen Führer, dessen Mannschaft für ihn stets an erster Stelle kommt”. Durch die zermürbende Tortur hindurch zeigen Shackleton und seine Männer, was Durchhaltevermögen und Größe sind. Endurance ist ein intimes Porträt einer Expedition und des Überlebens. Der Leser wird Respekt vor diesen kühnen Seelen gewinnen und ihre unvorstellbare Mühe und ihren halbvergessenen Ruhm besser kennenlernen.

Aus der Amazon-Beschreibung

Die Filmemacher hatten das Glück, dass sie hunderte Originalfotos und umfangreiches Filmmaterial verwursten konnten. Hinterlassen von einem Teilnehmer der Unternehmung, dem australischen Kameramann Frank Hurley, ohne den es diese faszinierende Dokumentation wohl nicht geben würde.

Randall Enos, Mocha DickWas für Assoziationen uns hier zu Moby-Dick hintreiben?

Nun, eigentlich graben wir (danke, Stephan!) in der Nähe der Herkunftswurzeln des Weißen Wals, sogar in zweierlei Richtung.

Denn dass erstens Owen Chases Bericht zum Untergang der Essex eine der Steilvorlagen für Melvilles Roman war, ist unbestritten. Und die Strapazen der (zugegeben kannibalischen) schiffbrüchigen Walfänger von 1821 mit denen der Shackleton-Männer zu vergleichen, scheint mir so weit hergeholt nicht.

Und zweitens lassen uns diese – zu guter Letzt doch noch mehr oder weniger glücklich (oder glimpflich?) ausgegangenen – Schicksale der Besatzungen doch wiederum tiefer nachsinnen über Melvilles drastisch geänderte Schreiberpläne und -wendungen. Die ihn zuletzt bewogen haben, nur den armen Ismael überleben zu lassen im Kampf der Gewalten: “Und ich allein bin entronnen, dass ich dir’s ansagte.” (Hiob 1,15, 16, 17 und 19) Dass er es mal anders vorhatte, weiß der Herr Nachwörtler Göske (und bestimmt auch der gute Hawthorne):

Auch Melville nahm nun auf das Schicksal der Essex Bezug, aber er wollte im archetypischen Kampf zwischen Wal und Mensch keine Überlebenden. Während ursprünglich wohl wichtige Nebenfiguren… einen frühen Tod finden sollten, entschloss er sich nun, die Männer auf der Pequod am Ende in einer einzigen, dramatischen Katastrophe zusammen ins Verderben zu schicken.

Göske, Seite 881

Bliebe noch Stephans Frage, ob es noch weitere belegte Walangriffe auf große Schiffe gegeben habe.

Kurz nach der Beendigung seines Romans erfuhr Melville aus den Zeitungen vom Untergang der Ann Alexander im August 1851. Ein Pottwal hatte sie gerammt und versenkt (siehe Göske/Jendis, Seite 884). Er war erschüttert und schrieb in einem Brief nach New York:

“Nachdem ich die letzten Tage mit Axt, Spaltkeil & Schlegel im Walde gewirtschaftet hatte, war mir der Wal fast vollständig entglitten (& ich war froh drum), und krach! kommt Moby Dick höchstselbst… herbei & erinnert mich an das, was ich in den letzten ein oder zwei Jahren getrieben habe…. – Ihr Götter! Was für ein Kommentator ist doch dieser Wal der Ann Alexander!… Ich frage mich, ob meine böse Kunst [evil art] dies Ungeheuer aufgestört hat.

Ebenda, Seite 884

Und dann ist da mindestens noch der legendäre und unfassbare Mocha Dick, kein Geringerer als der Namensgeber “unseres” Wals. Und in der Tat, ein bisschen unfassbar ist er immer noch. Der Abschnitt zu Mocha Dick unter Walfang in der Wikipedia ist – verlautbart – mangels ausreichender Belegbarkeit von der Löschung bedroht. Umso erstaunlicher, als laut und deutlich ein Zeitungsartikel im New York Knickerbocker Magazine vom Mai 1839 als Beleg angeführt wird. Der m.E. nicht mehr vage sein kann als eben jener Mocha Dick selbst. Aber es handelt sich hier offenbar um den auch längst immer wieder durch unsere eigenen Aufzeichnungen geisternden J. Reynolds, dessen einziger Makel zu sein scheint, dass er, weiß der Geier warum, niemals nicht ins Deutsche übersetzt ward. Oder? Wolf, erleuchte uns!

[Der Reynolds wurde erstmals von Friedhelm Rathjen für seine Moby-Dick-Ausgabe verdeutscht und ist 2004 dort im Anhang erschienen. – Anm. Wolf]

Ein Artikel in der mare 15 nimmt ebenfalls auf den Geisterwal Bezug. Nu ja, aber ob man den nun belegt nennen soll?

So, und ehe mein Traktat hier nun gänzlich ausufert, nur noch eine leise kleine Anmerkung: Auf der kürzlich bei mir zu Hause eingelaufenen Essex des Owen Chase bin ich gerade noch in Sturm- und Wellengebraus unterwegs. Sollte diese Reise ein glückliches Ende finden, erfahrt ihr hier umgehend davon.

Title Page of First Edition of Moby-Dick

Bilder: Frank Hurley, Randall Enos, Peabody Essex Museum, Salem, Massachusetts; Lizenz: Creative Commons, Public Domain.

Written by Wolf

12. July 2007 at 12:01 am

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Only that day dawns to which we are awake

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Stephan war vor Ort:

Warum müssen wir uns wahnsinnig beeilen, Erfolge zu erringen, und wozu stürzen wir uns in solch verzweifelte Unternehmungen? Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen andern Trommler hört.

Henry David Thoreau

Stephan De MariaIch war am Walden-Pond, wo auch Thoreaus Hütte als Gedenkstätte steht. Der Ort, die Hütte selbst sind nicht tief beeindruckend für nordamerikanische Verhältnisse. Walden ist ein kleiner, unscheinbarer See im Wald, der Wald selbst – zumindest mittlerweile – ist ähnlich deutschen: mit Wegen durchzogen, forstlich gepflegt, also eher langweilig.

Aber als ich mich hingesetzt habe, das Buch in der Hand, mal ne Seite lesend, mal die Landschaft betrachtend, da wurde der Ort anders. Die Luft wurde kälter, die Zivilisation rückte ab. Das Bild des Schriftstellers, Holz bereitend für den nahenden Winter, freiwillig abgerückt von der lauten, hektischen Welt, das wurde sehr lebendig. Ein Aussteiger in einer Epoche, die sich gerade erst aufgemacht hat, sich neu zu erfinden.

Ist denn Ishmael nicht auch ein “Aussteiger”?

Site Thoreau Cabin Loc.

Bild: Library of Congress; Lizenz: Public Domain.

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8. July 2007 at 12:54 pm

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Wir sind hier nicht in der Wall Street, Dirk

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Update zu Dös peitscht mi jetzt ned so sonderlich:

Digital ist besser 1995, Front-CoverDie gute Nachricht: Tocotronic haben eine neue CD namens Kapitulation gemacht.

Die schlechte Nachricht: Wenn Dirk von Lowtzow sich dazu interviewen lässt, raucht er vorher anscheinend ganz komische Sachen. In der Schule hat er wohl irgendwie mal Melville gehabt:

Etwas nicht zu tun und die Waffen zu strecken, das ist auf jeden Fall eine Strategie. Weil man sich so den Anforderungen, die an einen gestellt werden, entzieht. Das ist ja so eine Bartleby-Idee.

Und wenn man dann kapituliert hat und wie der Schreiber Bartleby immer wieder gesagt hat “I would prefer not to”, wie geht es dann weiter?

Das ist ja jetzt erst mal nicht unsere Aufgabe zu sagen, wie es da noch weitergeht. Jetzt sind wir ja erst mal froh, dass wir kapituliert haben. Und dann kann man kucken, wie man von da weiterkommt. Aber grundsätzlich: Wir haben mit der Platte eine künstlerische Äußerung getätigt, die erst mal keinen pragmatischen Nutzen hat. Dieses Album ist kein Lebensratgeber, sondern eine Rockplatte, also im Feld der Ästhetik angesiedelt.

Interview in der taz: Dieses ganze scheiß Harmlosistan, 2. Juli 2007

Och Herr von Lowtzow, das können Sie doch besser. Wenn Sie schon den schönen Bartleby darauf runterkochen müssen, dass da einer hach-wie-künstlerisch die Arbeit verweigert, hätten Sie sich wenigstens merken können, wie das Ding ausgeht.

1995 ballerten Tocotronic mit einem Küchentisch-Sound auf gehobenem Spielzeug einer Epoche, in der die Kinderzimmer endlich alle mit Steckdosen ausgestattet waren, in die Radiosender und Feuilletons, ließen einen nicht in Ruhe mit der Frage, ob dieses missmutige (na, jedenfalls deutsche!) Genöle Unbekümmertheit oder juveniler Wohlstands-Ennui sein sollte, wurden die Mütter des deutschen Indie-Geschrammels und gingen nie wieder weg. Haben Tocotronic deutschlandweit wirklich so viel weniger geleistet als The Velvet Underground weltweit?

Schon zur Zeit der ersten beiden Tocotronic-Platten, denen wir in ihrer Rotzigkeit nicht viel weniger als eine eigenwillige, dennoch klassische Schönheit zusprechen dürfen, traf von Lowtzow Aussagen wie Was nicht ist, kann niemals sein (Digital Ist Besser, 1995). Das hatte aber wenigstens einen surrealistischen Charme.

Was Herr von Lowtzow dazu sagen würde? Wahrscheinlich, was er immer sagt: Man wird sich als Band wohl noch weiterentwickeln dürfen. Pure Vernunft darf niemals siegen.

Tocotronic bei der Arbeit

Bild: taz, 2. Juli 2007.

Written by Wolf

6. July 2007 at 1:35 am

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Chez Pierre

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An infixing stillness, now thrust a long rivet through the night, and fast nailed it to that side of the world.

Herman Melville: Pierre

Da durchschlug ein Keil von Stille die Nacht und nagelte sie wie mit einem langen Bolzen fest an diese Seite der Welt.

Übersetzung: Christa Schuenke

Es ging nicht gut. Ein Absturz, der mit dem Straucheln Mardi eingeleitet und mit Moby-Dick angefangen wurde, nahm mit Pierre seinen Lauf.

Herman Melvilles Buch #7 Pierre oder die Doppeldeutigkeiten von 1852, das ist: ein Jahr nach Moby-Dick, war sein größter Skandal. Die Handlung und ihre moralische Bewertung, oder vielmehr der Mangel daran, braucht kein puritanisch-viktorianisches 19. Jahrhundert, um skandalös zu wirken. Laut Daniel Göske ein radikales Experiment.

Die andere Besonderheit: Es ist derjenige von Melvilles Romanen, der am wenigsten mit Seefahrt zu tun hat – und in dem Frauen tragende Rollen spielen. Es geht um das Leben der gehobenen Gesellschaft von New York, und die Frauen sind nicht die gewohnten dramaturgischen Elemente, in die sich verschiedene Handlungsträger zu verlieben haben, sondern ausgebildete Charakter, eigentlich dominierender als die männlichen Figuren. Drittens: Melville zeichnet in der Hauptfigur ein verfremdetes Selbstportrait.

Pierres Verlobte Lucy – das, was es im unaristokratischen Amerika statt Hoher Töchter gibt – ist anfangs ein konventionelles Heimchen, wie es bei Austen und den Brontës neuerdings geleugnet wird, wächst jedoch im Verlauf zu einer eigenen Größe heran. Dann nämlich, als sie ihrem abtrünnigen Pierre nachzieht, der mit der finsteren Schönheit Isabel, Lucys Gegenteil, nach New York durchgegangen ist.

Das Isabel sich nebenbei als Pierres Halbschwester herausstellt, ist nur der Anfang einer wüsten Geschichte um Inzest mit Mutter, Schwester, Vater gar. Die leichthin unterhalende, dabei nur unterschwellig moralisierende Darstellung solcher Ungeheuerlichkeiten begründete Melvilles Ruf, ernsthaft geistesgestört zu sein, was ihm noch länger anhängen sollte.

Wenn David Lynch je Charlotte Brontë verfilmen sollte, kommt Pierre dabei raus. Etwas in der Richtung ist schon lange fällig. Ein veritabler Jammer, dass Herman Melville keine Filme gedreht hat.

Code Civil

Written by Wolf

30. June 2007 at 11:09 pm

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The still unannotated Melville

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Update zu Als sei der gewaltige Nichtstuer der kunstvolle Werber:

Alice Pleasance LiddellIm Vergleich zu den durcherklärten Versionen von Lolita 1991, Alice im Wunderland 2002 (die Annotated Alice von 1999) und Huckleberry Finn 2003 (der Annotated Huckleberry Finn von 2001) mit einem echten Stellenkommentar – einem an der Stelle, an der man ihn braucht – schlagen sich die Melvillischen Neuübersetzungen doch ganz wacker. Ein Annotated Moby-Dickdas wäre doch mal eine Ausgabe!

Mein Vorschlag zur Friedensstiftung zwischen Friedhelm Rathjen und dem Hanser Verlag: Rathjen, der schon den Huckleberry Finn sehr ordentlich möbliert hat, soll schnell für den Hanser-Melville alle Erzählungen und die ganze Lyrik runterübersetzen, dann haben wir von “Ausgewählte Werke” auf eine Gesamtausgabe aufgestockt, fürs Weihnachtsgeschäft wird der Moby-Dick auf eine annotated Version umgelayoutet, und alle sind glücklich – vor allem auch die ganzen Schulkinder, die regelmäßig auf der Suche nach dem Lightning-Rod Man auf Deutsch bei mir rauskommen. Und ich erst mal.


Bild: Alice Pleasance Liddell als The Beggar-Maid von Lewis Carroll 1858; Lizenz: Public Domain.

Written by Wolf

28. June 2007 at 2:57 am

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Schwören wir auf Moby-Dick!

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Elke macht das nötige Update zu The secret’s in the sauce:

“Hardcover, Rotschnitt, die Ausgabe wird nicht ersichtlich.”
Wolf, 11. Juni 2007

Elke HegewaldEine Frage bleibt ja offen in diesem ganzen Grüne-Tomaten-Salat: Auf welche „Bibel“ hat der gute Reverend Scroggins denn nun geschworen?

Wo ich doch so ein neugieriges Mädchen bin und Mr. J. Larry Voyer sich die dankenswerte Mühe gemacht hat, uns eine ansehnliche Graphical Bibliography of published editions, in English, prior to 1970 of Moby Dick by Herman Melville zur Verfügung zu stellen – kramen wir doch einfach mal.

Also, ich finde ja, dass die Ausgaben von Harper & Brothers von 1855 und 1950, vielleicht sogar die von 1851, gut als Bibel durchgehen könnten. Oder wie wärs mit der 1930er von Oxford University Press? Schick sind ja fraglos noch die drei Bände vom Chicagoer Lakeside Press, 1930, illustriert von Rockwell Kent. Oder die die 1926er von Carleton House, New York, aber die wäre wohl zu auffällig gewesen, wie einige andere Schnuckelchen auch.

Hm, so als religionsferner Mensch würde mich ja noch interessieren: Wie ist das eigentlich dann mit dem Eid auf die falsche Bibel? So ähnlich wie bei Kindern, die mit gekreuzten Fingern hinterm Rücken lügen? Ich würde ja jederzeit auf Moby-Dick schwören, so als lesende Waljägerin jetzt…

Und immerhin hat seine literarisch-filmische Schwanzflosse sogar schon mal reale kirchliche Belange aufgemischt. Seamen’s Bethel in New Bedford sieht schließlich erst seit 1961 aus wie Father Mapples Gottesort, nachdem ungezählte enttäuschte Touristen dort unmutig nach einer Kanzel wie ein Schiffsbug geröhrt hatten.

Father Mapples Walfängerkirche

Written by Wolf

16. June 2007 at 2:16 pm

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Glory Glory

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Update zu Aspects of Abraham:

A Great RushWhen Vicksburg fell, and the moody files marched out,
Silent the victors stood, scorning to raise a shout.

Herman Melville: A Meditation.
Schluss der Battle-Pieces, August 1866.

Es hatte ein Krieg begonnen, der wegen seiner langen Dauer von genau vier Jahren, wegen der Anstrengungen und Opfer auf beiden Seiten, wegen des großen Materialeinsatzes und wegen der technischen Neuerungen als der erste moderne Krieg angesehen wird, der viele Aspekte der beiden “totalen” Kriege des 20. Jahrhunderts vorwegnahm. Auch der amerikanische Bürgerkrieg war ein Zermürbungskrieg; wirtschaftliche, soziale und psychologische Momente sowie die von den Zeitungen gesteuerte öffentliche Meinung spielten eine große Rolle. Zum ersten Mal und mit überwältigender Wirkung wurde die Photographie zur Darstellung der Kriegsgreuel eingesetzt.

Giampiero Carocci:
Kurze Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs.
Der Einbruch der Industrie in das Kriegshandwerk
, 1996.


3:52 Minuten. Musik: Amazing Grace

Der Bürgerkrieg war mit Abstand der verlustreichste Krieg in der Geschichte der USA. Über 550.000 Soldaten starben. Die Zahl der reinen Gefechtstoten lag dabei mit knapp 200.000 nahe an der des Zweiten Weltkriegs, bei einer Gesamtbevölkerung, die mit 31 Millionen ein Fünftel betrug. Allein in den zwölf Stunden der Schlacht von Antietam wurden 23.000 Amerikaner getötet oder verletzt, mehr als Amerikaner, Briten, Kanadier und Deutsche zusammengenommen bei der Landung in der Normandie 1944.

Ein Grund war die neue Form der Kriegsführung. Die technischen Neuerungen, die sich im Krim-Krieg angedeutet hatten, wurden erstmals im großen Stil eingesetzt. Der Civil War wurde damit zum ersten “modernen”, industrialisierten Krieg. Es gab primitive Maschinengewehre, Land- und Seeminen (damals “Torpedos” genannt), gepanzerte Schiffe, U-Boot-Angriffe und Experimente mit Flammenwerfern. Truppen wurden per Eisenbahn transportiert, Befehle über Telegraphen erteilt.

Scot W. Stevenson: Das wirkliche nationale Trauma der USA,
7. Februar 2007.


4:07 Minuten. Musik: Ashokan Farewell

Ohne den Bürgerkrieg 1861–1865 wäre heute noch nicht mal der Irakkrieg möglich. Endlich erstreckte sich ein Krieg nicht mehr auf eine auserlesene Kaste von Militärs mit fachlich eingeschränkten Zielen, sondern bezog die gesamte Zivilbevölkerung ein. Der erste Krieg 2.0.


3:18 Minuten. Musik: Kathleen Mavournee from Gettysburg

Bild: New-York Historical Society via American Memory;
Film 1, 2 und 3: Creative Commons;
Lizenz: Public Domain.

Written by Wolf

13. June 2007 at 1:04 am

The Little Lower Layer

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Update zu Melville total versaut:

Hark ye yet again—the little lower layer.

Chapter 36, The Quarter-Deck

Nathaniel Hawthorne by Charles Osgood, 1840Schreiber lesen viel, darum kennen sie sich aus der Ferne.

Herman Melvilles Erstling Typee war Nathaniel Hawthorne über Evert A. Duyckinck aufgefallen, Hawthornes Verleger, der später auch Melvilles werden sollte. Einstweilen ließ er Hawthorne für den Salem Advertiser vom 25. März 1846 den Typee rezensieren. Der war nämlich in Wiley and Putnam’s Library of American Books erschienen, wo auch Hawthorne veröffentlichen ließ, und gefiel ihm gut genug, dass er mehr aus der Reihe anforderte (deutsch in den Erzählungen bei Winkler, 1977).

Hawthornes Bestellung bei Duyckinck war wohl echt emotional. Der Mann war Erzähler, kein Kritiker; seine wenigen erhaltenen Kritiken sind Gelegenheitsarbeiten aus Gefälligkeit. Wenn man ihm nicht unterstellen mag, er wollte von seinem Stammverleger gratis Rezensionsexemplare abstauben, regte sich da wohl die Seelenverwandtschaft.

Als nächstes sehen wir die Verlagskollegen Melville und Hawthorne vier Jahre später, nachdem Melville nebst Familie sein Landhaus Arrowhead bezogen hatte, am 5. August 1850. David Dudley Field hatte eine größere Gesellschaft zum Picknick geladen; es ging zum Monument Mountain bei Stockbridge, Massachusetts. Das erste Treffen der zwei Nachbarn – der eine 31 und gerade über seinem Magnum Opus Moby-Dick, der andere 46 und gerade über seinem ersten Roman The Scarlet Letter. Man verstand sich:

Wie es auf Picknicks so ist, brach ein Gewitter los, vor dem die Gesellschaft Schutz suchen musste, wobei die zwei anfangs eher schüchternen Mannsbilder sich endlich zusammenfanden – und “found they held so much of thought, feeling, and opinion in common, that the most intimate friendship for the future was inevitable” (Godfrey Greylock: Taghconic: The Romance and Beauty of the Hills, 1879).

Dann gibt eins das andere: Zwei Tage später, am 7., schreibt Hawthorne in einem Brief: “I liked Melville so much that I have asked him to spend a few days with me”, und am 17. und 24. erscheint zweiteilig in der New York Literary World Melvilles wichtigster Essay: Hawthorne and His Mosses. By a Virginian Spending July in Vermont über Hawthornes Mosses from an Old Manse, das allerdings schon 1846, in gleichen Jahr wie der Typee erschienen war.

“Zwei Kollegen und Nachbarn, die gelegentlich miteinander einen heben? Das macht sie doch nicht schwul?”

Nein. Hat auch noch keiner gesagt.

Nathaniel Hawthorne's Red House Cottage Tanglewood
The Red Cottage Where Hawthorne Wrote
The House of the Seven Gables bei Studies in the House of the Seven Gables.

Written by Wolf

10. June 2007 at 3:16 am

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More done with pens than swords [and whips]

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Update zu Work in Congress und
erst recht Bürgerkriegsware:

Price, Birch & Company, 1865

Einmal, ein einziges Mal, nahm Herman Melville mit einem seiner Bücher Einfluss auf die Politik seines Landes.

Gewerbeträchtigem Schreiben hatte er sich nach ein paar juvenilen Versuchen überhaupt wieder zugewandt, weil die Leute so gern seinem Seemannsgarn zuhörten und er sich ihren Ermunterungen, das doch mal alles aufzuschreiben, nicht länger widersetzen mochte. Zwei Bücher lang lief’s ganz gut, dann kam ein Einbruch mit Mardi, dann eine Erholung mit Redburn, und dann kam White Jacket, seine Nr. 5 anno 1850, eins vor Moby-Dick, siehe Bücherliste.

Zu dem Seemannsgarn gehörte, dass Melville sich einmal gezwungen sah, von seinen Schiffen zu desertieren: den 9. Juli 1842 vom Walfänger Acushnet, was zu den Erlebnissen in Typee führte; vom nächsten Walfänger Charles and Henry Richtung Hawaii und danach dem Kriegsschiff United States nach Boston über die Marquesas, Tahiti, Valparaiso, Callao, Lima und Rio de Janeiro wurde er ordnungsgemäß abgemustert. Die Erlebnisse zwischen den beiden letzteren mündeten in White Jacket.

Weißjacke (auf Deutsch nur im vergriffenen Sammelband) geriet zu einem Pamphlet gegen die Zustände in der US-amerikanischen Marine.

Am historischen Horizont drohte schon der Sezessionskrieg (1861–1865), in dem Sklavenhaltung zur Glaubensfrage erhoben wurde. Gestrenge, knochenharte Puritaner hatten höfliche, gottvergnügte Quäker abgelöst und leiteten aus dem Alten Testament und einigen Stellen der Paulus-Briefe Argumente pro Sklaverei ab, denn auch Bibeldruckpapier ist geduldig. Und darauf stand geschrieben, dass seine Kinder züchtigt, wer sie liebt. Und seine Sklaven dann ja wohl erst recht.

Auspeitschungen kannte Melville. Vom Man-o-War United States. Und fand sie schlimm genug, um gegen sie anzuschreiben. White Jacket schenkt dem Leser nichts, es liest sich stellenweise engagiert bis brutal.

Jemand im Kongress höchstselbst glaubte ihm. Und die alte Manesse-Ausgabe weiß im Nachwort:

Das Buch wurde jedem Kongressmitglied auf das Pult gelegt, und bald ging ein Gesetz durch, das die Auspeitschung in der Flotte untersagte und keine andere Strafe an deren Stelle setzte.

Konteradmiral Franklin nach John Freeman:
Herman Melville, cit. H. M.: Weißjacke,
Nachwort von Dr. Walter Weber, Manesse 1948

So wurde die Prügelstrafe in der Marine 1850 vom amerikanischen Kongress wenn schon nicht faktisch abgeschafft, so doch offiziell verboten. Eins der verdienstreichsten Beispiele der Geschichte, dass Literatur sehr wohl etwas bewirken kann.

Zwischenrechnung für die Lohnschreiber unter uns: 1850 bestand der US-amerikanische Kongress aus 233 Abgeordneten. Allein die Aktion, jeden davon mit einem Exemplar seines Romans zu versorgen, brachte Melville also eine Auflage, von der er bei seinen späten Gedichtbänden nur träumen konnte: Der letzte davon, Timoleon vom Mai 1891, erschien in 25 Exemplaren.

Harriet Beecher-StoweÜberhaupt war die Zeit sensibel für literarische Eingriffe in die Politik, sogar im ruppigen, provinziellen Süden: Uncle Tom’s Cabin von Harriet “There is more done with pens than swords” Beecher-Stowe erschien 1852, ziemlich genau zwei Monate nach Moby-Dick. Noch 1862, da der Bürgerkrieg schon rundum tobte, begrüßte Abraham Lincoln Frau Beecher-Stowe mit dem denkwürdigen Satz:

So you’re the little woman who wrote the book that started this Great War.

Das ist doch die Art von Anerkennung, die sich der Elfenbeintürmer wünscht.

Written by Wolf

5. June 2007 at 2:44 am

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Vom Umgang mit Ungeheuern und Urtexten

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Update zu Moby-Dick; oder: Der Wal. Der Rathjen:

Meer und Walfang verweigern sich jeder romantischen Etikette. […] Und genau so ist es der Sache angemessen.

Robert Habeck

By no means the sort of book for youAch ja: Was die Rathjen-Übersetzung noch so schön wertvoll macht: Da sind nämlich außer den aufgeführten Leckereien auch noch alle Illustrationen von Rockwell Kent drin. Das sind die historischen, bei denen man sofort an Moby-Dick denkt, wenn man sie irgendwo nur aufblitzen sieht. Erst von 1930, aber die 79 Jahre konnte das Buch warten, bis es so kongenial bebildert werden durfte.

Die Tonart der Bilder singt nämlich genau von den Gründen, aus denen Herman Melville selbst, ein kommerzieller Selbstrufmord mit den Mitteln des Mikromarketing, seiner Nachbarin und potenziellen Leserin Sarah Morewood von seinem neuen Buch abriet:

Don’t you buy it – don’t you read it, when it does come out, because it is by no means the sort of book for you. It is not a piece of fine feminine Spitalfields silk – but is of the horrible texture of a fabric that should be woven of ships’ cables and hausers. A Polar wind blows through it, & birds of prey hover over it. Warn all gentle fastidious people from so much as peeping into the book – on risk of a lumbago and sciatics.

Oder im Deutsch von Matthias Jendis:

Kaufen Sie dieses Buch nur ja nicht – lesen Sie es nur ja nicht, wenn es herauskommt, denn es ist ganz und gar nichts für Sie. Es ist kein feines weibliches Stück Spitalfields-Seide, sondern aus jenem grauenhaften Gewebe, das aus Schiffstrossen und Tauen gemacht ist. Ein Polarwind pfeift hindurch, & Raubvögel umflattern es. Warnen Sie alle zartbesaiteten Seelen davor, auch nur einen flüchtigen Blick in dieses Buch zu werfen – sie riskieren Hüftweh und Hexenschuss.

Holzschnitte sind es, von der Sprödigkeit und dem Pathos, die dem Sozialistischen Realismus innewohnen. Lieblich sind sie nicht, aber sie illustrieren, ja sie sind selbst Männersachen wie harte Arbeit, grundlegende Philosophie und die Schonungslosigkeit unser aller Leben.

Ob Jendis oder Rathjen besser gearbeitet hat, lässt sich diskutieren (was wir noch tun werden), jedenfalls kommt Jendis bei Hanser ganz ohne Bilder aus, und im Rathjen bei Zweitausendeins sind sie größer als in der englischen Ausgabe bei Modern Library Classics, die sämtliche Rockwell Kents bringt.

Immerhin Kent hat seinen Melville verstanden.

Birds of prey hover over it

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2. June 2007 at 1:23 am

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Nu in da houze: Moby-Dick; oder: Der Wal. Der Rathjen

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Update und Vollendung zu Die wahren Orte sind es nie:

Vorher:

Nachher:

Hähä. Also muss es mir keiner mehr besorgen (hu, wie das wieder klingt…), ich war selbst so frei. Enthalten in der Rathjen-Übersetzung:

Das meiste davon vermisst man schmerzlich in erreichbarer Buchform, sobald man anfängt, mit Herman Melville zu leben; ich hab schon aus Verzweiflung etliche Originalausgaben in abgelegten Exemplaren aus abgelegenen Provinzstadtbibliotheken der USA importiert, unter anderem welche wie den Hershel Parker, die offensichtlich auch Herr Rathjen benutzt hat – und an dieser Stelle darüber berichtet. Der Weblog ist durchsuchbar.

Rathjen stellt den Anspruch, zum ersten Mal den Urtext aus der gesicherten Fassung bis in die Klangstruktur hinein so getreu wie möglich abzubilden, als “Äquivalent zu für den sperrigen Stil, die wechselnden Tonlagen, die exzessive Rhetorik und die ungewöhnliche Interpunktion” (aus der editorischen Notiz von Norbert Wehr).

Der Approach gefällt mir mit der Zeit immer besser, der Ausdruck übersetzen gewinnt plötzlich seine nautische Zweitbedeutung mit Betonung auf dem Präfix; ich werde meine Wertungen in der Bücherliste relativieren müssen.

Kaum innerhalb einer Zeitspanne, in der man nicht mal ein Kind kriegen kann, die ersten 25 Kapitel Moby-Dick durchgelesen, schon ist man rettungslos vergeekt.

Written by Wolf

31. May 2007 at 12:01 am

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Work in Congress

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Update zu Bürgerkriegsware:

Trinity Episcopal Church, Washington DC

Die Trinity Episcopal Church in der 3rd Street, Ecke Independence Avenue in Washington, District Columbia, auch zur Aufnahmezeit 1863–64 die Haupststadt der USA. Im Hintergrund das noch unvollendete Kapitol.

Zu dieser Zeit kaufte Herman Melville das Haus seines Bruders Allan und zog vom Ort des Schaffens an Moby-Dick im Landsitz Arrowhead in die New Yorker 26th Street. Von nun an wurde er wieder urban, aber immer erfolgloser.

An dem Bild der Trinity Episcopal Church nebst Kapitol rührt uns insonderheit an, wie sich der Bau von dem des zutiefst europäischen Kölner Doms nur durch ein paar hundert Jahre unterscheidet.

Das Bild ist eine Daguerrotypie und wurde nicht mit bildbearbeitenden Computerprogrammen aufgewertet. Die Glaskollodium-Platte des Originals misst 9 Inch auf 9 Inch; auf diese 81 Quadratzoll passen bestürzend viele Details. Wenn man solche Platten materialgerecht lagert, kann man noch nach Jahrhunderten auf einer Landschaftsaufnahme einzelne Sandkörner unterscheiden.

Seit der Praxis der Daguerrotypie wurde in der Fototechnik zugunsten der Handlichkeit immer mehr Bildqualität drangegeben: Es ist die Methode, welche die hochwertigsten Ergebnisse zeitigt, nur leider sehr sperrig zu handhaben. Wenn wir berechnen, die Feuchtemulsion so einer 9×9-Platte fasse 1000 dpi pro Quadratzoll, entspricht die obige Aufnahme der mit einer Digitalkamera von 80 Megapixeln. So weit hat sich die Technik noch lange nicht erholt.

Written by Wolf

23. May 2007 at 2:07 am

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Dös peitscht mi jetzt ned so sonderlich

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Update zu Bartleby, Michaela und ich:

“Prefer not to,” echoed I, rising in high excitement, and crossing the room with a stride. “What do you mean? Are you moon-struck? I want you to help me compare this sheet here—take it,” and I thrust it towards him.

“I would prefer not to,” said he.

I looked at him steadfastly. His face was leanly composed; his gray eye dimly calm. Not a wrinkle of agitation rippled him. Had there been the least uneasiness, anger, impatience or impertinence in his manner; in other words, had there been any thing ordinarily human about him, doubtless I should have violently dismissed him from the premises. But as it was, I should have as soon thought of turning my pale plaster-of-paris bust of Cicero out of doors. I stood gazing at him awhile, as he went on with his own writing, and then reseated myself at my desk.

Herman Melville: Bartleby, 1853.

Bartleby goes BoneBartleby, jener Geniestreich über Arbeitsgebaren und dessen Verweigerung in letzter Konsequenz, ist das erste, was Herman Melville nach Moby-Dick schrieb, auch wenn bis zur Veröffentlichung noch ein ganzer Roman (Pierre, 1852) dazwischen lag.

Was den Bartleby mit dem Moby-Dick verbindet?

Erst mal gar nichts. Sondern im diametralen Gegenteil: Moby-Dick kann gar nicht genug Raum einnehmen: ein (in manchen Augaben) 800-Seiten-Hammer auf allen Ozeanen, das Personal mit dem Anspruch, die ganze Menschheit zu repräsentieren. Die Geschichte öffnet sich immer weiträumiger, bis es buchstäblich nicht weitergeht. Bartleby dagegen spielt auf etwa 30 Quadratmetern in der New Yorker Wall Street, wo Raum ein teures Gut ist, das Personal besteht aus fünf Leuten, allesamt sehr spezielle Einzelcharakter, einer verschrobener als der andere, jeder in seine enge Kopistenarbeit vertieft.

Aber dann: Beide werden von einem namenlosen bzw. einem gut getarnten Ich-Erzähler vermittelt, die jeweils einen Wahnsinnigen beobachten. Und beide enden in einer Katastrophe.

Wie genau? – : Ismael muss seinem Captain Ahab zuschauen, wie er die Mannschaft der Pequod für seine persönliche Rache in den gemeinsamen Untergang befehligt; der Anwalt, der den Kanzleischreiber Bartleby beschäftigt, gibt sich wehrlos gegenüber der Arbeitsverweigerung seines Angestellten, auch wenn der sich hauptsächlich nur selbst schadet: Der Mann verhungert an seinem eigenen Negativismus. Bartleby ist defensiver als Ahab. In der modernen Psychologie fiele sein Verhalten wohl unter passive Aggression.

Ahabs wie Bartlebys Wahnsinn besteht in ihrer unabwendbaren Sturheit. Ihr Trotz steckt an, er beeinträchtigt ihre Umgebung, reißt sie in ihre respektiven Abgründe. Die Umgebung? Die Jungs auf der Pequod, die anderen Jungs in der New Yorker Anwaltskanzlei? Spielen mit, nehmen es hin, unter Protest zwar, aber welche Wahl bleibt ihnen schon.

Dabei wissen sich Bartlebys Kollegen noch eher zu helfen, weil Bartleby ihnen keine übergeordnete Instanz ist, sondern ein neuer Kollege, der sich zum Störfaktor macht. Ihre Lösung könnte egoistischer sein, wie es gesund wäre: Statt Bartleby mit Gewalt rauszuschmeißen, geben sie das Büro auf. Sie verlassen das sinkende Schiff, obwohl sie nicht die Ratten sind. Die versammelte Pequod, die dem gottgleichen Ahab untersteht, entkommt nirgendwohin.

Beides keine glücklichen Ausgänge. Ahab wie Bartleby enden einsam, unverstanden, verbohrt und tot.

Das Moderne daran: Ab etwa 1920 finden die Ungeheuerlichkeiten in der Literatur nicht mehr in äußeren Umständen statt, sondern im Verhalten der Figuren. Will sagen: Ab beispielsweise Kafka wird die Erde nicht mehr von einem Erdbeben in Chile umgewälzt, sondern die Menschen mauern sich ihre Katastrophe, schaufeln sich ihr Grab fein schön selber.

Gerade den Kafka nämlich nimmt der Bartleby 1853 ganz eklatant vorweg: Erst macht er alle, wie sie da sind und nicht weiterwissen, zu seinen verblüfften Mittätern, dann zieht er seine unerklärliche Unvernunft bis zuletzt durch. Selbstzerstörung ohne Rücksicht auf Verluste anderer.

Gerade diese fundamentale Nutzlosigkeit des Untergangs ist hochmodern, sorry to say. Einen eventuellen Gott hat spätestens Nietzsche für tot erklärt, das war 1882. 1851, bei Moby-Dick, hatten die Menschen wenigstens noch Ahab.


Viel davon steht im Vorwort von Jorge Luis Borges zur Bartleby-Ausgabe in seiner eigenen Bibliothek von Babel (Band 17 von 30) – und ihr, die ihr auf der Suche seid nach Material für eure Englisch-Hausarbeit: Eine brauchbare Interpretation zum Bartleby steht in der Lesekost, da nehmt ihr noch ein paar Aspekte aus dem Fluter mit rein.

Bartleby, der hölzerne Charakter

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9. May 2007 at 1:01 am

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Bürgerkriegsware

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Update zu Was man überhaupt noch glauben soll:

8, Whitehall Street, Atlanta, Georgia, 1864. Eines von Hunderten Fotos, die von George N. Barnard während General William Tecumseh Shermans Atlanta-Feldzug im Herbst 1864 aufgenommen wurden. Am 15. November des Jahres ließ Sherman konföderierte Munitionsgeschäfte beschießen und verließ die Stadt in einer Feuersbrunst.

Auction & Negro Sales

Herman Melvilles Freund Nathaniel Hawthorne war gerade (am 19. Mai) gestorben, er besichtigte die Schlachtfelder von Virginia, litt an neuralgischen Schmerzen und Depressionen und fing einen Gedichtband über den Bürgerkrieg an (beendet: 1866).

Danke an den Weblog 100-jähriger Fotos.

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2. May 2007 at 12:01 am

Moby-Dick goes zweiter erster Kontakt

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Update zu Moby-Dick goes Ceti Alpha V:

Als Patrick Stewart für Star Trek die Rolle von Captain Picard übernahm (wahrscheinlich weil die Rolle Captain Kirk dem Darsteller William Shatner zu sehr auf die Bauchmuskulatur ging), muss er sich von seiner Untergebenen Lily wegen fortgesetzter Rachsucht ebenfalls mit Captain Ahab vergleichen lassen.

Das geschieht in Der erste Kontakt von 1996 – ebenfalls einem zweiten Film der Star-Trek-Reihe: nämlich dem zweiten, der auf dem Relaunch Das nächste Jahrhundert basiert.

Durch diese Szene wurde Patrick Stewart nach eigenem Bekunden angeregt, wirklich mal den Captain Ahab zu geben. 1998 durfte er das in der Fernsehversion von Moby-Dick, die manche Fans der klassischen Version von 1956 vorziehen. Die sollen da auch ihre Schlüsse draus ziehen; Trekkies haben’s sowieso eher mit Verschwörungstheorien.

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30. April 2007 at 12:40 pm

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Moby-Dick goes Ceti Alpha V

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I’ll chase him round the moons of Nibia and round the Antares Maelstrom and round perdition’s flames before I give him up!

Khan Noonien Singh

I’ll chase him round Good Hope, and round the Horn, and round the Norway Maelstrom, and round perdition’s flames before I give him up!

Captain Ahab

Das Thema der besessenen Rache wird wiederholt sowohl in der Star Trek-Fernsehserie als auch in den Kinofilmen aufgegriffen. Der Bezug auf Captain Ahab ist im zweiten Kinofilm Star Trek II: The Wrath of Khan von 1982, noch in der historischen Besetzung mit William Shatner und Leonard Nimoy, am offensten: Während der rachsüchtige Khan die Enterprise durchs All verfolgt, zitiert er ganze Passagen aus Moby-Dick. Am Anfang des Films sieht man das Buch in seinem Regal stehen.

Laut Star Trek Wiki sind der “böse” Khan Noonien Singh und sein “guter” Widersacher Captain Kirk als Ahab bzw. Ismael zu begreifen, auch wenn The Wrath of Khan deren Kampf nicht zur Allegorie erhebt.

Regisseur Nicholas Meyer wollte seinem Khan für die Zeit des Exils auf Ceti Alpha V, in der er auf seine Rache wartet, als Zeitvertreib Bücher mitgeben, die im Zusammenhang mit Luzifer in dessen Eigenschaft als gefallener Engel stehen: King Lear, Paradise Lost und eben Moby-Dick. Am Ende identifizierte er sich mit dem Monomanen Ahab.

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29. April 2007 at 12:46 pm

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Neues vom DJ

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Update zu Rock Revolution:

E-Mail von Geoff Trowbridge aus Anaheim, 27. April 2007:

Hello Wolf,

Lame Ducks AnaheimUnfortunately, I know only the ancestry of Moby‘s mother, not his father. All I know is that at his paternal grandparents were John M Hall and Alice B Aldridge.

I’m pretty sure that one of those two people is the source of the connection to the Melville family, but I don’t even know when or where either of them were born, and none of the online databases I’ve checked appear to have the information. Based upon what I’ve read in interviews with Moby, I don’t think that even he is aware of the actual connection.

Sorry I can’t help any further. Good luck!

Geoff

Und die Leute glauben, in Musik- und Literaturgeschichte wäre nichts mehr zu holen…

Written by Wolf

28. April 2007 at 5:50 pm

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Benito Cereno oder Was man überhaupt noch glauben soll

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Vor dem AufstandDer Benito Cereno, erschienen Oktober–Dezember 1855 in Putnam’s Magazine, zählt zu den anerkannten Meisterleistungen Melvilles. Das sah er auch selbst so und machte ein Jahr später die zweite der Piazza-Erzählungen daraus.

Amaso Delano, historisch echt, bodenständig freundlich und außerdem Kapitän des Robbenfängers Bachelor’s Delight, hilft das in einer Flaute festliegende und seiner weißen Offiziere und Matrosen beraubte Schiff eines Sklavenhändlers (Don Benito Cereno) flott zu bekommen und scheitert immer wieder an dem schwer durchdringlichen passiven Widerstand des zickigen Adligen.

Die Erzählzeit ist identisch mit der erzählten Zeit (etwa 7.30 Uhr morgens bis 18 Uhr des selben Tages), was einige Längen ergibt; oder positiv formuliert: Das Geschehen ist in Echtzeit wiedergegeben, ja es wird sogar die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung eingehalten. Die Besonderheit: Etwa das letzte Viertel besteht aus Passagen einer nur teilweise fingierten Gerichtsakte, aus welcher der Gang der Handlung nachträglich eine gegenteilige Deutung erfährt – ein Kniff, der eigentlich erst in der Literatur des 20. Jahrhunderts fällig war. Der Negeraufstand auf einem Sklavenhändler, von dem Melville Nachricht erhielt, fand nämlich statt.

Aus heutiger Sicht ist Melvilles Beurteilung von “Negern” grenzwertig: Er ergeht sich in einer Art wohlwollendem Rassismus. Kapitän Delano, der ungebrochen freundlich erscheint, fühlt sich zu Negern hingezogen “wie andere Leute zu Neufundländern”. Jedoch darf Melville unterstellt werden, sich gegen Diskriminierung zu wenden, jedenfalls unterstützt er nirgends in seinem Werk die zu seiner Zeit höchst gebräuchliche Sklaverei. In White-Jacket und Billy Budd wandte er sich engagiert gegen körperliche Strafen, im ersten Fall mit dem politischen Effekt, dass die Prügelstrafe in der Marine abgeschafft wurde. Auch für Weiße. Ich schweife ab.

Letztendlich äußert sich Melville hier in keiner unkorrekteren Nomenklatur als zeitüblich, und einen edleren Wilden als Queequeg aus Moby-Dick gibt’s gar nicht. Zusätzlich fällt mir noch der komischer gehaltene Negersklave Yorpy aus The Happy Failure ein, der in der Geschichte der eigentliche Gewinner wird.

William Blake, A Negro Hung Alive by the Ribs to a GallowsMelville idealisiert hier klar den weißen Europäer. Das verfolgt jedoch einen historischen Zweck: Benito Cereno ist derjenige, der eben keiner von der Bachelor’s Delight werden kann, weil er an Jahrtausenden von Geschichte trägt. Die Neger sind der Gegenseite der Weißen kämpferisch und intellektuell ebenbürtig, ihr Aufstand war berechtigt, ihre Bestrafung fällt nicht weniger grausam als ihr eigenes Verbrechen aus. Da schenkt keiner dem anderen was.

Melville bezog den Stoff für Benito Cereno aus dem Logbuch von Amaso Delano: Narrative of Voyages and Travels in the Northern and Southern Hemispheres, der als Hauptfigur seiner Erzählung seinen Klarnamen behält.

Das Interessante ist ja nun, dass Melville sich ausgiebig bei einem fremden Logbuch bedient bedient hat. Nennt man das nicht Plagiat?

Nein. Man nennt es… nein, auch nicht Inspiration, man nennt es: aus den Fakten eine Allegorie ableiten. Auch schon im Logbuch ist Kapitän Delano seinem Augenschein aufgesessen und verstrickte sich in ein ganzes Netz aus falschen Deutungen: Aus dem Benehmen des Don Benito und seiner verbliebenen Sklaven musste er schließen, dass er selbst auf der schwarzen Liste stand. Vor dem präventiven Erstschalg hielt ihn nur seine angeborene Gutmütigkeit ab, und dass er seinen ursprünglichen, gottesfürchtigen und mildtätigen Plan nicht aufgrund von Indizien kippen mochte.

Das Kapitel 115 von Moby-Dick heißt The Pequod Meets the Bachelor; die Pequod traf also 1851 schon ein Schiff, das fast so hieß wie 1855 der Robbenfänger von Kapitän Delano.

Schon die freundliche Begegnung der Pequod geschah mit einer auffallend freundlichen Mannschaft, die gerade ihr Glück gemacht hatte und sich auf zu Hause freute. Wie düster und verdammt dagegen die Jungs auf der Pequod, die weiter ihre Nemesis suchten. Noch ahnungsloser bleibt er in Benito Cereno, was sein Glück ist – im Sinne von Seelenfrieden nicht weniger als von dem Dusel, dass er mit dem Leben, dem Schiff und einer nur leicht dezimierten Mannschaft davonkommt.

Fast noch weiter als alle anderen Ebenen der Erzählung trägt die offene Frage, was man glauben soll: Delanos Versuch, ein guter Mensch zu sein, kostet ihn fast das Leben. Der Blick hinter die Maske betrifft die Existenz. Geradezu biblisch, gell?

Die Lösung des Konflikts in Benito Cereno kann nur lokal, an diesem beschriebenen Einzelfall stattfinden. An der grundsätzlichen Lösung verzweifelt Don Benito, ohne seinen begründeten Weltschmerz je klar formulieren zu können. Man mag es überinterpretieren, aber genau deshalb stirbt er ganz nebenbei, buchstäblich im allerletzten Nebensatz zweiter Ordnung.

Deutsch gibt’s die Erzählung bei Martus; von wissenschaftlichem Gebrauchswert ist die Einzelausgabe, 1987 eingerichtet und herausgegeben von Marianne Kesting bei Insel, die man in Stadtbibliotheken und Antiquariaten suchen soll.

Historischer Sklavenwitz

Written by Wolf

22. April 2007 at 1:29 am

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That same image selves see in all rivers, in oceans, in lakes and in Welles

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Update zu My name is Orson Welles (but I am still rehearsing), außerdem neu in den Freundlichen Begegnungen:

The Acting CompanyOrson Welles war, fast noch bevor er ein Mensch war, ein Theaterwesen. Moby-Dick hat ihn ein Leben lang nicht losgelassen.

Der verdienstreiche Laughing Bone hat weitere Materialien über Orson Welles’ Wiedergaben von Moby-Dick aufgetrieben. Für den Artikel in der New York Times voller Tatsachen, die man sonst nicht gleich findet, muss man sich registrieren, wenn man den Lachenden Knochen nicht hätte; aber es wäre ohnehin gratis, weswegen ich eine Registrierung ausdrücklich empfehle, da haben Sie was fürs Leben.

In Moby-Dick 2.0 ebenfalls complete and unabridged:

That Great White Whale Through a Wellesian Lens

Jason Zinoman, 10. März 2007 in der New York Times:

Captain my CaptainIt takes a fool or perhaps a genius to adapt one of the greatest American novels for the stage — and Orson Welles was a bit of both. He chased.

”Moby-Dick” through much of the 1950s. After writing and starring in ”Moby Dick — Rehearsed” in 1955, he made his own film version of that Melville classic for British television before starring in John Huston’s. But Welles still wasn’t finished, returning to the novel at the end of his life, filming scenes of himself reading it in one of his many unfinished works. (There are remarkable excerpts on YouTube.)

Welles may never have caught the big fish in the same way that he captured, say, William Randolph Hearst in ”Citizen Kane,” but this gripping revival of ”Moby Dick — Rehearsed,” presented by Twenty Feet Productions with a Shakespearean sweep, proves that this was a perfect marriage of man and material.

It’s easy to forget that Welles was first a man of the theater, and this ferocious drama, a poetic examination of one man’s obsession, is, among other things, a celebration of the stage. It begins almost offhandedly with a group of actors filing into the theater where they are to perform ”King Lear.”

In a light, almost documentary style, Welles satirizes backstage small talk: the complaints about critics, pay and academics. When one performer talks about the need for theater, another corrects him: ”Nobody ever needed the theater — except us. Have you ever heard of an unemployed audience?”

When the vain star (Seth Duerr) enters, he informs the ensemble that they will be performing ”Moby-Dick” instead of ”Lear,” and that he will play Ahab. This framing device provides a justification for the bare-bones adaptation (everyone wears casual clothes and mimes the props), but the director, Marc Silberschatz, is smart to avoid hammering home the theatrical themes, since the play-within-a-play conceit has become a cliché.

Gregory Peck unter John HustonInstead, he concentrates on suspending our disbelief, relying on a direct, simple staging that tells the story with gusto and clarity. The cramped theater, a black box with bad sightlines, actually helps give a sense of being trapped on a rickety ship.

Welles, who ruthlessly edited Melville’s novel down to two hours, would no doubt have approved of Dana Sterling’s moody lighting design. But this play rises and falls on the strength of Ahab, and Mr. Duerr is happily up to the challenge. With sunken eyes that betray a touch of madness, he looks like a man losing a battle but refusing to give up.

He doesn’t perform off his fellow actors so much as recite his lines to the heavens, which makes perfect sense, since he’s playing a dictatorial actor playing a dictatorial captain. At his best, Mr. Duerr’s booming baritone even brings to mind Welles himself. Call me impressed.

Die nötigen Links, um sich zügig und nachhaltig über Moby Dick Rehearsed schlau zu machen, für Hausarbeiten und den schnellen Wissensdurst zwischendurch und so, finden Sie in den Freundlichen Begegnungen, aber der Erschöpfung halber sag ich’s auch gern zweimal:

Orson Welles: Moby Dick Rehearsed, 1955. Theaterstück in zwei Akten, am 15. Juni 1955 in London uraufgeführt, wegen großen Erfolgs vom Autor fürs Fernsehen verfilmt (22 Minuten; Welles spielte selbst Ishmael, Ahab und Starbuck). Eine verbesserte Version von 1971 wurde 1999 von Stefan Drößler vom Münchner Fimmuseum restauriert. – Orson Welles spielte 1956 in der Moby-Dick-Verfilmung von John Huston den Father Mapple.

Und jetzt liest uns der Meister nochmal The Symphony:

Der Meister ölt seine Stimme

Written by Wolf

18. April 2007 at 8:31 pm

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Wo man Bücher verbrennt

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Update zu Eine Reise ins Heilige Land,
Hic sunt leones und
Eine Biografie von Hillary Clinton:

Bibliothek von Alexandria, Stich 19. Jhdt.

Mir hat man ja in der Schule noch beizubringen versucht: Die Bibliothek von Alexandria wurde von den Arabern niedergebrannt. Weil man nämlich nur den Koran braucht. Alle anderen Büchern stimmen dem Koran entweder zu, dann sind sie redundant, oder sie widersprechen ihm, dann sind sie schädlich und gehören verbrannt. Eine bezwingende Logik; man merkt, dass die Araber die Mathematik erfunden haben. Oder wenigstens die Null. Wer immer “die Araber” sind und falls das nicht auch schon wieder eine Legende ist. Meine Lehrer (einmal Geschichte, einmal Religion, einmal Mathe) äußerten sich da weniger faktenverliebt und vielmehr kulturpessimistisch: Wie unwiederbringlich da der beste Teil der antiken Kultur verlorengegangen sei, ein Gutenberg-Universum hätten wir ja erst seit vierzehnhundertnochwas, und man stelle sich nur vor, was zum Beispiel Sophokles außer seinen dreieinhalb Drämchen wahrscheinlich noch alles geschrieben hat, es ist ja gerade, als wenn von Shakespeare nur noch Titus Andronicus, A Lover’s Complaint und ein paar mindere Sonette erhalten wären, und die Erkenntnisse über Naturwissenschaft und Philosophie erst, ja die Gesamtheit des Weltwissens, mit deren Erhaltung wir Heutigen viel weiser, fortgeschrittener und überhaupt als bessere Menschen dastehen könnten! Es ging um alte Bücher, darum waren das die wenigen Male, dass ich in der Schule nicht so unmittelbar einzuschlafen versuchte. Hatten sie nicht Recht, meine Lehrer? O Barbarei der Barbarei! Eine Bibliothek gleich zweimal abzubrennen, einmal 47 vor der Zeitrechnung durch Cäsar, den alten Tollpatsch, eher so aus Versehen, und einmal 640 in der Zeitrechnung mit voller Absicht durch nicht näher bezeichnete Araber, nur weil das Weltwissen einem einzigen Buch, das da durchaus auch hineingehörte, entweder zustimmte oder widersprach. Das sollte Logik sein? War es natürlich nicht. Mittelalterliche Kreuzzugpropaganda war es, christliche Schauermärchen über den grundüblen Islam, erschreckend ähnlich mit historisch späteren Vorkommnissen, die nicht hier hergehören. Nachdem ich mein Leben in dieser Finsternis gewandelt bin, dass Cäsar beim Niederbrennen von Schiffen ganz unglücklich eine Bibliothek miterwischen könnte, die ein schönes Stück vom Hafen weg steht, dafür mirum in modum noch einmal nachwächst, nur damit sie von einer Art frühen Taliban abermals abgefackelt werden kann, erfährt man so nebenbei beim absichtslosen Beschauen der Mirakel des Internets, dass es weder 47 vor noch 640 nach Christus, sondern genau dazwischen, anno 272 über den Meinungsverschiedenheiten von Kaiser Aurelian und Zenobia von Palmyra passiert sein muss.

Was geschah wirklich mit dem Manuskript von The Isle of the Cross?

Bibliothek von Alexandria, Neubau

Written by Wolf

8. April 2007 at 10:16 pm

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My name is Orson Welles (but I am still rehearsing)

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Programm theatre-dance.ecu.eduZu der Filmversion (1971) von Moby-Dick Rehearsed (1955) von Orson Welles wurden im Filmmuseum München, das 1999 die vorhandenen 22 Minuten zu einer Art Vorfilm restaurierte, endlich die fehlenden 68 Minuten gefunden, damit ein ernstzunehmendes Kinoerlebnis daraus wird.

Nur schade, dass heute nur 1. April ist und ein Feiertag, an dem man sich was wünschen darf, erst nächste Woche, ätsch.

Written by Wolf

1. April 2007 at 12:24 am

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Moby-Dick als Comic

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Über einem Projekt wie diesem vergisst sich leicht, dass Moby-Dick nicht nur aus philosophischen, sondern nebenbei auch noch spektakulären, abenteuerlichen, actiongeladenen Teilen besteht. Die visuellen Medien konzentrieren sich naturgemäß auf die letzteren. Comics zum Beispiel, unter denen nicht alle Bearbeitungen so viel Qualität erreichen, dass man sie Graphic Novel nennen sollte. Manche schon.

Victor G. Ambrus: Oxford Illustrated Classics.

André Deutsch: Illustrated Classics.

Will Eisner, 1998:

Aus der Bücherliste:

Will Eisners Zeichnungen sind so elaboriert wie Fotos, nur revolutionärer aufgeteilt, seine Geschichten vollwertige Drehbücher. Als Comic etwas verdrängt, als Mensch inzwischen tot, aber immer noch Weltklasse, qualitativ durchaus in der Liga mit Carl Barks.

Aus Publishers Weekly via amazon.de:

Comic book aficionados will appreciate master Will Eisner’s latest adaptation, Moby Dick. It may not begin, “Call me Ishmael,” but the story otherwise remains true to Herman Melville’s classic, with Queequeg, Ahab and the great white whale all making their entrances on cue. The cartoon panels that chronicle the final showdown between the captain and the giant fish are particularly spectacular.

Aus School Library Journal via amazon.de:

Eisner’s Moby Dick is simplistic, the whalebone without the whale. Melville’s subtleties sink under the comic-book format, and while the cartoonist does a creditable job of conveying the basic story of Ishmael, Queequeg, and Ahab, drama is inevitably sacrificed. Because of the way the panels are divided, it is difficult to know which one to read next, resulting in some confusion about plot sequence. That said, Eisner’s cartoons are charged with atmosphere, their sea tones and moody contrasts well suited to their subject. While younger readers may stumble over some of the sentence structure (“Who first sights him shall have this gold!”), the book may appeal to comic-book fans and reluctant readers.

Penko Gelev & Sophie Furse:

The story is narrated by Ishmael, a young man whose dreams of adventure become a nightmare as he unwittingly joins a doomed whaling ship led by an insane captain seeking revenge. Melville’s masterpiece is simplified and retold at an exciting and fast-moving pace to retain interest. Its vibrant full-colour artwork adds fresh appeal to the classic tale. Speech bubbles the text from the original novel work with the main text to emphasise and enhance the retelling. A running glossary at the foot of each page helps young readers with any challenging vocabulary without disrupting their reading experience. End matter provides information about the author, the historical background to the period in which the author lived and the timeline of world events that places the work in historical context. This book fits into guidelines for Key Stage 2 and 3 English and helps achieve the goals of the Scottish Standard Curriculum 5-14.

Gary Gianni.

Sam Ita: Pop-up-Buch, November 2007.

Bill Sienkiewicz, 1990.

Lew Sayre Schwartz/Richard Giordano: Aus der Bücherliste:

Die Form, in der die meisten Amerikaner bis heute Melville kennen lernen: als Classical Comic, letzte Version von 2002. Daran ist per se nichts Verwerfliches.

Falls Sie noch andere Versionen kennen: Die Kommentarfunktion ist offen.

Written by Wolf

29. March 2007 at 1:35 am

Posted in Kartenzimmer, Rabe Wolf

Nennt mich nochmal Ismael

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Extended Remix des Updates zu Moby-Dick goes after Arthur Gordon Pym:

Call me IshmaelGetreu der Binse, dass es wenig gibt, was Edgar Allan Poe nicht erfunden hat, müssen wir dazu sogar den Anfangssatz aus Moby-Dick zählen.

Melville formulierte, derweil man das Jahr 1851 schrieb:

Call me Ishmael.

Gut gesagt. Ein klarer Hauptsatz mit genau 1 Aussage, ein Gongschlag von Romananfang.

Gehen wir zurück nach 1838. Da hielt Poe die abenteuerhungrigen Leser in Atem mit seinem einzigen Roman Arthur Gordon Pym. Erster Satz:

My name is Arthur Gordon Pym.

Gong. Ähnlicher Satzbau, nur eben noch Indikativ statt Imperativ, aber in der Funktion? Da verhüllt die persönliche Vorstellung des Ich-Erzählers genau wie bei Melville eher die Identität, statt eine zu stiften. Daniel Göske sagt in seinen Anmerkungen zur Jendis-Übersetzung (Seite 931) sogar:

Die Erzählerfigur des Moby-Dick beginnt seine Geschichte also mit einer bedeutungsvollen Selbstdeutung. Das Englische lässt hier übrigens offen, ob Ismael sich an mehrere Personen (Pl.) oder den klassischen “geneigten Leser” (Sg.) der Romanliteratur wendet. Übersetzer in anders geschnittene Sprachsysteme müssen sich entscheiden. Andere Stellen in diesem Kapitel legen nahe, daß Melvilles Roman als (quasimündliche?) Erzählung zunächst an viele Hörer beginnt. Auch die ital., frz. und span. Fassungen wählen daher meist die Imperativform im Plural. Hinzu kommt das Problem der Vertraulichkeit der Anrede, wie auch die früheren dt. Versionen zeigen: “Nenne mich Ismael” (1942), “Man nenne mich Ismael” (1944) und “Nennt mich Ismael” (1956). Wichtig ist jedenfalls Ismaels selbstbestimmter Akt der Maskierung, weshalb manche Übersetzungen – “Nennt mich meinethalben Ismael” (1946) oder “So nennt mich denn Ismael” (1954) [Richtig: 1964] – eine mißverständliche Deutung nahelegen.

Herausgehört und für unseren Zweck im Sinn behalten: Ismaels selbstbestimmter Akt der Maskierung. So schiebt Melville ihm eine perfekte Täuschung mit dem einfachsten Mittel unter. Musste er das neu erfinden?

Ein Jahr später, 1839: Poe verarbeitet seine schlimme Jugend im Internat und einen Zeitschriftenartikel von Washington Irving in seiner Erzählung William Wilson. Erster Satz:

Let me call myself, for the present, William Wilson.

Gong. Siehe oben. Und for the present heißt diesmal ganz erklärtermaßen, dass der vorgestellte Name ein künstlich angenommener ist.

Ein anderes Feuer, das Melville ebenfalls nicht selbst entdecken musste, ist der Kniff, seine Abenteuerhandlung mit theoretischen Exkursen aufzufüllen. Das hat Poe im nämlichen Pym aus Not getan, weil er short stories gewöhnt war. Melville musste es “nur” kultivieren und auf die Spitze treiben – was er übrigens vor Moby-Dick schon 1849 in Mardi hemmungslos durchgezogen hat.

Umberto Eco, der natürlich die gesamte Weltliteratur auswendig kennt, hat 2004 was gemerkt: Am Anfang von Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Illustrierter Roman zeigt der Protagonist seine selektive Amnesie, indem er die beiden Romananfänge von Poe und Melville (in der korrekten literaturhistorischen Reihenfolge) ausprobiert:

»Wie heißen Sie?«

Das war’s, hier zögerte ich. Dabei hatte ich’s auf der Zunge. Nach einer kurzen Pause gab ich die selbstverständlichste Antwort.

»Ich heiße Arthur Gordon Pym.«

»Nein, so heißen Sie nicht.«

Sicherlich war Arthur Gordon Pym ein anderer. Er ist nicht zurückgekommen. Ich versuchte, mit dem Doktor eine Vereinbarung zu treffen.

»Nennt mich… Ismael?«

»Nein, Sie heißen nicht Ismael. Strengen Sie sich an.«

Und dann noch:

Es geschieht nichts Neues unter der Sonne.

Das hat einer vor dreitausend Jahren gesagt.

Call me Ishmael tonight

Written by Wolf

18. March 2007 at 4:35 am

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Und Jan Mayen, der alte Flegel

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Elke macht ein Update zu Songs the Whalemen sang:

Elke HegewaldAus gegebenem Anlass erinnern wir uns: In leicht sentimentaler Stimmung und umfolkrockt von den Pogues spürte ich um die Zeit des Jahreswechsels der Seefahrerromantik und den Liedern der Walfänger nach. Wie verklärt diese Romantik für uns Landratten und wie herb sie in Wirklichkeit ist, erfahren wir von denen, die die Songs selbst noch singen, die über die Herkunft, die Geschichte und die ursprüngliche Rolle der Shanties und Sea Songs auf den Seglern und in den Walbooten besser Bescheid wissen. Sie können uns sogar etwas von den Arbeitsliedern erzählen, die für verschiedene harte Jobs auf dem Schiff und einen gemeinsamen Rhythmus gut und nötig waren: die Short-Haul-, Halyard- oder Walk-Away-Shanties und wie sie alle heißen. Sowas lernen wir doch gerne.

*

Walfang in EuropaDer ostfriesische Gale Huntington ist eine Frau. Keine Seeräuber-Jenny, aber immerhin so etwas wie eine Galionsfigur – der deutschen Walfanggeschichtsschreibung nämlich. Wanda Oesau (1893-1966) verbrachte ihre Tage fern von Huntingtons glücklichem neuenglischen Eiland in ihrem norddeutschen Glückstadt. In einer Walfahrerfamilie geboren, hatte sie mit selbigem nicht nur den Schulmeisterberuf gemein, sondern auch die Passion, einheimische Waljägerlieder zu sammeln. Wie es scheint, muss das Lehrerdasein noch vor wenigen Jahrzehnten bei weitem beschaulicher und erstrebenswerter gewesen sein als heutzutage.

Ihr Buch alter deutscher Walfanglieder “Und Jan Mayen, der alte Flegel…“, erschienen um 1930, ist bei weitem nicht so umfangreich wie das ihres amerikanischen Berufskollegen und war wohl eher ein Nebenprodukt ihrer beachteten Forschungen und Materialsammlungen zum deutschen Walfang.

Zum selbigen veröffentlichte sie mehrere anerkannte Bücher, als deren bedeutendstes das Standardwerk “Schleswig-Holsteins Grönlandfahrt auf Walfischfang und Robbenschlag” aus dem Jahre 1937 gilt. Eine Auflistung der Publikationen von Wanda Oesau findet der interessierte Leser im Bibliothekskatalog des Deutschen Schiffahrtsmuseums, das auch ihren Nachlass verwaltet.

Aus den spärlichen Informationen über Frau Wanda, die für ihre Verdienste um die Geschichte der Waljäger sogar mit dem Bundesverdienstkreuz bekränzt wurde, erfahren wir (gedankt sei Cetacea) wenigstens noch, wo mehr über sie zu finden ist. Nur für den Fall, dass unsere Moby-Dick-Mannschaft beim nächsten Landgang dort vorbei kommt, dachte ich…

Handbemalte Galionsfiguren

Written by Wolf

12. March 2007 at 1:38 am

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Another Half-A-Whale: Eine Biografie von Hillary Clinton

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Update zu Ein Wal von einer Biografie,
damit gleichzeitig zu Nu in da houze etc. und
Kaufen und Flachlegen:

Laut Stempel stammt die Neuerwerbung Herman Melville. A Biography, 1851–1891 diesmal aus der Park Ridge Public Library in Park Ridge, Illinois. Das bedeutet unter anderem, dass Hillary Clinton auf Heimatbesuch es mal vier Wochen ausgeliehen haben kann.

Angesichts des Trümmerhaufens, den dieser drogensüchtige Daddy-Protegé mit dem Pflanzennamen aus ihrem schönen Land zu machen nicht müde wird, hat sich Frau Clinton die Melville-Biografie aus der Stadtbücherei ihrer Kindheit geholt, einen schönen Apple Pie von Muttern eingepackt und damit ans Ufer des Michigansees gesetzt und vom großen Meer geträumt. Das Beste, was sie tun kann, während sie auf ihre Stunde wartet.

Hillary Clinton, kulturell engagiertAls der Apple Pie aufgeknuspert war, bevor er kalt werden konnte, kam ein eisbärtiger alter Mann die Uferpromenade entlang. Unter seinen buschichten Augenbrauen hauste jener Blick, der beständig den Horizont absucht. Seeleute, Trucker, Cowboys und Indianer haben den.

“Gott zum Gruße, Frau Hillary”, sprach er.

“Kennen wir uns?” fragte Frau Clinton unter dem Versuch, nicht zu sehr aufzustoßen.

“Auf die eine oder andere Weise: Ja”, sprach er mit kurzem Blick auf Frau Clintons aufgeschlagene Melville-Biografie.

Da erkannte sie ihn, denn Hillary Clinton ist auch eine kluge Frau, wenn sie ein paar Tage ihre Eltern besucht. “Nach allem, was man so liest, hat das mit den Versuchen nach Ihrem Moby und mit Ihrem Comeback als Lyriker nicht so funktioniert, oder?”

“O ja”, schmunzelte der Mann, “so wankelmütig ist die Gunst des Volkes. Und Sie, Frau Hillary, haben jetzt die Möglichkeit, aus meinem Schicksal und dem anderer Dead White Males zu lernen.”

“Ich will sehen, was ich tun kann.”

Er stand vor Frau Clinton, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie es heutzutage nicht mal mehr sehr alte Männer machen, und schaute sie von oben bis unten an, wie es heutzutage nicht mal mehr sehr junge Männer dürfen.

“Recht so, Frau Hillary. Eine andere Antwort hätte ich von einer Präsidentin nicht erwartet.”

Dann bewunderten sie noch ein bisschen die Aussicht auf den Michigansee.

Frau Clinton ist sorgsam mit dem Buch umgegangen, hat auch gar keine Apple-Pie-Fingerabdrücke drin hinterlassen, so dass die Bücherei es hinterher noch guten Gewissens in Abebooks stellen konnte. Und jetzt wohnt es bei mir, das Buch.

Hanebüchen soll das sein? Aber wieso denn? Hören Sie, wenn Sie die ehemalige und zuküftige First Lady von Amerika wären und nur noch ein bisschen die Zähne zusammenbeißen müssten, bis Sie Ihre eigene Ablösung ablösen dürften – würden Sie da jedem Moby-Dick-Nerd alles auf die Nase binden?

Leben mit Herman Melville.

Hillary Clinton in High School

Written by Wolf

8. March 2007 at 1:14 am

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Neu in Deutschland: Charles Warren Stoddard (1843–1909)

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Update zu Charles Warren Stoddard zum Gruß:

Saint Anthony, the Wonder-Worker of PaduaDie Bücher von Charles Warren Stoddard wurden nie ins Deutsche übersetzt. Aber wie angekündigt, sind sie ab sofort nachvollziehbar. Sein englischer Wikipedia-Artikel ist erweitert, sein deutscher neu angelegt.

Die Melville-Relevanz aus letzterem:

Spekulationen vor allem von Seiten der amerikanischen Gay-Bewegung über eine mögliche Homosexualität Stoddards beziehen sich auf Passagen seiner Schriften, in denen er die Neigung der Südseeinsulaner zu gleichgeschlechtlichen Bindungen preist, sowie auf seine Vorliebe für Freundschaften mit homosexuellen Männern. Ende 1866 schickte er die Neuauflage seiner Gedichte an Herman Melville mit der Anmerkung, in Hawaii auf keine Spuren von Melville gestoßen zu sein. Stoddards Anschreiben mag Melville keinen speziell homosexuellen Unterton entnommen haben, jedenfalls enthält der Entwurf seiner Antwort, der erhalten ist, keine entsprechenden Bezüge.

Die Figur des Kory-Kory aus Melvilles Typee inspirierte Stoddard zu einer Erzählung, in der er jene Art von Freundschaft feierte, die auch Melville mehr als einmal behandelte. Mit Walt Whitman, dessen Faszination für die erotische Ausstahlung des männlichen Körpers sich aus seinen Gedichten erschließen läßt, stand er in lebhafter Korrespondenz.

Was uns abermals auf die Frage bringt, ob Melville schwul war oder nicht.

Written by Wolf

5. March 2007 at 12:54 am

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Diskussion: Über die Magie des Bösen

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Niemals wird die Magie des Bösen mächtiger wirken, als wenn jemand glaubt, das Böse besiegen zu können mit den Instrumenten des Bösen.

Das sagt Eugen Drewermann in seiner Interpretation zu Moby-Dick.

Ein Satz, der erschreckend an die Rhetorik des US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush erinnert. Das sagt Dr. Werner Fuchs in seiner Besprechung zu Drewermanns Buch. Und anhand solcher Parallelen wird schon fast körperlich die Aktualität Herman Melvilles spürbar.

Oder?

Könnte Bush das gesagt haben? Wäre er dazu intelligent genug oder müsste man solche Aussagen auf seine reduzierte Gesamtverfassung zurückführen? Wie würde so ein Satz von Bush in der Welt aufgenommen? Könnte man ihm zustimmen? Wäre so eine Aussage doch eher einem Bush-Gegner zuzuschreiben? Hätte er damit Recht? Heiligt der Zweck die Mittel? Muss man den Teufel in der Hölle bekämpfen? Muss man ihn denn bekämpfen? Wer ist dazu berufen? Ist jeder dazu verpflichtet? Ist irgend jemand dazu befugt? Hat Captain Ahab das Böse bekämpft? War er selbst böse? Warum? Weil er sich der Instrumente des Bösen bediente? Ist, wer böse handelt, böse? Was macht einen guten Menschen aus? Entsteht moralisches Handeln bestenfalls zufällig?

Sind das zeitgemäße, sind es wichtige Fragen oder kann oder sollte einem das wurscht sein?

Die Kommentarfunktion ist offen.

Written by Wolf

25. February 2007 at 5:19 am

The People of Poets and Philosophers

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Mal angenommen, nur mal so ins Blaue dahinwunschgeträumt, es existierte ein Land auf Erden, das eine umfangreiche Literatur hervorgebracht hätte und das Beste davon für die Ewigkeit zu bewahren trachtete. Ein Land, das seine geistreichsten Männer und unterschiedslos auch Frauen ehrte und deren Gedanken an künftige Generationen weitergäbe, weil es sie für eine Bereicherung hält, für einen nur noch kostbarer werdenden Schatz, der jedem zur Verfügung stehen kann, der sich für ihn interessiert.

Ein Land der Dichter und Denker? Gibt’s nicht?

Aber die Library of America, die gibt’s.

Deutschland, das seit ein paar Jahrhunderten von einem wodurch auch immer gerechtfertigten Ruf als Land der Dichter und Denker zehrt, tut sich dicke mit fetten drei Elite-Universitäten, derweil die Neuntklässler auf dem Sprung in die Arbeitslosigkeit gähnen: “Und wozu brauch ich den Scheiß später?”

Es ist wahr: Ich hab zuletzt vor zwanzig Jahren einen Deutschunterricht besucht. Da war Deutsch ein Laberfach, wer optimistisch in die Zukunft blickte, hatte als Leistungskurs Wirtschaft und wahrscheinlich auch noch Sport. Seitdem hat sich aber keine Wende in dieser Auffassung abgezeichnet, sondern eine Verstärkung. Die Panik, mit der verantwortliche Schulpolitiker Monstren wie PISA-Studien beiseitequatschen müssen, dauert noch nicht sehr lange, aber die Richtung ist klar: Bildung exklusiv für Oberschichten ist implizit erklärter politischer Wille.

Wahr ist auch: Niemand braucht den Scheiß später. Man wird in Vorstellungsgesprächen nicht an entscheidender Stelle gebeten, das Lied von der Glocke aufzusagen. Wenn jedoch die überwiegende Mehrheit einer Volksgemeinschaft ihre Identität anhand der Tagesergebnisse populärer Sportarten stiftet, so hat sie sich entschieden. Nämlich wozu? Zum Tanz auf Gräbern, die sie gar nicht bemerkt.

Und dann das ach so kulturlose Amerika. Es wäre nicht halb so beschämend für Deutschland, wenn die Library of America ein Verlag im Sinne eines gewinnorientierten Marktunternehmens wäre wie Suhrkamp oder Penguin auch. Sie ist aber eine nonprofit cultural institution, die auf Spenden angewiesen ist. Und welche bekommt!

Mit Unterstützung des National Endowment for the Humanities und der Ford Foundation veröffentlicht sie seit immerhin 1982 maßgebliche Ausgaben der amerikanischen Klassik. Die Verarbeitung der Bücher ist solide, ihr Endpreis pro Seite liegt unter dem der meisten Paperbacks, selbst wenn man mal den publizistischen Aufwand nicht berechnet.

Wenn alle zusammenlegen, hat das für den Endverbraucher also den Vorteil, dass ein Buch der Library of America weniger kostet, als es nach einer buchhalterisch fundierten, beitragsdeckenden Verlagskalkulation kosten müsste. Das Beste, was sich einer kaufen kann, der sich für Inhalte interessiert, die mehr als zwanzig Jahre überdauern.

Sie feiern bedeutende Reden ebensolcher Politiker, sie filtern Beiträge zu spannenden Themen aus Textuniversen, sie ehren das Gesamtwerk ihrer Präsidenten wie ihrer Staatskritiker. In Deutschland vergammeln die Briefe von Adenauer bei Zweitausendeins, Anthologien sind das Zeug, das man verlegen kann, wenn irgendwelche Lizenzen frei werden, und who the f*** is Rolf Dieter Brinkmann?

Zum Vergleich: Der englische Originaltext von Moby-Dick steht mehr als geschlagene fünfzigmal online, keine der sechs relevanten deutschen Übersetzungen auch nur ein einziges Mal.

Kann man sich dergleichen in Deutschland vorstellen? Eine Art Staatsdruckerei, die das geistige Erbe Deutschlands zu erschwinglichen Preisen immer und überall, lückenlos und weltweit, verfügbar hält?

Ja, klar. Und für die Public Viewings von der Buchmesse werden Fanmeilen eingerichtet.

Das macht die USA wenn schon nicht zu einer Insel der Seligen, so doch ein Stück mehr zu jenem freien Land, das sie zu sein behaupten. Keine der anstehenden Regierungen wird irgend ein Land der Welt zur Gelehrtenrepublik ausrufen, schon gar nicht im Sinne von Arno Schmidt. Nein, den müssen Sie auch nicht kennen.

Spenden an die Library of America sind auch in Deutschland steuerlich voll absetzbar.

Written by Wolf

21. February 2007 at 2:54 am

Sophia Eliza Thurston Melville: I will leave a blank there

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I wonder if they will like me or not. I wish to be loved for my own sake and not merely because Allan is ––– I do not know what to say next, so I will leave a blank there, to be filled up by your imagination.

Sophia Thurston, 1. Juli 1847

Ich bin der erste Mensch in der Geschichte des Webdesigns, der sich Sophia Thurston Melville als Desktop-Hintergrund eingestellt hat, wetten?

Sophia Eliza Thurston Melville, ca. 1847Sophia Eliza Thurston wurde am 22. August 1827 in die New Yorker Bond Street geboren, war also von Anfang eine Bessere. Die Bond Street liegt an der Battery am Südzipfel von Manhattan. Wäre sie nicht so malerisch von Bäumen gesäumt wie eine Mecklenburgische Allee, könnte man der Freiheitsstatue winken. Bond Street girl bedeutet: Höhere Tochter.

Die einzige von Sophia erhaltene Daguerrotypie stammt von zirka 1847 und zeigt sie damit ungefähr zwanzigjährig mit Fransenpelerine und Plisseerock zurechtgemacht. Das Auffällige an ihr ist der Blick, genau in der Mitte zwischen Selbstbewusstsein und Verträumtheit: Hier ließ sich eine junge Frau verewigen, indem sie sagte: Ich bin eine Ätherische, damit müsst ihr jetzt leben, ich steh dazu.

Sophias Frisur sieht aus wie nass an den Kopf geklatscht, also betont korrekt und dabei pflegeleicht. Das Löckchen, das dieser gescheitelten Existenz keck in die Stirn fällt, hätte ich bei einem Polaroid für Zufall gehalten. Für Daguerrotypien wird man lange und umständlich zu einem Motiv gezupft, und wenn ich ein amerikanischer Seelenfänger in Uptown New York des 19. Jahrhunderts wäre, so würde ich besonders lange und umständlich an Bond Street girls herumzupfen. Passieren dabei Zufälle wie aus einer geometrisch gebügelten Frisur ausgebüchste Locken?

Sophia hat auf ihr Löckchen bestanden, behaupte ich. Nicht nur für die Zehntelsekunde, in der eine Daguerrotypie entsteht, sondern weil sie zu ihr gehörte. So empfand sie sich: ein frech hervorstechendes Mädchen in einer korrekten Umgebung.

Die Ausleuchtung der Daguerrotypie zaubert Sophia einen Heiligenschein, als ob es unbeabsichtigt wäre. Gegen ihr Lächeln ist das Kiffergrinsen der Mona Lisa eine ordinäre Fratze: Man kann stundenlang hinschauen, ohne je zu entscheiden, ob Sophia überhaupt lächelt oder nicht. Sie guckt durchaus freundlich – aber den Ausdruck als einladend einzustufen muss man sich erst mal trauen. Bond Street Göre.

Allan Melville, ca. 1847Kein Wunder, dass so eine in eine Literatenfamilie einheiratet. Man weiß nichts darüber, wie sie Allan, den Bruder von Herman Melville kennen lernte. Für Allan, der nach seinem Vater hieß und als Anwalt praktizierte, war Sophia möglicherweise der Draht zu jener geistigen Welt, in die sein Bruder Herman qua zwei SüdseeBestsellern nur allzu sicht-, mess- und nachvollziehbar aufgestiegen war; für Sophia war Allan möglichweise der Draht zur Familie eines Bestsellerautoren.

Geheiratet wurde some day between the 20th and 25th September 1847. Es ist also nicht einmal sicher, ob Sophias Portrait als Hochzeitsbild gedacht war.

Von den Eheleuten Allan und Sophia Thurston Melville sind wenige Äußerungen erhalten, schon gar keine persönlichen Ergüsse. Die Ehe war mit fünf Mädchen gesegnet, das erste vom 18. Februar 1849 wurde nach Allans Mutter Maria Gansevoort genannt. Sophia starb 1858 im Alter von 31 Jahren.

Es hat dieses Mädchen gegeben, es ist mager, jedoch eindeutig belegt, wenngleich nicht im Internet. Schade – sie war hübsch. Die dürftigen Zeugnisse verleihen ihr etwas geradezu Gespenstisches. Vor unseren Sinnen ersteht ein Lied, das sich in unser Gedächtnis und damit das der ganzen Menschheit schleicht: I think last night you were driving circles around me (Kristin Hersh, aus Hips and Makers, 1994).

Written by Wolf

5. February 2007 at 1:10 pm

Cabidoulin is too seldom

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Elke hat noch ein Monster gefunden:

But where there’s a monster there’s a miracle.
Ogden Nash: Dragons Are Too Seldom

Elke HegewaldHach, beim Hinterhersurfen hinter all den ganzen Propheten wurde ich doch an einen anderen von denen erinnert, der es auch heftig mit der Orakelei und düsterem Menetekeln hat. Den alten Cabidoulin hat die Mannschaft sogar auf ihrem Kahn die ganze Zeit am Hals. Und es ist – man höre und staune – ein Walfängerschiff. Und auch hier ist der Anlass für das anschließende Chaos ein Monster auf See. Diese Geschichte ist, glaube ich, nicht allzu bekannt, was einen bei dem umfänglichen Gesamtwerk des Autors vielleicht nicht sonderlich wundern muss.

Naaa, wer hat’s erfunden? Nö, diesmal nicht die Schweizer. Ein Franzose war’s, den der Wolf in weiser Voraussicht und aus gutem Grund schon längst im Schatzkästlein der Literaturliste verewigt hat: Tadaa! – Unser aller Jules Verne!

Written by Wolf

1. February 2007 at 12:50 am

Gerülpst wird immer

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This Beitrag is an Update zu Von Ismaeliten und Mutter, lass mich dein Söhnchen sein:

In addition, this Beitrag was pimped another time by means of Riesenmaschine 1 and 2, and shifted in time and space, which was an inhaltliche Notwendity.

Durst ist schlimmer als Heimweh.
Internationale Volksweisheit

Jesus ColaDie Mutter von Ismael – dem aus der Bibel, nicht aus Moby-Dick – hieß Hagar. Als beide auf Anregung von Abrahams zweiter Frau Sara verstoßen durch die Wüste irrten, war Gott, nach anderer Lesart Allah, so gnädig, ihnen eine Quelle entspringen zu lassen. Die Quelle hieß Zamzam.

Aus Hagar wurde die Stammgroßmutter der Araber, indem aus Ismael deren Stammvater wurde, die Quelle Zamzam aber sprudelt seit 1929 erst richtig: Da lagerte Pepsi einen Softdrink für Amerikaverächter aus, der im Iran unter dem Namen Zam Zam Cola bis heute hergestellt wird. Die politische Botschaft des Vertriebsgebietes – weltweit außer USA – ist eindeutig, der Auftritt weltoffen.

Überhaupt hat sich die Praxis, als Kritik an amerikanischen Sachen eine Colabrauerei zu eröffnen, erstaunlich weit verbreitet: Algerien hat Mecca-Cola, die DDR Club-Cola, Kuba tuKola, Slowenien Cockta, Österreich auch, die Tschechei Kofola, die Türkei Cola Turka, und Open Cola jeder, der nur irgendwie die Zutaten auftreibt.

<Neuer Inhalt>
Die größten Sauereien brauen sowieso wieder die Engländer bei Fentiman’s, wie die Riesenmaschine in einem Update auf den 26. Juli 2006 lehrt.
</Neuer Inhalt>

Ismael – diesmal der aus Moby-Dick, nicht aus der Bibel – hätte erst mal drei Kapitel über Globalisierung eingeflochten.

Written by Wolf

17. January 2007 at 1:22 am

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The Wizard of the Smaragdenstadt

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Smaragdenstadt bei AmazonWas Leute wie mein Vater den Amerikanern nie zugetraut hätten: Sie bohren richtig dicke Bretter.

Besonders erfreulich – und nahe am Thema von Moby-Dick 2.0 – finde ich in diesem Sinne die kulturellen Vertiefungen von Scot W. Stevenson, der deswegen seit kurzem in der Blogroll wohnt. Das sind Erkenntnisse, die jedem schon längst hätten schwanen sollen, der mit dem geschlossenen Kosmos von Hollywood aufgewachsen ist. Endlich stößt einen mal jemand drauf, und batz! – es könnte gar nicht anders sein. Und das mit der Verfilmung mit den Muppets, in der Seine Heiligkeit Quentin Himself Tarantino auftritt, und den Parallelen zu Pink Floyd hätte man zwar nicht geahnt, Kugeläugelchen verursacht es einem trotzdem.

Aus allen Knopflöchern trieft einem da der Stolz, wenn man zu einem der für einen Weblog wirklich außergewöhnlich fundierten Einträge noch eine Ergänzung weiß: The Wizard of Oz wirkte nicht nur in der westlichen Welt, sondern ab 1939 sogar im seinerzeit nicht so ganz grünen Russland. Die überlebenden Ossis unter uns (zu denen ich nicht gehöre) kennen noch den Zauberer der Smaragdenstadt von Alexander Wolkow, der hoffentlich urheberrechtlich gut abgesichert war: Einfach Nacherzählung oder freie Wiedergabe dazu zu sagen würde heute nicht mehr durchgehen, aber praktischerweise sind die letzten Rechte im Jahr des Mauerfalls 1989 sowieso ausgelaufen.

Das soll beileibe die mythenstiftende Dimension von L. Frank Baum nicht schmälern.

Written by Wolf

16. January 2007 at 1:41 am

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Songs the Whalemen Sang

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Elke singt mit:

WalfangnixeJüngstens segelten mir doch, liebevoll verehrt, gleich zwei blanke Scheiben trunken folkender Hits von The Pogues unter den Weihnachtsbaum. Unter denen fand sich auch Greenland Whale Fisheries, dessen wild und herzerwärmend herausgeschmetterter Melodei die Mannschaft der Pequod wohl ebenso verzückt gelauscht hätte wie die happy Neueigentümerin dieses von Null auf Hundert loslegenden Feuerwerkes. Wahrscheinlich hätten sie’s gar selber lauthals gegrölt.

Nach dem Poguesschen Texte musste ich ein Weilchen kramen, denn so unnachahmlich sie das trällernde Ballädchen zelebrieren, so haben sie es doch nicht erfunden, wie wir wissen – und es gibt erstaunlich viele Versionen davon, wie die Brave Boys den Wal jagen. Nicht nur das, in parodierten Fassungen haben auch die Hobby-Angler von ihm Besitz ergriffen.

Und so als Walfängerin auf Zeit denkt man dann auch schon mal drüber nach, wie so eine Schiffsbesatzung unterwegs auf den Wal wohl ins neue Jahr reinschippern mag. – Mit ‘ner ordentlichen Buddel Whisky oder Rum vielleicht? Na, das walte doch Ahab. Welche Lieder mögen sie singen auf dem weiten, wogenden Meer?

Wir wissen es nicht. Aber einer weiß es mit Sicherheit, der High-School-Meister Gale Huntington nämlich. Der hat es sogar gründlichst erforscht und ein Buch draus gemacht, mit Texten und Noten sowie ausführlichen Erläuterungen. Der Zufall kam ihm auf bemerkenswerte Weise zu Hilfe: als Grundlage fiel ihm das Tagebuch eines Waljägers in die Hände, der darin die Lieder festgehalten hat, die an Bord gesungen wurden. Zum Glück aller Melvilleschen Moby-Dick-Freunde schöpft der emisige Autor des weiteren justament aus den Quellen Neuenglands, wo wir uns gerade herumtreiben. Ha, und natürlich hat er auch die eben besungene Greenland Whale Fisheries aufgesammelt.

Um die Herausgabe des immerhin 360 Seiten umfassenden Buches machte sich das Mystic Seaport Museum verdient, von dem man bisher auch noch nichts wusste. Dort wird, wie unser Informant zu berichten weiß, inzwischen die Veröffentlichung eines Folgebandes vorbereitet, dessen Manuskript Huntington bei seinem Tode 1993 hinterließ.

Und Generationen rauer Walfänger- und Folksängerkehlen werden ihn unsterblich machen…

Written by Wolf

3. January 2007 at 1:32 pm

Call Him Ahab

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Wie man sein Kind auch Ahab nennen kann.

Twas a foolish, ignorant whim of his crazy, widowed mother, who died when he was only a twelvemonth old. And yet the old squaw Tistig, at Gayhead, said that the name would somehow prove prophetic. And, perhaps, other fools like her may tell thee the same.
Captain Peleg, Chapter 16

Captain Peleg muss Ahab mal in extrem offenherziger Stimmung angetroffen haben, dass er solche Intima über ihn weiß; der Mann ist doch eher Typ Vater als Sohn – und eher Strafgericht als Vater.

Trotz einer weiteren peripheren Erwähnung in Kapitel 19 weiß man über jene Squaw Tistig tatsächlich nicht mehr als das, was Peleg erzählt, auch wenn Howard Berkowitz den Versuch zu einem Lebenslauf von Ahab unternommen hat.

Gebürtig ist Ahab als einer jener Ostfriesen aus Nantucket, somit Quäker, vaterlos aufgewachsen, besuchte – ungewöhnlich für einen Nantucketer – das College (Dank an die crazy, widowed mother!), wurde mit 18 Jahren Harpunier und verbrachte von seinen folgenden 40 Lebensjahren insgesamt drei auf Festland. Das reichte aber immerhin, um a sweet, resigned girl zum Heiraten zu finden und ein Kind mit ihr zu haben. Das ist laut Peleg drei Seereisen her, Ahab wird also ungefähr 50 gewesen sein.

Ahabs fatale Begegnung mit Moby-Dick, bei der ersterer sein Bein einbüßte, begab sich erst auf der vorigen Reise. Jetzt ist er 58, vergleichsweise jung verheiratet und Vater, einbeinig und bis obenhin voller Hass. Man beginnt ihn zu verstehen.

Written by Wolf

2. January 2007 at 10:44 am

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Aus aktuellem Anlass: Eine Reise ins Heilige Land

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Update zu Alles Clarel:

Der Tod friert ein, der Schlaf taut auf.
Herman Melville: Clarel

Transeamus usque BethlehemWäre mir auf die Schnelle gar nicht aufgefallen: Die verdienstreiche Neuübersetzung von Clarel ist in Erstauflage mit 1500 Stück erschienen. So mitleidig Melvilles Landsmann Stephen King da grinst, sind das trotzdem 454 Prozent Steigerung gegenüber der Erstauflage des Originals. Von wegen der Tod friert ein.

Written by Wolf

23. December 2006 at 2:45 pm

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Alles Clarel

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Es fängt schon grüblerisch an:

1. Teil: JERUSALEM
I. Die Herberge

In einer Kammer, niedrig und von Zeit gezeichnet,
Altes Gemäuer, jüngst mit Kalk getüncht –
Das einem frisch in Stein gehau’nen Grabe gleicht,
Sitzt ein Student, Ellbogen auf dem Knie,
Die Stirn ganz regungslos gestützt auf die
Handschräge, und sinnt für sich.

Schreibheft 63, 2004Clarel. Ein Gedicht und eine Pilgerreise ins Heilige Land, im Original Clarel. A Poem and Pilgrimage in the Holy Land und bezeichnender in der meist auftretenden Schreibweise CLAREL, in Zahlen, damit die aufstrebenden Literaturwissenschaftler da draußen ein Gerüst für anstehende Hausarbeiten haben:

Herman Melvilles erstes und letztes Versepos, inspiriert seit seiner sechsmonatigen Reise in die alte Welt 1856–57, ausgearbeitet ab 1870, herausgegeben am 3. Juni 1876 bei G. P. Putnam & Co. auf eigene Kosten und unter Zuschuss seines Onkels Peter Gansevoort in 330, vielleicht auch 350 Exemplaren. Das war 100 Jahre nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, zugleich im zehnten Jahr von Melvilles Brot-Tätigkeit als Zollinspektor, seine insgesamt 26. Veröffentlichung.

Entstanden ist das längste Gedicht der amerikanischen Literatur – eingeteilt in 4 Teile, 150 Cantos und knapp 18.000 Verse in jambischen Tetrametern, unterbrochen von Einschüben in anderen Versmaßen – länger als Ilias und Odyssee zusammen, vergleichbar mit der Divina Commedia von Dante, den Canterbury Tales von Chaucer oder Paradise Lost von Milton. Außerdem war ein Jahr zuvor Mark Twains Innocents Abroad erschienen, ein humoriger Roman – ein Bestseller – über eine Reisegruppe durch Europa und die alte Welt, was Melville den Anstoß zu dem ähnlichen Thema verabreicht haben mag.

Melville betrachtete Clarel als sein dichterisches Vermächtnis an die Nachwelt. Trotzdem musste der Verleger Putnam Melville überreden, überhaupt seinen Namen auf den Umschlag setzen zu lassen. Melvilles Misstrauen in seine eigene Arbeit erwies sich nach all den vorangegangenen literarischen Fehlschlägen als berechtigt: Das Werk stieß bei Kritik und Publikum auf fundamentales Unverständnis und verkaufte sich so gut wie überhaupt nicht. 1879 musste Melville 224 Restexemplare von der Erstauflage wiederum auf eigene Kosten einstampfen lassen.

In Melvilles Tagebüchern und Korrespondenz finden sich keine Hinweise auf die Arbeit an Clarel, solange sie – immerhin in seiner Freizeit neben seiner Arbeit im New Yorker Hafen – vor sich ging. Trotzdem weiß Pechmann von familiären Szenen bei Melvilles zu berichten, in denen der Dichter morgens um zwei ins Zimmer seiner Tochter Fanny stürmte, um ihr seine Arbeitsfortschritte vorzulesen; „manchmal mußte sie ihm am Klavier den Takt vorgeben, damit er den Rhythmus seiner Verse prüfen konnte.“

Erst am 10. Oktober 1884, fünf Jahre nachdem Clarel weitgehend aus dem Weltgeschehen getilgt war, bezeichnete Melville das Werk in einem Brief an einen seiner raren Bewunderer, James Billson, als metrical affair (etwas herabsetzend als „Ding in Versen“) und insgesamt als „höchlich dazu geeignet, unpopulär zu sein“. Weitere drei Monate später schickte er Billson ein verbliebenes Exemplar aus eigenen Beständen, wohl zu Zwecken der Forschung und Dokumentation.

Clarel erlebte außer den Northwestern-Newberry Editions von 1924 und 1991, letztere herausgegeben von Harrison Hayford, Alma A. MacDougall, Hershel Parker und G. Thomas Tanselle, keine weiteren Auflagen. William Potter forschte ebenfalls erst 2004 in Melville’s Clarel and the Intersympathy of Creeds für Kent State University Press darüber.

Clarel erstmals in einer FremdspracheDie Ausgabe bei Jung und Jung, Salzburg 2006, ist die erste vollständige Übersetzung des Clarel in eine andere Sprache überhaupt. Besorgt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen wurde sie von Rainer G. Schmidt auf Grundlage der Northwestern-Newberry Edition 1991, die Auszüge aus Melvilles Reisetagebüchern nach deren deutscher Ausgabe bei Achilla Presse, die Bibelstellen nach einer Lutherbibel von 1855.

Ein Vorbericht von Alexander Pechmann, „Eine Pilgerfahrt, ein Ding in Versen…“, über dieses verlegerische Unternehmen erschien 2004 im Schreibheft 63 auf Seite 95–100 und sicherte dessen Fortgang – vor allem auch die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturfonds e.V., während welcher Unstimmigkeiten auftraten.

Die vier Teile des Epos sind benannt:
1. Teil: Jerusalem
2. Teil: Die Wüstenei (The Wilderness)
3. Teil: Mar Saba
4. Teil: Bethlehem

Die äußere Handlung führt den Theologiestudenten Clarel auf seiner vergeblichen Suche nach Offenbarungen nach Jerusalem. Dort verliebt er sich in die rätselhaft schöne Tochter Ruth des amerikanisch-jüdischen Milleniaristenfreundes Nathan, welcher kurz darauf ermordet wird. Um die Zeit zu überbrücken, bis er das Haus der Familie nach jüdischem Brauch wieder betreten darf, unternimmt Clarel eine Pilgerreise zum Toten Meer, die ihn mit zahlreichen Diskussionspartnern zusammenführt, anhand derer er den Sinn des Lebens sucht. Das geliebte Mädchen Ruth ist kurz vor Clarels Rückkehr nach Jerusalem am Fieber gestorben.

Der Inhalt nach dem Klappentext der deutschen Ausgabe:

Clarel, ein junger amerikanischer Student, unternimmt eine Reise nach Jerusalem. Dort verweben sich biblische Vorzeit und Jetztzeit, dort verknüpfen sich alle gesehenen und imaginierten Landschaften und alle Seelenbestrebungen zu einem großartigen Teppich von melancholischer Wortpracht. Grandiose Wüstenszenerien und Südseereminiszenzen vermischen sich mit Phantasien von antiker Freizügigkeit und asketischen Modellen von Christentum und Islam. Clarel ist ein Traumspiel, worin Zeiten, Mythen und Stoffe zu einer schillernden poetischen Präsenz gebündelt werden.

Noch mehr SekundärliteraturAllgemein klingen Rainer G. Schmidts Ausführungen immer wieder etwas angestrengt nach einem Versuch der Ehrenrettung für Melvilles Werk. So wertet er die incoherence in Form von unreinen und unregelmäßig auftretenden Reimen und anderer formaler Schwächen, die Clarel von der Kritik vorgeworfen wurde, lieber abgemildert als die von anderer Stelle bescheinigte inconclusiveness – also nur Ergebnislosigkeit. Die schiere überbordende Gesamtlänge des Werkes verteidigt er mit dessen Gliederung in Cantos von nachgerade süffiger Textmenge, manche von nur einer Druckseite, zwischen denen man sogar lesend (und übersetzend) springen kann.

Schmidts erhellendste Erkenntnis aus seinem ansonsten erfreulich hohen Stand der aktuellen Forschung ist vielleicht die, dass Melville sein Leben lang immer nur ein einziges Buch schrieb, immer wieder ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln anging, mit dem er nie fertig wurde – eine umfassende und zutiefst menschliche Suche, vielleicht nach Sinn. Daher all die Reiseerzählungen, die ab seinem dritten Buch Mardi von 1849 stark philosophisch, ja metaphysisch durchsetzt und untermauert waren.

Auch brach spätestens seit Mardi Melvilles Hang zur Lyrik durch. Die Themen und Techniken aus Mardi sind in Moby-Dick von 1851 nachweisbar vervollkommnet und überhöht; dazu zählen Elemente wie die Stellen in rhythmisierter Prosa und liedhafte Strukturen. Schon Mardi lässt sich geradezu als Gedicht begreifen, und zwar als Rundgesang mit den verschiedenen Südseeinseln als Strophen (siehe deutsche Ausgabe Band II, S. 515). Als Melville mit Moby-Dick seinen Abstieg in der Publikumsgunst verankerte und nach dem Einbruch mit dem Confidence Man von 1857 vollends klein beigeben musste, zog er sich hauptsächlich auf Lyrik zurück. So gesehen ist ein Monolith wie Clarel – lyrisch, vieldeutig, grundsätzlich, einsam, pessimistisch – nur das logische Ergebnis von Melvilles Entwicklung.

Randbemerkung Melvilles in seiner Ausgabe der Künstlerbiographien von Giorgio Vasari:

Erreiche das bestmögliche Ergebnis. – Eine Fähigkeit zum Ergreifen. – Die unablässige Wahl erhabener Themen. – Der Ausdruck. – Packe so viel hinein wie du kannst. – Vollendung bedeutet Vollständigkeit, Fülle, nicht Glätte – Größe ist vom Maßstab abhängig. – Klarheit & Entschlossenheit. – Die größtmögliche Anzahl der größten Ideen.“

So viel als Einstieg.

Written by Wolf

10. November 2006 at 5:00 pm

Charles Warren Stoddard zum Gruß

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MitteRobert Louis Stevenson – der mit der Schatzinsel – kannte und schätzte Melville. Über seinen offiziellen Erstling Typee ist von Stevenson überliefert:

“Es gibt nur zwei Schriftsteller, welche die Südsee genial geschildert haben, und das sind zwei Amerikaner: Herman Melville und Charles Warren Stoddard.”

Stoddard?

Einer von den Unterschätzten, auch im eigenen Land, und schon gar nicht ins Deutsche übersetzt. Für uns Heutige wahrscheinlich zu christlich geprägt, aber schon früher bekennend katholisch.

Das meiste, was über ihn greifbar ist, stammt aus Wikipedia, die sich ihrerseits bei der Catholic Encyclopedia bedient und auf die sich praktisch alle anderen Fundstellen beziehen: *7. August 1843 in Rochester, New York – +23. April 1909 in Monterey, California.

Immer wieder wird Stoddard mit den Vokabeln beschrieben, die er auch selbst für seine Mitmenschen in Kalifornien, der Südsee und auf seinen sonstigen Reisen findet: light, sweet, wild, fresh, imaginative, impressionable. Er muss ein umgänglicher Mensch mit reichhaltigem Seelenleben gewesen sein. Ein praktizierender Christ, der nicht durch penetrantes Herumfrömmeln stört, sondern der seine als bereichernd empfundene Religion in ansteckender Weise zum Anlass nimmt, Gutes zu tun, um ein guter Mensch zu sein – ein Reisender auch, dem ein Ort auf der Welt nie genug war, und der sich immer darüber mitteilen wollte. Von fragiler Gesundheit, aber eine große Seele.

Die Südsee hat Stoddard etwa 20 Jahre nach Melville bereist, in Ägypten mit Heiligem Land war er vor ihm. Melville und Stoddard schrieben mit unterschiedlicher Motivation und bedienten unterschiedliche Leserbedürfnisse. Das Interesse daran, mit wie viel Recht Stevenson beider Südseebeschreibungen in einem Atemzug nennen konnte, fordert zu neuer vergleichender Forschung auf.

Um Stoddard der Erinnerung des deutschsprachigen Publikums erhalten zu helfen, plane ich seinen Wikipedia-Artikel zu übersetzen. Wenn er fertig ist, erfahren Sie via Blog-Eintrag davon.

Als Vorschuss Stoddards Gesamtwerk chronologisch:

Poems by Charles Warren Stoddard, nach 1857
South-Sea Idyls, ab 1864;
Lazy Letters from Low Latitudes;
The Island of Tranquil Delights: A South Sea Idyl and Others;
The Lepers of Molokai, ca. 1866;
A Troubled Heart and How it was Comforted, nach 1867. “Here you have my inner life all laid bare.” Die Geschichte von Stoddards Bekehrung zum Katholizismus.
Summer Cruising in the south Seas, 1874;
Marshallah, a Flight into Egypt, 1885;
A Trip to Hawaii, 1885;
Exits and Entrances: A Book of Essays and Sketches, nach 1889, lieferbar bei University Press of the Pacific. Erinnerungen an Stoddards Busenfreund Stevenson und andere literarische Bekanntschaften. Sein eigenes Lieblingsbuch.
For the Pleasure of His Company, nach 1889. “Here you have my confessions.” Stoddards einziger Roman.
In the Footprints of the Padres, 1892; lieferbar bei University Press of the Pacific und Paperbackshop.Co.UK Ltd – Echo Library;
Hawaiian Life, 1894;
Saint Anthony, the Wonder-Worker of Padua, 1896;
A Cruise under the Crescent, 1898;
Over the Rocky Mountains to Alaska, 1899;
Father Damien, a Sketch, 1903;
With Staff and Scrip, 1904;
Hither and Yon; The Confessions of a Reformed Poet, 1907;
The Dream Lady, 1907;
A Bit of Old China, ohne Jahr.

Wie man auf sowas kommt? – Man liest das Schöpfungsmärchen zu Moby-Dick: Jean Giono: Melville zum Gruß.

Written by Wolf

6. November 2006 at 5:44 pm

Moby-Dick – der Film, 1998

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Steffi hat geguckt:

StefanieInspiriert durch unsere Exkursion zu einem alten Filmschinken lieh ich mir an diesem Wochenende die Neuverfilmung mit Patrick Stewart aus.

Auf der einen Seite wollte ich einfach sehen, wie der Stoff neu angegangen wurde, aber ich gestehe auch freimütig ein, dass ich schon immer ein großer Fan von Patrick Stewart war, und ja: Ich bin ein Trekkie und wollte natürlich sehen, ob er für mich auch ein anderer Captain als Picard sein konnte.

Fassen wir uns kurz: Ja, er kann!

Und ich gehe sogar noch weiter: Ich halte seinen Ahab für einiges besser als den von Peck. In der Neuauflage besitzt Ahab eine Tiefe, eine Gebrochenheit, die ich bei Gregory Peck nie gesehen habe. Sicher, bei der Neuaufbereitung wird vieles noch deutlicher gesagt, viel mit inneren Monologen (Selbstgesprächen) gearbeitet.

Aber was sind die interessantesten Fakten?

Ahab hat eine Familie, Frau und Sohn, und beide sehen aus, als wäre er gestorben, als er das Haus verlässt.

Auch in diesem Film sind unsere Busenfreunde Freunde geworden, ohne dass der Busenteil eine Rolle spielte.

Piripi Waretini in Diamonds of Jeru. Was anderes find ich nicht.Ismael sagt, er ginge zum ersten Mal auf See (und stellt sich auch so trottelig und wehleidig an); von Mapple erfährt man, dass er Harpunier war (und dementsprechend ist die Gleichung von Christian – Mapple und Ahab als zwei Seiten einer Medaille – wunderbar stimmig), und Queequeg ist so eindeutig ein Maori, dass ich am Anfang die Minuten zählte, bis wann er endlich die Zunge rausstreckt (ich musste nicht allzu lange warten). Außerdem hat der Schauspieler einen so tollen Namen, dass ich ihn euch nicht vorenthalten möchte: Piripi Waretini. (Wenn wir schon bei Schauspielernamen sind: Ismael wird von Henry Thomas gespielt, der auch den kleinen Elliott bei E.T. gespielt hat!)

Vater Mapple wird übrigens von Gregory Peck himself gespielt, aber auch hier kann er nicht mithalten: Orson Welles‘ Schuhe sind eben doch eine Nummer zu groß. Bezeichnenderweise gab es auch keine Strickleiter, sondern eine schnöde Treppe zur Kanzel.

Interessant: Ziemlich am Ende geht Ahab auf, dass er eigentlich Jonas ist und Gott verspottet. Die Einsicht nützt jedoch nichts: Als der Wal ein letztes Mal gesichtet wird, ist die Chance verstrichen und die letzte Chance zur Umkehr ist vertan.

Auch schön: eine Szene, in der Ahab sich ausmalt, wie Prometheus ihn geschaffen hätte: 15 Meter groß, kein Herz und ein Bugfenster, um seinen Geist zu erhellen. Da hadert einer aber wirklich mit seinem menschlichen Schicksal der menschlichen Unzulänglichkeit und nicht zuletzt mit Gott.

Dank des Films freue ich mich besonders auf Mister Starbuck, die tragischste Figur in diesem nassen Kammerspiel, der einzig Sehende (neben einem aufgewerteten Ismael) und doch unfähig, etwas an dem Schicksal zu ändern.

Auch bin ich gespannt auf die literarische Vorlage zu Pip, der hier schon ganz anders war, als in der Verfilmung von 1956, und ich frage mich, wo Herman ihn wirklich angesiedelt hat?

Werden wir tatsächlich im Packeis landen, werden wir von Haien attackiert werden, von Queequeg hören, dass Ahab sein Captain, sein Gott sei, werden wir erleben, wie sehr Ahab mit seinem Schicksal hadert, wie sehr er sich bewusst ist, dass er ins Verderben geht und doch nichts daran zu ändern vermag, so sehr er sich dies auch wünscht?

Ja, lasst uns weiter lesen, und hoffentlich hat die Freundschaft von Ismael und Queequeg im Buch mehr Tragweite und Handlungsspielraum, als in den Filmen nur angedeutet! Wir haben uns über viele Seiten lang dem Dreamteam genähert, da gehe ich doch davon aus, dass die beiden als Team noch einiges stemmen werden.

Also, meine Empfehlung: Der Film lohnt allemal, sich mal anzuschauen. Er geht andere Wege (vielleicht auch zu sehr vom Buch weg, mal sehen) und erlaubt doch eine beklemmende Seelenschau eines Mannes, der frei nach der Erkenntnis handelt: “Hier stehe ich, ich kann nicht anders.”

Ich werde weiterlesen.

Written by Wolf

28. October 2006 at 4:19 pm

Posted in Krähe Steffi

Ahab voraus

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Christian spricht noch ein Wort zur Predigt:

Auf dem Bild sieht man es: Welles steht in einer Kanzel, die dem Bug eines Schiffs nachempfunden ist. Genau wie Ahab später tatsächlich dort steht. Er ist meiner Meinung nach der gespiegelte Ahab, der Mahner und Warner, er ist die andere Seite einer Medaille.

Wenn er von Jona und dem Wal spricht, und dass dieser versuchte, Orte zu finden, an denen Gott nicht regiert, bezieht er sich eben auf Ahab, der einem Phantom, einer fixen Idee nachjagt – ohne Rücksicht auf Verluste und nur, weil er nicht einsehen will, dass er sich (der Natur, Gott) unterwerfen muss.

Das Ganze hat auch eine allegorische Ebene, die sich auf die amerikanische Nation und den Materialismus bezieht, auf das Erreichen irdischer Ziele, wo es doch um geistige gehen sollte, um Reinheit und Heldenhaftigkeit, um Menschenliebe und eine wirkliche Neue Welt.

Da treffen sich Melville und Walt Whitman, die beide übrigens auch Vorbild für Allen Ginsberg, Jack Kerouac, Bob Dylan und zahllose andere wurden mit ihrer Vision von Amerika. Eine Vision, die ein Ideal beschwört und eine positive Version der amerikanischen Nation und ihrer Werte, die für Freiheit steht und Geistigkeit, Menschheitsideale und somit diametral dem gegenübersteht, was man heute in Amerika beobachten kann (von Materialismus bis Kriegstreiberei). Aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn es gibt sie noch, die Melville-, Whitman-, Dylan- und Ginsberg-Amerikaner.

Aber das führt nun wirklich zu weit.

Written by Wolf

26. October 2006 at 8:20 am

Freundliche Begegnung: Moby-Dick goes after Arthur Gordon Pym

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In der selbstverständlich unverzüglich preiszukrönenden, dabei immer noch täglich sich verbessernden Literaturliste liest’s einem wieder kein Mensch. Wo ich doch grade so stolz drauf bin, deshalb nochmal als chronologischer Beitrag, one, two:

Arthur Gordon Poe by Edgar Allan PymEdgar Allan Poe: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, 1837. Selbst der Erfinder der meisten Errungenschaften moderner Literatur hatte Vorbilder; “der Pym” z.B. geht direkt auf Owen Chase: The Loss of the Ship Essex von 1821 zurück genau wie Moby-Dick (und Philbrick). Mit einer Verve, die nicht mehr anders zu erklären ist als durch Poes gezielten Einsatz von Drogen, welche den Darstellungsreichtum beflügeln und die Klarheit der Gedanken ins fieberhaft Surreale überhöhen, erhebt sich sein einziger Roman allerdings weit über Chase und selbst über Melville hinaus. Allein die Rolle des Erzählers im “Pym” ist ein Vexierspiel: Der Schriftsteller Poe schreibt seinem fiktiven Alter Ego Arthur Gordon Pym einen Tatsachenbericht zu, den letzterer von seinem Freund, einem fiktiven Mr. Poe, zu Ende führen lässt. Sogar der fragmentarisch gebliebene Zustand des Romans ist ein dramaturgischer Kniff, das literarische Werk wurde von Poe abgeschlossen.

Poe siedelt seinen Helden Pym, der in einer allegorisch überhöhten Weise Poes Autobiografie durchlebt, in der Walfangstadt Nantucket an und schickt ihn von dort aus mit Walfängern auf Reisen, die sich von realistischen, mit wissenschaftlichen Fakten untermauerten Schilderungen zu phantastischen Horrortrips steigern, die keiner Empirie mehr standhalten.

Die Rollenverteilung der Reisenden ist in mehreren Genres, die sich meist an jugendliche Leser wenden, Vorbild für zahllose Abenteuergeschichten geworden: Anführer/Buffo-Charakter/Superhirn; in den Weiterentwicklungen tritt häufig auch eine als schlau und emanzipiert gezeichnete Quotenfrau auf, das “starke Mädchen”. Bei Poe wie vorher bei Chase und nachher bei Melville enden die Figuren in einer Katastrophe. Poes fatalistischer Aspekt, der ihn über jugendaffine Kurzweil hinaushebt, die sich als rein spannende Unterhaltung versteht, liegt im Erkenntnisgewinn der Figuren, der erst im Moment des Untergangs und gerade durch den Untergang möglich wird.

Jene die Handlung schließenden Kapitel, die Pym wegen seines Ablebens angeblich nicht mehr schreiben konnte, erfuhren Ausarbeitung und Fortsetzung in Jules Verne: Die Eissphinx, 1897, und Charles Romyn Dake: A Strange Discovery, 1899. Von Anfang an war es für Literaten keine Schande, sich vom Titanen Poe recht detailliert inspirieren zu lassen. So griff auch Melville vor allem in seinem Frühwerk poeske Motive und dessen Tonfall auf.

Deutsche Einzelausgabe nur in der Übersetzung von Gisela Etzel, die maßgebliche Übersetzung von Arno Schmidt (Poes Gesamtwerk in Zusammenarbeit mit Hans Wollschläger) nur innerhalb der Gesamtausgabe bei Haffmans, und wenn überhaupt, dann geramscht. Onlinetext englisch, deutsch.

Written by Wolf

24. October 2006 at 7:21 am

Unfreundliche Begegnungen: Moby-Dick goes Huckleberry Finn

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Unfreundliche Begegnung 1Wie vor kurzem noch ohne theoretisches Fundament gesagt, ist Moby-Dick das, was der Amerikaner im Vergleich zum Deutschen statt Faust hat. Was ist jetzt eigentlich das katexochene amerikanische Nationalepos?

So jung die USA sind, wird das Epos keine Verserzählung sein, sondern ein episch breiter Roman. Ältere Nationen identifizieren sich meist über gebundene Rede, ob es ihnen passt oder nicht: Das Nibelungenlied der Deutschen, der Beowulf der Engländer, die Göttliche Komödie der Italiener verharren geehrt und ungelesen.

Epen sind out, lest Romane, insinuierte der Nordamerikaner. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts, als er sich in schmerzhaften Selbstfindungsprozessen als Trendsetter der Welt entdeckte. Kandidaten sind Huckleberry Finn, Gone With the Wind, als jüngstes Werk The Old Man and the Sea – und Moby-Dick. (Citizen Kane existiert nur als Film, und Winnetou samt all seinen Derivaten war sächsisch.)

Huckleberry Finn also – und warum nicht dessen erster Teil, Tom Sawyer?

Wegen der quantitativen Länge vielleicht: Tom Sawyer kann ohne weiteres als Mark Twains Fingerübung zu Huckleberry Finn angesehen werden. Die ungekürzte Ausgabe war das erste Buch, das ich auf Englisch ausgelesen hab; da war ich vielleicht 15 (mein zweites war dann Bukowski), demnach reicht es wohl nicht weit über süffige Jugendunterhaltung hinaus – was okay ist, aber kein Vergleich zur Vielschichtigkeit des Huckleberry Finn.

Klischees stimmen immer, vor allem, wenn so durchschaubar wird, wie sie entstanden sind: Die Quintessenz von Amerika erkennt sich in einem Kinderbuch wieder, in dem kleine Jungs richtige Helden sind. Dichtes Kolorit, nachvollziehbare Moral, Personal zum Identifizieren und Mitleiden, der soziale Underdog als Inhaber der Weisheit, überlegener Schläue sowie am Ende eines Schatzes, und alles in pointierter Durchführung – Weltliteratur. Das ist ein Rezept. Das hat Amerika, der große Lausejunge, womöglich nicht bewusst so eingefädelt, aber nie wieder aufgegeben. Ein gutes Jahrhundert später befand Ernest Hemingway, Nobelpreis für Literatur 1954: “Das größte Buch, das wir haben.”

Bernard DeVoto hat jedoch schon 1932 in Mark Twain’s America (in der Norton Critical Edition von Moby-Dick reprinted by permission of Houghton Mifflin Company, Chautauqua Institution, S. 633) zwischen Mark Twain und Herman Melville parallele Schwächen aufgedeckt:

Much more identity than has ever been noticed in print exists in the careers of Mark Twain and Herman Melville, whose minds were as antipathetic as religion and reality or the subjective and the objective worlds can be. […] “Moby Dick” has, as fiction, no structure whatever. Its lines of force mercilessly intercept one another. Its improvisations are commoner and falser than those in Huck Finn. […] And, though Melville could write great prose, his book frequently escapes into a passionately swooning rhetoric that is unconscious burlesque. He was nor surer than Mark, he was in fact less sure, of the true object of his book, and much less sure of the technical instruments necessary to achieve it. That much of weakness the two novels have in common. […] “Moby Dick” opposes metaphysics to the objective reality of “Huckleberry Finn.” It is a study in demonology, bound to the world of experience by no more durable threads than a few passages in the lives of mates, harpooners and sailors who are otherwise mostly symbol or mist. They were the book’s disregarded possibility of great realism. Melville preferred to sigh through eternity after the infinite.

Unfreundliche Begegnung 2. mysite.du.edu/~ttyler/ploughboy/bealeold.htmAuf den Punkt gebracht: Moby-Dick ist genau so ein Schrott wie Huck Finn, nur schlimmer, weil der letztere immerhin das wahre Leben abbildet.

Noch mehr Stimmen wurden laut, die Melville nicht nur das Zeug zum Nationalepiker, sondern Qualität überhaupt absprachen. Zum Beispiel Ludwig Lewisohn, ebenfalls 1932, in Expression in American. Wir geben seine Verachtung nach der Norton Critical Edition von Moby-Dick wieder (darin reprinted by permission of the publishers, Harper & Brothers, New York, S. 634):

Melville: Not Even a Minor Master

The final image that arises from all of Melville’s work is that of a big bearded violently excited man trying to shout down the whimpering, lonely child in his soul.

It will be seen at once that I consider the recent reëstimate of Melville to have somewhat overshot the mark. Great wits have praised him, but not, perhaps, those of most balanced judgment. He has his superb moments. But are those moments not rare and do they wholly repay the labor necessary to reach them? A younger generation, in search of that “usable” American past which Van Wyck Brooks so earnestly and sagaciously demanded long ago, has fastened its flag to his mast. Has not that generation been both deceived and self-deceived? Has it not substituted its desire and ideal for the reality? Melville was not a strong man defying the the cruel order of the world; he was a weak man fleeing from his own soul and from life, a querulous man, a fretful man. * * *

No, Melville is not even a minor master. His works constitute rather one of the important curiosities of literature. He will be chiefly remembered as the inventor of a somber legend cencerning the evil that is under the sun. But to embody this legend in a permanently valid form he had only half the creative power and none of the creative discipline or serenity.

Abermals auf den Punkt gebracht: Herman Melville ein jammervoller Schwächling, der mit seiner eigenen Befindlichkeit nicht klar kommt, geschweige denn mit den Anforderungen eines großen Romans, aber von fehlgeleiteten jungen Leuten als Repräsentant der amerikanischen Geschichte hochgejubelt wurde? – Man muss es denken dürfen.

Leslie Fiedler meint ja laut Wikipedia, nicht nur Moby-Dick, sondern gar der traditionelle amerikanische Roman überhaupt komme ohne Frauen aus:

1948 veröffentlichte er in der Partisan Review den provokanten Artikel „Come Back to the Raft Ag’n, Huck Honey“, in dem er homoerotischen Subtexten in Mark Twains „Huckleberry Finn“ und Herman Melvilles „Moby Dick“ nachging. Das prekäre Verhältnis der amerikanischen Gesellschaft und Literatur zu Sexualität und Rasse untersuchte er auch in seinem bis heute wohl bekanntesten Werk „Love and Death in the American Novel“ (1960). Darin konstatierte er, dass der amerikanische Roman seit seinen Anfängen meist misogyn, wenn nicht sogar frauenlos sei, während das zentrale Thema der europäischen Literatur die Liebe zwischen Mann und Frau sei. Schon in Washington Irvings Kurzgeschichte „Rip Van Winkle“ flüchtet der Protagonist vor seiner zänkischen Frau in die Wälder, und in James Fenimore Coopers „Der Wildtöter“ schlägt „Lederstrumpf“ die Ehe mit Judith Hutter aus, um weiter die Freiheit des Pionier- und Waldläuferlebens genießen zu können. Der amerikanische Schriftsteller, so Fiedler, flüchte sich aus Furcht vor der Ehe in die Welt seiner Jugend, auf See, oder in den amerikanischen Westen. So kommt es, dass die Klassiker der amerikanischen Literatur häufig reine Männergesellschaften darstellen und homoerotische Tendenzen prägend wurden, so etwa in Herman Melvilles „Moby Dick“, in dem der Seemann Ishmael mit dem polynesischen Harpunier Queequeg eine Art Ehe eingeht. Auch in der Literatur der amerikanischen Moderne, so im Werk Ernest Hemingways, William Faulkners und Nathanael Wests sind kaum intakte Ehen zu finden.

Was wir daraus lernen? Dass man so ausgewucherte Monstren wie Moby-Dick erst mögen muss, um sie mögen – und was an der Norton Edition so Critical ist.

Gone With the Wind, The Old Man and the Sea und Citizen Kane kriegen wir dann ein anderes Mal.

Written by Wolf

20. October 2006 at 11:17 am

Môby Dique: Pour saluer Melville

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Elke hat was gefunden:

Dieses Werk mit all seinem Geheimnis, es rollt dahin; es steigt an und fällt ab wie das Gebirge, wie der Sturzbach und das Meer. Er reißt uns fort und schlägt über uns zusammen.
Jean Giono über Moby-Dick

Jean Giono im Allewettermantel, hol's der KlabautermannFranzosen und Englisch? Aber klärchen lesen auch die ihren Moby-Dick! Dass sie dafür kein Englisch lernen müssen, verdanken sie zuvörderst Jean Giono. Der besorgte nämlich 1939 die erste französische Übersetzung des Mevilleschen Wälzers.

Und nicht nur das, der konnte sogar selber schreiben und – im Gegensatz zu vielen anderen – sogar ziemlich gut davon leben. Man nennt so einen nicht von ungefähr den Vergil der Provence.

Giono hinterließ seiner Nachwelt die Vision einer symbolhaften Begegnung zwischen dem Schöpfer des Moby-Dick und seinem “Engel”, eine kleine, feine und bemerkenswerte Erzählung, die in Deutschland kaum bekannt ist.

Das sollte sich aber sowas von ändern, meine ich. In Melville zum Gruß (im Original: Pour saluer Melville) lässt er selbigen in einer Postkutsche von London nach Bristol durch die nämliche Begegnung die Ahnung für das Buch vom weißen Wal finden.

In der Vorstellung Gionos war Melville nach Europa gereist, um das Manuskript von White-Jacket abzuliefern, und schreibt, nach Amerika zurückgekehrt, unter dem Eindruck seines überirdischen Reiseerlebnisses sein berühmtes Werk nieder. Ach was, lest doch selber ausführlich nach, worum es in der Geschichte geht (pdf-Link, der eine aspx-Datei lädt. Die 63 kB abspeichern, mit Extension .pdf versehen und im Acrobat Reader öffnen. Die interessante Stelle, die Buchbesprechung “Engel und Haifisch”, fängt auf Seite 1 von 3 rechts unten an); 1999 stand es auch in der Zeit.

Die deutsche Fassung gibt es als recht frisches Hörbuch Annäherungen an Melville bei Parlando, auf der zudem noch Ahab als eindrucksvolle musikalische Komposition von Stephen Melillo in einer Live-Uraufführung verpackt ist.

Written by Wolf

8. October 2006 at 6:32 am

Posted in Krähe Elke

Father Mapple Goes to the Top Again

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und Elke weiß warum. Wenigstens einer liest, was dasteht…


Zuvörderst würde ich da doch mal Ismaels eigene Deutung gelten lassen, denn er selbst hat (sich) schließlich zuerst danach gefragt. Und nicht wir, die besserwisserischen Leser, die wir natürlich nur zu gern sind, während wir ihm auf Schritt und Tritt folgen. Man muss sich ja nicht jedesmal gleich seinen ganzen Melville neu erfinden, gell? Erst recht nicht, wenn er sogar eine durchaus klare Antwort gibt.

Er jubelt dem lauteren und frommen Prediger mitnichten einen theatralischen Selbstdarstellungstrieb unter, was auf den ersten naiven Blick ja so abwegig nicht ist. Aber nur auf den ersten – denn das wäre nun doch zu platt für den charismatischen Vater Mapple. Nein, es muss “ein Sinnbild für etwas dem Auge nicht Sichtbares sein. Ob es wohl so ist, dass er durch diesen Akt leibhaftiger Absonderung seinen zeitweiligen inneren Rückzug von allen äußeren, weltlichen Banden und Bindungen kundtut? Jawohl, denn mit dem Fleische und Weine des Wortes versehen, ist diese Kanzel dem glaubensstarken Gottesmann, das sehe ich klar und deutlich, eine Feste, die sich selbst genügt…”

Eine Feste. Ein Fels in der Brandung, den nichts anficht und zerstören kann – der Gottvertrauen heißt. Ja, der weiß, was er tut, der Mann, weiß, was er Gott, sich und seinem Job schuldig ist. Und sein Job ist da unten, sind die Leute auf den Bänken, die zu ihm aufschauen und etwas von ihm erwarten – Trost, Glaube und Hoffnung. Und das überzeugend zelebriert, bittschön. So einer bricht keine Brücken ab – aber seine Brücke ist das Wort Gottes. Postuliert hier ohne Zögern eine Atheistin.

Die Frage ist wirklich spannend. Und eigentlich darf man hier noch gar nicht aufhören mit der Bilderdeuterei. Ist doch die Leiter selbst ein altes christliches Symbol. Jakob, Sohn des Isaak und somit leiblicher Neffe des biblischen Ismael, sah sie in seinem Traum:

“Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott […] Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.” (Genesis 28,10 ff.)

Dass sich nun Vater Mapple seiner eigenen Jakobsleiter bedient, wird ihm von seinem obersten (Dienst-)HERRN hoffentlich nicht als Amtsanmaßung ausgelegt. Die raue Welt der Waljäger und des Seefahrervolkes braucht wohl klare Ansagen und Symbole und vielleicht auch einen, der sich quasi mit den Himmlischen Heerscharen auf eine Sprosse stellt.

Wo wir schon mal dabei und unter Seefahrern sind, deren der Prediger in seinem früheren Leben ja auch einer war: Mir selber würde ja eine andere Deutung auch noch gefallen und passend erscheinen – die der Ankerkette oder des Fallreeps nämlich, die hochgezogen werden, wenn ein Schiff ausläuft. Ist es nicht beinah so, als wollte Vater Mapple mit dieser geradezu allegorischen Geste sagen: “Wir legen ab. Kommt, lasst uns aufbrechen zu neuen Ufern… der Hoffnung, des Glaubens…”?

Written by Wolf

8. October 2006 at 5:56 am

Posted in Krähe Elke

Father Mapple Goes to the Top

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Ach ja: die Stelle, wo Vater Mapple zum Predigen die Strickleiter hinter sich hochzieht. Hab ich mich auch gefragt, was uns der Dichter damit sagen will. Das Bild ist doch fast zu schön, um rein für die Katz vorzukommen.

Bildlich gesehen ist es natürlich ein Abbrechen der letzten Brücke zur Welt – i.S.v. “weltlich” as opposed to “geistlich” -, was mir allerdings einen Tick zu endgültig formuliert ist; der Herr Pfarrer wird ja nach kurzer Zeit wieder runter wollen.

Natürlich erhebt er sich so sichtbar über seine Gemeinde. Nun könnte er seine Leiter ja baumeln lassen, und deshalb finde ich schon, dass er das Zeichen setzt: Zu mir reicht ihr nicht herauf.

Ob er als Seefahrer viel im Krähennest war? Ich hab gehört, der Ausguck ist ein teils bespöttelter, teils beneideter Posten auf Schiffen (frag mich keiner, wo das stand, vielleicht kommt das sogar noch im Moby). Also ungefähr so wie der Lagerist in Fabriken – oder eben ein Pfarrer: Ein gewisser überlegener Atheismus für den Hausgebrauch und Klerusschelte haben schon immer zum guten Ton unter harten Mannsbildern gehört, andererseits ist nicht ausgerechnet die Kirche des puritanischen New Bedford die Stätte, seinen Unglauben auszubreiten. Vater Mapple weiß also ganz gut aus früherer Erfahrung, dass die Leute gestern Abend in der Kneipe über seinen Bier- und vielleicht auch Frauenkonsum gelästert haben. Da wird er ihnen vorführen wollen, wer letztendlich doch dem Herrgott am nächsten steht.

Ihr da unten, ich da oben: Rockwell Kent

Written by Wolf

7. October 2006 at 6:55 am

Posted in Rabe Wolf

Hic sunt leones

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Wie weit geht überhaupt der Topos der Faszination von Reisen in ferne Länder zurück? Moby-Dick war ja nicht das erste Buch seiner Art. Nicht mal das erste von Melville; sein Erstling Typee handelte schon von allem, was so eine Seebärenrumtreiberei in der Südsee ausmacht.

Miranda kann wartenAls erstes fällt mir Shakespeare ein, The Tempest.

Vorher weiß man von Berichten aus fernen Ländern – vom alten Europa aus gesehen –, in denen die Leute zwei Köpfe haben oder gar keinen, dafür die Gesichter auf der Brust, die auf den Händen gehen und in höchst wünschenwerter Libertinage leben. Und meistens fällt man unmittelbar dahinter über den Rand der Erde ins All.

Was Herodot, Tacitus und wie die Gelahrten alle heißen, die Eco im Namen der Rose so eindrucksvoll verfeuern ließ, aus den Randgebieten der Erde wussten, bezog sich immer auf Quellen, die wir Heutigen anzweifeln sollten, diente aber immer dem gerade gültigen Verständnis von Wissenschaft.

Welches Weltwissen verbrannte wirklich mit der Bibliothek von Alexandria? Hätte es uns genützt? War es wenigstens spannend? Ist davon mehr auf Shakespeare gekommen als auf uns, bis er beruhigt in sein letztes Stück schreiben konnte: “Be free, and fare thou well”?

Im Nicholas Nickleby von Charles Dickens beschließt die fliegende Schauspielertruppe in einer flauen Zeit, statt aktuellen Theaterstücken lieber Shakespeare zu spielen, weil das ein sicherer Kassenmagnet ist.

Shakespeare fürs sensationsgeile Volk! Auf dass es herbeiströme! Sicherer als in die neuen Stücke! Nicholas Nickleby ist von 1839, das war 223 Jahre, nachdem Shakespeare seinen letzten Huster tat.

Wie wenn ein Club-DJ auf Tingeltour vorsichtshalber Mozartarien trällern wollte. Es scheint, in den 167 Jahren seither hat sich im Rezeptionsverhalten der Theaterzielgruppe noch viel mehr verändert. Und postmoderne Vortragskünstler heißen wieder Moby.

So, und jetzt dürfen Sie nach Kräften kommentieren, was Sie über vergleichende Literaturgeschichte wissen.

Ptolemäischer Sturm

Written by Wolf

27. September 2006 at 3:01 pm

Losing My Religion

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An Doktor Freud schon wieder: Wollen Sie übernehmen?

Ismael – also der aus der Bibel jetzt – ist ja, wenn man keine Angst vor Genre-Crossing hat, einer der Lost Boys aus dem Peter Pan.

VaterfreudenDer Unterschied ist, dass Ismael nicht versehentlich aus dem Kinderwagen gepurzelt ist, sondern aktiv rausgeschmissen wurde. Urvater Abraham, die Blaupause aller Patriarchen, schickt seinen Erstgeborenen in die Wüste, weil seine Frau mosert, dass der ja gar nicht von ihr ist. Seinen Zweiten, Isaak, opfert er wie ein Stück Vieh.

Gut, geopfert hat er ihn nicht. Dazu musste ihm aber Gott persönlich in den Arm fallen, der das Schlachtmesser hielt. Der Trick ist: Er hätte es getan.

Das konnten die Jungs nur kompensieren, indem sie ihrerseits Stammväter wurden: der eine für die Araber, der andere für die Juden.

Die Lost Boys haben sich von Peter Pan, dem größten Kindskopf unter ihnen, losgesagt und gründeten mit Mädchen wie Wendy Familien. Peter Pan durfte Tinkerbell behalten. Abraham kämmt seinen Bart.

Schöner Übervater.

Written by Wolf

25. September 2006 at 3:00 pm

Posted in Rabe Wolf

Hatte Herman Melville Kinder?

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„Wie hat Herman Melville überhaupt ausgesehen?“

„Wie der Nikolaus.“

„Du meinst, wie ein calvinistischer Patriarch.“

„Aber ich bin fies, gell?“

„Wie ein Quäkerpilgervater?“

„Er wird keine Weltreise davon entfernt sein.“

„Wie viele Kinder hat der denn gehabt?“

„Weiß ich auch grade nicht auswendig…“

„Solche Sachen sind’s aber, die die Leute interessieren!“

„Und nicht, welche Bücher sie noch von ihm kaufen können?“

„Das kommt später. Erst will man hören, dass Angelina Jolie die zehn kleinen Negerlein adoptiert hat – dann guckt man einen Film mit ihr.“

„Moment, ich weiß, wo’s steht. Im Jendis ist eine zehnseitige Biografie.“

„Da ist der moderne Leser zu faul. Die Information muss sofort greifbar sein.“

„Warum googelt er’s nicht, der moderne Leser?“

Du bist doch der Experte. Den modernen Leser interessieren deine nerdigen Schulaufsätze ex cathedra nicht. Wozu führst du denn deinen Weblog?“

„Damit ich besser weiß, welcher von deinen modernen Lesern mich langsam mal kreuzweise kann. Unerhebliche Fragen stellen und zu hedonistisch, die Antwort anzuhören.“

„Ein Glück, dass du nicht arrogant bist.“

„Söhne Malcolm, 16. Februar 1849 in Boston, und Stanwix, 22. Oktober 1851 in Pittsfield, Töchter Elizabeth, 22. Mai 1853 auch in Pittsfield, und Frances, 2. März 1855 erst recht in Pittsfield. Den Malcolm hat er am 11. September 1867 mit Kopfschuss nach dem Waffenreinigen in seinem Zimmer aufgefunden, Stanwix ist am 23. Februar 1886 in San Francisco an Tuberkulose gestorben. Ta-daa.“

„Und die Mädels? Leben noch?“

„Glaub ich nicht. Sind eben nicht so detailliert überliefert, weil sie den Vater überlebt haben, bei dem sie in der Biografie vorkommen.“

„Und weil Frauen in der Historie…“

„Sag jetzt nichts, Liebling.“

„Die CD von Paris Hilton ist gefälscht und heimlich in den Plattenläden verteilt worden.“

So viel zur Entschleunigung. Leben mit Melville.

So sieht der aus

Written by Wolf

21. September 2006 at 11:57 am

Von Ismaeliten

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An klaren Tagen kann man Damaskus sehen. Eran Riklis
Die syrische Brautführerin

Nochmal zum Thema Ismael. In der Packungsbeilage zu “Die syrische Braut” lernen wir:

Religionsstifter der Drusen war der Sultan al-Hakim Biamrillah, Herrscher der ägyptischen Fatimiden, einer schiitischen Dynastie, die sich auf Fatima, die einzige Tochter des Propheten Mohammed, zurückführt. Die Fatimiden betrachteten Ismael, einen Sohn des sechsten Imam, als ihren Erlöser. Der Sultan betrachtete sich als Manifestation Gottes auf Erden, und sein Tod im Jahre 1021 wird von seinen Anhängern als Übergang in einen Zustand der Verborgenheit verstanden, aus dem er nach 1000 Jahren wieder zurückkehren wird, um die Herrschaft über die Welt anzutreten.Nachdem al-Hakim in die Verborgenheit ging, entwickelten die beiden schiitischen Gelehrten Hamza ibn-Ali und Mohammed al-Darazi die theologische Lehre der Drusen, worin der Kalif al-Hakim als Inkarnation Gottes gilt. Die Bezeichnung Drusen stammt eventuell von al-Darazi (Jünger des Darazi) oder von daraza (studieren, d.h. der heiligen Schriften).

Die Mission und Konvertierung Andersgläubiger wird von den Drusen nicht betrieben, auch freiwillig kann man nicht zum Drusentum übertreten. Außenstehende wurden nur zu Zeiten der Gründung der Religion aufgenommen; heute ist nur Druse, wer Kind drusischer Eltern ist.

Obwohl der Glaube der Drusen stark von der ismailitischen Tradition geprägt ist, sind die Unterschiede so groß (z.B. Beimischung des Platonismus und Neoplatonismus, Seelenwanderung), dass man von einer eigenständigen Religion und nicht von einer Richtung des Islam sprechen muss. Insbesondere die Ablehnung des Propheten Mohammed und die Ansicht, dass der Koran keine absolute Offenbarung sei, setzt die Drusen von allen Richtungen des Islam ab.

Und dafür werden sie einmal mehr verfolgt, die Nachfahren des Ismael.

An klaren Tagen geht man lieber an den Strand. Nahman Igbar
Die Syrer

Written by Wolf

14. September 2006 at 6:48 am

Da klebt er

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Walreisen sind vom Sofa aus doch am bequemsten. Da kann man seinen Enkeln beim Ordnen kleiner bunter Schnipsel erzählen, wie’s früher war.

Keine Ahnung, ob mit Briefmarkensammeln oder Walefangen mehr vedient ist. Bei den Briefmarken lernt man jedenfalls mehr Geschichte; viel mehr ist bisher bei der ganzen Bloggerei auch nicht rumgekommen.

Danke an Elke für den Link.

Written by Wolf

13. September 2006 at 9:04 am

Posted in Krähe Elke, Rabe Wolf

mare für nix

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Es ist ja immer so, wenn man anfängt, sich systematisch für etwas zu interessieren: Auf einmal handelt die ganze Welt von nichts anderem mehr. Man zieht den Gegenstand seines Interesses magnetisch an. Das hat etwas Esoterisches, aber es funktioniert auch, wenn man nicht dran glaubt.

Ich bin letzthin wieder auf die mare gestoßen. Eine der allerbesten Zeitschriften überhaupt, hab ich beim ersten Treffen gefunden und musste mich nie korrigieren.

Soeben erreichen mich zwei Ausgaben von 2005, die einem der Verlag stiftet, wenn man an seiner derzeitigen Online-Umfrage teilnimmt. Anfang Oktober kommt noch die neue Ausgabe dazu. Kostet nix!

Na gut, man muss aktiv absagen, damit das nicht in ein einjähriges Abo übergeht, das dann eben doch kostet. Aber wenn einem im Leben nie etwas Schlimmeres passiert, als dass man aus Versehen die mare abonniert, soll man Neptun auf Knien danken. Wir reden hier nicht über die Bildzeitung. Eine mare zerrt man einfach zu selten aus dem Altpapier.
mare erscheint nur alle zwei Monate. Das deutet auf besonnenen, gründlichen Journalismus. Stimmt. Die Einzelhefte geraten jedes Mal zu einem Standardwerk über das jeweilige Schwerpunktthema. Visuell gestalten könnte man sie nicht schöner.

Die Schwerpunktthemen sind sehr spezialisiert bis verschroben. Das kommt, weil sie nicht alle zwei Monate wieder mit einer Einführung in Adam und Eva anfangen, sondern sich alle notwendige Zeit zur Vertiefung lassen. Und das umfassende Thema der Zeitschrift, das Meer, hat genügend Tragweite, um immer einen Bezug zu jedermanns Leben zu behalten. Das gibt es viel zu selten. Außerhalb von mare womöglich überhaupt nicht.

Meine Lieblingshefte, das über Seeleute, das über Piraten & Meuterer und dann noch eins, sind vergriffen, aber mare wird von großen Stadtbibliotheken gesammelt.

Auch haben?

mare 4mare 7mare 31

Written by Wolf

7. September 2006 at 6:59 pm

Posted in Rabe Wolf

Nennt mich Ismael.

with 2 comments

Von mir aus auch Wolf. Ab sofort stimmt beides.

Der Plan ist, zu mehreren gleichzeitig Moby-Dick – nur echt mit dem Bindestrich – von Herman Melville zu lesen.

Christian schmeißt ein Schreibbüro in Berlin, Elke ebenda eine sozialpolitische One-Man-Show, Steffi ist vom Fach. Man sollte also glauben, dass wir alle ein funktionierendes Sozialleben führen. Wir lesen einfach gern Bücher von 1851. Überlegen Sie deshalb gut, was Sie kommentieren. Wir tun’s auch.

Und jetzt in die Wanten mit uns Landratten.

Written by Wolf

18. August 2006 at 11:41 pm

Posted in Rabe Wolf