Moby-Dick™

Leben mit Herman Melville

Archive for August 2007

Kapitel 44 oder 78774-mal E

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Chapter 44 or 6618 times E, 2006
Moby Dick: Chapter 44 or 6618 times E
,
Kaltnadel, 23 auf 28 Zentimeter, 2006.

Wir treffen in der conduitgallery in Dallas, Texas auf Justin Quinns Transkription von Moby-Dick in den Buchstaben E: den Zyklus Chapter 44 or 78,774 times E; Graphitzeichnungen auf Hanfpapier, Kaltnadel-Tiefdruck und Öl auf Leinen, 2004–2006.

Der Werkzyklus untersucht zu wiederholten Malen Herman Melvilles Kapitel 44: The Chart, ausgehend von der Textstelle:

Almost every night some pencil marks were effaced, and others were substituted. For with the charts of all four oceans before him, Ahab was threading a maze of currents and eddies, with a view to the more certain accomplishment of that monomaniac thought of his soul.

Captain Ahab zeichnet nachts in seinem Kartenzimmer zwanghaft Seekarten nach, was seine Besessenheit mit der Suche nach dem weißen Wal veranschaulicht.

Quinn transkribiert nicht etwa den ganzen Roman in den genannten Kunsttechniken, sondern setzt sich mit seiner Arbeit selbst an die Stelle von Ahab in dieser Situation, indem er abertausendfach den Buchstaben E in diese verschlungenen, labyrinthischen Strukturen stellt: Seine Bahnen führen statt zu einem Ziel immer nur zu sich selbst zurück. Durch die Verwendung immer nur des einzigen Buchstaben E wird die Grenze zwischen Prosa und visueller Kunst aufgehoben.

Es bestehen Bearbeitungen anderer Kapitel, noch mehr sind in der Entstehung.

Ein gespenstisch schön geratendes Korpus, vor allem wenn man sich die dem Selbstversuch nahestehende Arbeitsweise des Künstlers vergegenwärtigt.

Danke an den Lachenden Knochen, 26. August 2007,
und den Kunstverein Frechen!

Written by Wolf

31. August 2007 at 1:15 am

Posted in Moses Wolf

Was werden 1906

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Update zu Irgendwas mit Büchern:

Robert Walser: Geschwister Tanner,
Erstes Kapitel [Anfang]

Robert Walser, *1878, Ende 1890er JahreEines Morgens trat ein junger, knabenhafter Mann bei einem Buchhändler ein und bat, daß man ihn dem Prinzipal vorstellen möge. Man tat, was er wünschte. Der Buchhändler, ein alter Mann von sehr ehrwürdigem Aussehen, sah den etwas schüchtern vor ihm Stehenden scharf an und forderte ihn auf, zu sprechen. “Ich will Buchhändler werden“, sagte der jugendliche Anfänger, “ich habe Sehnsucht darnach und ich weiß nicht, was mich davon abhalten könnte, mein Vorhaben ins Werk zu setzen. Unter dem Buchhandel stellte ich mir von jeher etwas Entzückendes vor und ich verstehe nicht, warum ich immer noch außerhalb dieses Lieblichen und Schönen schmachten muß. Sehen Sie, mein Herr, ich komme mir, so wie ich jetzt vor Ihnen dastehe, außerordentlich dazu geeignet vor, Bücher aus Ihrem Laden zu verkaufen, so viele, als Sie nur wünschen können zu verkaufen. Ich bin der geborene Verkäufer: galant, hurtig, höflich, schnell, kurzangebunden, raschentschlossen, rechnerisch, aufmerksam, ehrlich und doch nicht so dumm ehrlich, wie ich vielleicht aussehe. Ich kann Preise herabsetzen, wenn ich einen armen Teufel von Studenten vor mir habe, und kann Preise hochschrauben, um den reichen Leuten ein Wohlgefallen zu erweisen, von denen ich annehmen muß, daß sie manches Mal nicht wissen, was sie mit dem Geld anfangen sollen. Ich glaube, so jung ich noch bin, einige Menschenkenntnis zu besitzen, außerdem liebe ich die Menschen, so verschiedenartig sie auch sein mögen; ich werde also meine Kenntnis der Menschen nie in den Dienst der Übervorteilung stellen, aber auch ebensowenig daran denken, durch allzu übertriebene Rücksichtnahme auf gewisse arme Teufel Ihr wertes Geschäft zu schädigen. Mit einem Wort: meine Liebe zu den Menschen wird angenehm balancieren auf der Waage des Verkaufens mit der Geschäftsvernunft, die ebenso gewichtig ist und mir ebenso notwendig erscheint für das Leben wie eine Seele voll Liebe: Ich werde schönes Maß halten, dessen seien Sie zum voraus versichert.”

Robert Walser Autograph

Bilder: Wikipedia, Robert Walsers Biel – Ein literarisches Weg- und Wandernetz, 2006; gemeinfrei.

Written by Wolf

29. August 2007 at 2:42 am

Posted in Reeperbahn

Das sagen die anderen: Fast Fish

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Update zum Nachtrag zu Der letzte Wal
und mehr oder weniger zu Vorsichtig, Melville und thar she blows:

Kapitän Ahab hat nen Kebap-Stand auf Island:

Wal-Kebap

(Anzeige in einer Reykjaviker Zeitung)

Bild und Fund und auch sonst: antimateur.org (der ab sofort in der Linkrolle wohnt!), 3. Februar 2007.

Edit: Es besteht aller Grund zu der Befürchtung, dass der freundliche, nicht mehr ganz junge Mann in der Anzeige keine provokative Werbung für Tierschutz betreibt, sondern ganz traditionelle Produktwerbung für seine legal verkäuflichen Wal-Döner.

Das gibt’s im Restaurant Sægreifinn in Reykjavik, das wirklich ganz gut sein soll. Diese Flakhelfergeneration ist wirklich knochenhart.

Island hat im Oktober 2006 wieder mit dem kommerziellen Walfang angefangen und will vielleicht am 31. August schon wieder damit auhören.

World Not Amused

Bilder: Observe The Banana, 18. Januar 2007.

Written by Wolf

28. August 2007 at 12:10 am

Posted in Meeresgrund

New Bedford bei Kaufbeuren

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Update zu Father Mapple Goes to the Top Again und Ahab voraus:

Schiffe ruhig weiter,
wenn der Mast auch bricht.
Er ist dein Begleiter,
er vergisst dich nicht.

Christoph August Tiedge: Urania

Schiffskanzel Irsee, Alte AnsichtskarteWas Father Mapple in Kapitel 8: Die Kanzel besteigt, ist eine Schiffskanzel und auch in Deutschland vorrätig: in Irsee, ein Stück auf der B16 nördlich Kaufbeuren im Allgäu.

Es sind immer die Landratten, die maritimer Romantik am zugänglichsten sind; man sehe sich allein die Teilnhemer an Moby-Dick™ an. Joachim Ringelnatz, ein oft und gern genannter Lieblingsdichter und erfahrener Seebär mit bestechend schönen, überaus authentischen Seemannsgedichten, stammte aus Sachsen. Die Marineeinheiten der Bundeswehr schätzen den auffallenden Zulauf an Freiwilligen aus Bayern.

Und Ignaz Hillenbrand aus dem schwäbischen Türkheim, ein spärlich belegter Meister des Barock, baute 1724/25 eine sage und schreibe Schiffskanzel in die Klosterkirche der Benediktinerabtei Irsee im Allgäu.

Für die Kirche außen herum arbeitete der Maler und Stukkateur Johann Baptist Zimmermann zunächst mit seinem Bruder, dem Baumeister Dominikus zusammen, dann dann mit dem flämisch-deutschen Baumeister und Dekorateur François de Cuvilliés dem Älteren. Für das Schmuckwerk war der Bildhauer Hillenbrand in enger Zusammenarbeit mit der Kunstschreinerfamilie Bergmüller zuständig.

Der Schwabe war schon 1725 mit dem guten Stück fertig, konnte also schlecht von Moby-Dick inspiriert sein. Selbst 1851 war Father Mapples Originalkanzel noch eine stimmungsvolle freie Erfindung von Herman Melville. Wer heute nach New Bedford, Massachusetts reist, wo er dem New Bedford Whaling National Historical Park nur schwer ausweichen kann, trifft ebenfalls auf so eine Schiffskanzel im konfessionslosen Gotteshaus Seamen’s Bethel, Father Mapples Kirche, die 1832 fertig war und deshalb schon Melville zur Anschauung dienen konnte.

Die Kanzel in Schiffsform ist da allerdings erst 1961 nachträglich hineingebaut – und dann etwas platt in Bodennähe, nicht wie bei Melville in Ehrfurcht gebietender Höhe zum donnernden Runterpredigen und ganz ohne stilechte Strickleiter. Das war unter dem Eindruck von John Hustons Verfilmung von 1956, als plötzlich Filmfans aus aller Welt anreisten und Father Mapples Kanzel sehen wollten. Schade, dass Huston nur die Außenaufnahmen on location in New Bedford gedreht hatte; Orson Welles in der Rolle des Father Mapple predigte in Studiokulissen.

Schiffskanzel Irsee, irsee.deWas treibt nun einen Handwerker mit künstlerischen Ambitionen aus der bedeutungslosen Seefahrernation Schwaben dazu, seine Auftragskirche mit Schiffen zu möblieren? Gerade deswegen?

Das Schiff steht seit den Alten Ägyptern, vor allem auch in bronzezeitlichen Schiffssetzungen in Stein (zum Beispiel auf Gotland) für die Reise ins Jenseits. Auch die Fahrt der Pequod, symbolbeladen wie sie ist, dürfen wir als Seelenreise auf der Suche nach einer anderen Welt begreifen, und an Endzeitstimmung herrscht in Moby-Dick kein Mangel. Am deutlichsten wird das, als Queequeg sich wegen deutlicher Todesahnungen in Kapitel 110 einen Sarg schreinern lässt (hard facts nach Eugen Drewermann: Moby Dick oder: Vom Ungeheuren, ein Mensch zu sein, Seite 449 f.).

In der mittelelalterlichen Symbolik steht das Schiff für die Kirche schlechthin: Auf dem Ozean der Welten bietet sie Sicherheit und segelt stolz durch die Stürme der Zeit, die Kirche. Und streng hierarchisch organisiert ist sie ja auch. Hören wir dazu Captain Ahab, der das wissen muss und mit geladener Muskete im Anschlag vertritt:

There is one God that is Lord over the earth, and one Captain that is lord over the Pequod. – On deck!

oder in der Jendis-Übersetzung:

Es gibt einen Gott, welcher ist Herr über die Erde, und es gibt einen Kapitän, welcher ist Herr über die Pequod. – An Deck!

Ahab zu Starbuck, Kapitel 109

Das ist doch ein Wort, hol’s der Klabautermann.


Besuchet auch die ehemalige Benediktiner-Klosterkirche in Irsee bei Johannes Michalowsky! Am besten richtig, aber wenn elektronisch, dann dort. Der hat da eine lohnende Bilderschau mit 21 großen, sonnigen Bildern von einem Ausflug von der Kirche von außen bis zum Klosterbiergarten in angenehm unprätenziösem, einsnulligem Webdesign liebevoll selbst hergestellt, die fast die Anreise erspart.

Klosterkirche Irsee, Altarraum

Bild: Irseer Schiffskanzel, Alte Ansichtskarten; Kanzel von rechts unten: Markt Irsee; Altarraum: Johannes Michalowsky.

Written by Wolf

26. August 2007 at 12:01 am

Keine Mehrfachnennungen möglich

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Copyright Bernie Dexter, berniedexter.com

Haben Sie Moby-Dick gelesen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bildnachweis siehe Fallreep, ganz unten.

Written by Wolf

23. August 2007 at 3:20 am

Posted in Moses Wolf

New York 1660

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Update zum New York Rant:

Im August 1660 zeichnete der Generalgouverneur von Neu-Amsterdam Jacques Cortelyou (1625 in Utrecht bis 1693 in New Amsterdam, Montgomery) den bis heute schönsten Stadtplan von New York, das zu dieser Zeit noch nicht mal so hieß, sondern noch bis 1664 Nieuw Amsterdam.

Um 1667 muss der Kartograph Joan Blaeu, allerdings schon im richtigen, alten Amsterdam, das Schmuckstück zusammen mit anderen handgefertigten Ansichten zu einem New Amsterdamer Atlas gebunden haben, der an Cosimo III. de’ Medici verkauft wurde.

Der Plan, noch oder schon altersbedingt entfärbt, wurde 1900 in der Villa di Castello bei Florenz entdeckt, deshalb Castello Plan genannt und 1916 in besserer Kolorierung nachgedruckt, wodurch er seine heutige Schönheit erreichte und angemessene Verbreitung erfahren konnte.

Nieuw Amsterdam war damals eine rasant aufstrebende Kleinstadt mit 1500 Einwohnern; das Haus in der Pearl Street, in dem 159 Jahre später Herman Melville geboren werden sollte, stand schon.

Eine brauchbare Darstellung des Castello-Plans findet sich auf einer großformatigen Doppelseite auf hochwertigem Papier in Ric Burns, James Sanders, Lisa Ades: New York. Die illustrierte Geschichte von 1609 bis heute, 2005. Norden bleibt rechts.

Castelloplan 1660

Bild: Castello-Plan von 1660 in Wikimedia Commons; Lizenz: Public Domain bei der New York Historical Society.

Edit 3.30 Uhr: Im englischen Wiki hab ich gerade einen Artikel zum Castello Plan neu angelegt, um die verstreuten anderslautenden Informationen auszuräumen. Was ich hier wiedergebe, erscheint mir wenngleich rudimentär, historisch am wahrscheinlichsten. Mal sehen, ob die englischen User lieb zu dem Eintrag sind.

Written by Wolf

22. August 2007 at 1:30 am

Posted in Rabe Wolf

Der Herr ist mein Hirte

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Update zu Steffis Ramadan:

Wer da nicht anderthalb Minuten lang religiös wird, hat der ein Herz? – :

Little Girl Psam 23

The Lord is my shepherd; I shall not want.
He maketh me lie down in green pastures;
He leadeth me beside still waters.
He restores my soul;
He leads me in paths of righteousness for His name’s sake.
Even when I walk in the valley of Darkness, I will fear no evil for You are with me; Your rod and Your staff – they comfort me.
You set a table before me in the presence of my adversaries; You anointed my head with oil; my cup overflows.
May only goodness and kindness pursue me all the days of my life, and I will dwell in the house of the Lord for length of days.

Psalm 23, King James Version.

Written by Wolf

20. August 2007 at 12:01 am

Posted in Laderaum

Arthur Schnitzler: Amerika

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Abt.: Deutsche in Amerika (Österreicher eingeschlossen),
Update zu Only that day dawns to which we are awake:

Arthur Schnitzler, WikimediaDas Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil… […]

Ich stehe allein am Ufer. Nicht an das neue Amerika denk’ ich, von dem ich das Glück zu fordern habe, das mir die Heimat schuldig geblieben – ich denke an ein anderes. […]

Wie drollig war das damals! So toll und dumm! Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie es zu mir ausschaute mit den Schelmenaugen, und wie von ihren roten Lippen der Ruf erschallte: »Amerika!« Wie haben wir damals gelacht, und wie hat mich der Duft berauscht, der aus ihren Locken heraus über unser Amerika strömte…

Und bei dieser großartigen Benennung blieb es auch. Zuerst riefen wir es immer aus, wenn von den unzähligen Küssen einer sich hinters Ohr verirrte; dann flüsterten wir es – dann dachten wir es uns nur mehr; aber immer kam es zum Bewußtsein. […]

Und nun stehe ich mitten in der großen, kalten Stadt. Ich bin in dem falschen Amerika und träume von meinem süßen, duftenden Amerika da drüben… Und wie lange das schon her ist! Viele, viele Jahre. Ein Schmerz, ein Wahnsinn kommt über mich, daß so etwas unwiederbringlich verloren ist. Daß ich nicht einmal weiß, wo eine Kunde von mir, wo ein Brief sie treffen könnte – daß ich nichts, gar nichts mehr von ihr weiß…

Weiter hinein in die Stadt führt mich mein Weg, und mein Gepäckträger folgt mir. Ich bleibe einen Augenblick stehen, schließe die Augen, und durch ein seltsames trügerisches Spiel der Sinne umfängt mich derselbe Duft, wie er an jenem Abend von Annas Locken über mich wehte, da wir Amerika entdeckten…

Arthur Schnitzler: Amerika, 1887. Erstdruck in: An der schönen blauen Donau, IV. Jahrgang, 9. Heft, 1889. Erste Buchausgabe in: Die kleine Komödie, S. Fischer Verlag Berlin, 1932.

Volltexte: Gutenberg und Versalia, derzeit käuflich bei Artemis & Winkler;
Bild: Focus, Public Domain.

Written by Wolf

19. August 2007 at 4:20 pm

Posted in Laderaum

Jetzt online: Quohog – his mark

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Update zum Preisrätsel (ja, das läuft noch!),
Quohog. sein Zeichen. und Nachtrag zu
Dem Wolf sein Zeichen:

Quohog – his mark

Seit 15. Januar hat die Moby-Dick-2.0-Forschung den Fortschritt getan, dass wir heute in der Lage sind, Queequegs Originalunterschrift online zur Verfügung zu stellen, wie Herman Melville sie von eigener Hand in sein Manuskript malte: die queer round figure which was tattooed upon his arm, und Captain Pelegs Erklärung gleich mit drumrum.

Bis auf weiteres bietet keine der bestehenden Online-Volltexte Moby-Dick eine Reproduktion von Queequeg-Melvilles Unendlichkeitszeichen, vielmehr behelfen sich alle mit einem X. Nun gut, das spricht sich ja genauso.

Die Teile 2 und 3 des Preisrätsels entfallen somit als obsolet, zur Erforschung der Teile 1 und 1a wird hingegen erneut aufgerufen. Die Kommentarfunktion ist offen.

T-Shirts sind in Arbeit.

Bild: Das einzige erhaltene Fitzelchen aus Herman Melvilles verschollenem Originalmanuskript Moby-Dick (weil es mit in die Druckerei gegeben wurde), Scan aus der deutschen Übersetzung von Friedhelm Rathjen, Zweitausendeins 2004 (es wird auch in anderen Ausgaben wiedergegeben); Lizenz: Public Domain oder Creative Commons, je nachdem.

Written by Wolf

18. August 2007 at 12:01 am

Posted in Moses Wolf

Geviertstriche

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Update zu Geopfert
mit Bildern von Carly Jane:

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007

Denn mich fesselt holde Bosheit,
Wie mich Güte stets vertrieben;
Willst du sicher meiner los sein,
Mußt du dich in mich verlieben.

Heinrich Heine, 1844

Das Brünnlein rinnt und rauscht
Wohl unterm Hollerstrauch,
Wo wir gesessen
Wie manchen Glockenschlag,
Da Herz bei Herzen lag,
Das hast du vergessen.

Adé zur guten Nacht, 1848

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Jenen goldgelben Sommerabend
ich wusste gar
nicht wie Shopping
geht war endlich
mutig genug die
Schellingstraße rauf und
runter zu strolchen
probierte ich in
einem Schuhgeschäft das
mich immer schon
immer so hochmütig
betrachtet hatte endlich
das Paar Manolos
um es endlich
in die Augen
aus dem Sinn
zu bekommen mein
Herz nahm mich
schon beim Eintreten
mit im Galopp
erst recht als
ich am Verkäufer
vorbei zielstrebig auf
das Regal zuging
mir die Red
High Heels griff
als täte ich
jeden Tag nichts
anderes den Sessel
ansteuerte und mir
die Ballerinas abstreifte.
Keine Ahnung ob
sie mir in
den Laden gefolgt
in der Ecke
gestanden oder aus
dem Boden gewachsen
war ihre Stimme
richtete sich eindeutig
an mich der
Verkäufer war zu
einer Hilfskraft hinter
dem Tresen degradiert:

„Peeptoes! Manche Leute
haben einfach den
Schuss nicht gehört!“

Was ich zuerst
von ihr sah
waren ihre eigenen
Zehen in Riemchensandalen
ich schaute an
ihr hoch die
Beine am selben
Morgen rasiert und
fragte: „Haben Sie
vielleicht einen besseren
Vorschlag?“ Sie hatte.
Sie angelte schon
in dem Regal
hinter sich und
zeigte mir den
Inbegriff von Schuhen.
Ich will sie
nicht beschreiben stellen
Sie sich einen
Feenhauch aus Gold
mit fast keiner
Sohle und einer
Idee von Strass
vor das Ganze
zehn Zoll hoch
genau im richtigen
Abstiegswinkel ach Sie
wissen was gemeint
ist. Selbst der
Verkäufer schaute respektvoll.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007„Sie zahlt mit
Eurocard.“ Sie hatte
Recht. „Woher wissen
Sie das?“ – „Sieht man
doch. Was du
brauchst ist eine
Visa und das
mit dem Siezen
muss auch aufhören.
Komm wir gehen
feiern.“ Verstehen Sie
sie hat mich
einfach aus dem
Laden mitgenommen und
mich bezahlen lassen.
Wenn ein Kerl
das gewagt hätte
den hätte ich…

„Was hätten Sie
ihn denn?“ fragte
ich hilfreich nach.

Ach Gott nichts
hätte ich wahrscheinlich
sondern wäre ihm
genauso erlegen aber
ich hatte nie
diese lesbischen Neigungen
und sie war
eine Schönheit so
stolz und selbstverständlich
ich gehörte ihr
von Anfang an
das muss man
auch gesehen haben
wie wir durch
die Straße liefen
sie hängte sich
meinen Arm in
ihren die Leute
guckten nicht mal
komisch die Sonne
schien. „So jetzt
will ich mir
auch was leisten“
sagte sie und
blieb vor dem
Bücherkarren eines Antiquariats
stehen. Kennerhaft blätterte
sie in vergilbten
holzhaltigen Klassikern in
Fraktur und ein
paar englischen Taschenformaten
keins davon über
fünf Euro stellte
ich fest als
ich meine Tasche
mit meinen neuen
Manolos unter dem
Arm aus dem
Weg geräumt hatte.
Bei den Engländern
irgendwie noch mehr
bei den Amerikanern
hörte ich ihren Atem
stocken sie schnappte
sich ein Paperback
um es nicht
wieder herzugeben. „Das
ist meins“ flüsterte
sie in einem
Ton den sie
vor zehn Minuten
auf mich angewandt
haben musste es
war ein abgelegener
Sampler von Herman
Melville sie verschwand
kurz im Laden
fragte nicht ob
ich Interesse an
dem Karl Simrock
hätte ein gut
erhaltenes Stück mit
dem Amelungenlied Büchereistempel
und Verlagslogo noch
mit Eichenlaub. Ihre
Trophäen an der
Hand links Melville
rechts mich führte
sie uns feiern.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007To ———

Ah, wherefore, lonely, to and fro
Flittest like the shades that go
Pale wandering by the weedy stream?
We, like these, are but a dream:
Then dreams, and less, our passions be;
Yea, fear and sorrow, and despair
Be but phantoms. But what plea
Avails here? phantoms having power
To make the heart quake and the spirit cower.

Kennst du das?

„Melville“ sagte ich
„eins von seinen
Zwischengedichten noch in
Arrowhead geschrieben aber
nach seiner großen
Literatenzeit.“ – „Sehr gut“
sagte sie anerkennend
„ich wusste dass
ich heute ein
Händchen habe. Genau
gesagt heißt es
To ——— das hat
er später nicht
in die Weeds-
and-Wildings
-Sammlung
aufgenommen.” – „Keine
rose or two?“
Die sieben Semester
Anglistik waren ja
nicht für die
Katz. „Natürlich nicht.
Kommt ja keine
Rose drin vor.
Wird 1860 eingeordnet
aber wenn du
mich fragst ist
es von später.
Hat er nie
irgendwo gesammelt gefunden
haben sie es
in der Lebkuchendose
mit seinem Nachlass
also quasi ein
gereimter Billy Budd
ohne schwule Matrosen.
Zeit war noch
bis Mitte der
80er aber da
wollte er es
fast selber nicht
mehr kennen. „Schade“
sagte ich „es
ist wirklich schön.“

Sie seufzte: „Ja.“

„Wie heißt das
sagtest du?“ – „To ———
mit Geviertstrichen hinten
dran.” – „Pah so
heißen doch mindestens
drei
von
Poe
auch jedenfalls wenn
man die ganzen
geheimnistuerischen Initialen und
Marie Louise Shew
nicht mitzählt sogar
mit den Geviertstrichen.“

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007„Red nicht“ murmelte
sie ungeduldig „es
ist eins der
schönsten überhaupt und
komm mir jetzt
nicht damit dass
die vierte Zeile
der alte dream
within a dream

ist natürlich ist
das der Poe“
der Tag war
zu schade um
sich zu streiten.

Wir flanierten sie
guckte immer den
Mädchen hinterher und
versicherte sich nachher
dass ich noch
bei ihr war.
Im Hofgarten fielen
wir wie von
selbst unter ein
Gebüsch da merkte
ich erst dass
ich die Manolos
aus dem Laden
anbehalten hatte und
in der Tüte
meine ausgelatschten Ballerinas
spazieren trug. „Zieh
sie aus“ las
sie meine Gedanken
„und stell sie
hier rauf nicht
dass einer von
den Proleten da
draußen doch merkt
worauf du da
rumläufst die Flachlatschen
kannst du stehen
lassen“ und zog
sich selbst die
Riemchen aus. „Unglaublich
was du für
hübsche Zehen hast“
sagte ich und
erschrak vor diesem
Klang vor diesem
Inhalt vor mir
selbst ich dachte
nicht dass ich
das mal zu
einem Menschen sagen
würde Füße waren
mir immer egal
bei Männern bei
Frauen auch der
Rest aber sie
war wie Sie
vielleicht gemerkt haben
anders. Und es
stimmte auch sie
hatte die schönsten
Zehen der Welt
eng zusammenstehend sehr
gepflegt auffallend sehnig
die Schildchen natürlich
lackiert aber ich
könnte nicht mal
sagen in welcher
Farbe. Dann lagen
wir barfuß unter
dem Busch ich
kann auch nicht
mehr festmachen wann
sie angefangen hatte
mich zu küssen.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007„Wenigstens trägst du
nichts drunter“ hörte
ich sie irgendwann
als sie mich
dahin fasste worauf
ich wie im
Reflex auch bei
ihr nachfühlte „Und
die Haut die
du hast“ – „Ach
was das ist
heute sogar nur
B-Qualität“ die Stimme
eines kleinen Jungen
stach von außen
zu uns „Mama!
Das sind ja
zwei Damen!“ – „Nein
versetzte jemand „Damen
sind das nicht“
wir lachten uns
kurz kaputt und
streichelten und küssten
einmal plauderte uns
ein Kerl in
die Laube „Ladies
ich sag das
nur aber da
drüben liegt ein
Spanner unter dem
anderen Busch nix
für ungut“ und
es war mir
sowas von egal
es war genau
wie ich diesen
gleißenden Nachmittag verbringen
wollte das durfte
jeder sehen der
zuschauen wollte nicht
wir mussten uns
schämen sondern jeder
der sich mit
etwas anderem abgab.
„Sag ihm Knipsen
kostet extra“ hauchte
sie zwischen zwei
Küssen und trank
mich weiter aus
mit den Lippen
und diesen unglaublichen
Fingern und ich
wusste als ich
ihre Finger überall
fühlte wie ihre
Zehen aussahen dass
mich das überhaupt
interessierte. Eigentlich bin
ich bei solchen
Sachen ganz still
fast schon introvertiert
aber jetzt in
der Öffentlichkeit dazu
mit einer Frau
weiß ich nicht
wie laut ich
nach ich weiß
nicht wie lange
auf einmal schrie
den größten Schrecken
bekam ich selbst
das dauerte wahrscheinlich
ein paar Momente
zu lange dann
fing ich an
zu weinen vor
Glück und einer
Welle aus Zärtlichkeit
die ich heute
noch nicht aushalte.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007„What plea avails
here?“ fragte sie
als sie mit
mir fertig war.
„Will ich gar
nicht wissen und
du musst jetzt
auch nicht noch
den Rest erklären“
sagte ich zu
ihr da hatte
ich mich schon
verliebt. Wir setzten
uns auf unter
unserem Gebüsch und
grinsten in die
Runde in der
Klarheit dass die
Hälfte von den
unschuldigen Blicken uns
seit einer Stunde
zuschaute das war
wie Aufwachen. „Jetzt
Frühstück“ grinste sie
„Zu faul“ grinste
ich darum blieben
wir einfach sitzen
und schauten diesmal
allen anderen zu
rempelten uns mit
den Schultern fochten
mit den Zehen
bissen einander in
die Ohren kugelten
uns unter dem
Busch und verglichen
unseren Mädchengeschmack von
dem ich gar
nicht wusste dass
es einen gab.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Wir fachsimpelten. „Wie
wär’s mit der?“
„Vergiss es. Viel
zu ungebildet. Aber
die am Brunnen
wär eine Sünde
wert.“ – „Du spinnst.
Mit dem Hintern?“
„Ja aber schau
mal wie die
sich bücken kann.“
„Okay die Fesseln
machen einiges wett.“
„Nehmen wir sie
doch einfach mit
dazu also ich
hätt schon Lust.“
„Du.“ – „Was.“ – „Ich
bin froh dass
du mich ausgesucht
hast.“ – „Was besseres
kam nicht nach.“

Den Abend besoffen
wir uns viehisch
wie wir aufgewacht
sind glauben Sie
mir sowieso nicht.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Die Beziehung dauerte
das ganze Jahr
von mir aus
gesehen ich hielt
sie die ganze
Zeit geheim ich
habe nie über
mich gebracht zu
sagen dass ich
neuerdings lesbisch bin
war ich auch
nicht ich wunderte
mich nur plötzlich
wie fantasielos ich
die ganze Zeit
war dass ich
mir penetrationsfreien Sex
nicht mal vorstellen
konnte dabei wusste
man nie wenn
sie ging ob
sie zurückkam darum
behielten wir unsere
eigenen Wohnungen manchmal
wäre mir am
liebsten gewesen wir
hätten ein Hotelzimmer
benutzt. Einmal haben
wir es sogar
getan. Es war
der beste Sex
den ich je
hatte. Bisher. Noch
etwas das ich
mir bis zu
ihr nie zugetraut
hätte dass ich
auf gemäßigten SM
so abfahren konnte
es ist nicht
wilder Sadismus kein
gegenseitiges Wehtun und
schon gar kein
Verprügeln man muss
nur darauf kommen
wie viel man
zu verschenken hat
am meisten und
am schönsten ist
sich selbst ganz
man braucht auch
keinen Koffer voll
Geräte es reicht
ein guter Gürtel.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007„Wollen Sie noch?“
fragte ich um
die Situation zu
entkrampfen als sie
merkte was sie
da redete. Ja.
Es ist gleich
zu Ende. Wir
sahen uns eine
Woche nicht früher
konnte ich Monate
ohne Sex auskommen
vor ihr waren
es zwei Jahre
und nach dieser
Woche hätte ich
ihr fast schon
am Flughafen den
Rock vom Leib
gerissen dabei kam
sie gar nicht
dort an das
ist der Nachteil
an diesen Autos
man kann niemanden
mehr vom Bahnhof
abholen. Ich stellte
mich wie eine
Nutte an die
Ausfahrt an der
sie rauskommen musste
und es schien
sie freute sich
sogar. Es war
unser Einjähriges sie
hatte keinen Nerv
für Jahrestage das
erwartete auch niemand
von ihr es
passte nicht zu
ihrer Persönlichkeit da
war sie wie
eine Katze aber
ich hatte dran
gedacht und ich
wollte sie ausführen
wie das Jahr
zuvor zu dem
Schuhladen zu dem
Antiquariat in den
Hofgarten es bedeutete
mir was verstehen
Sie? Ja sicher
ich bestellte ihr
noch was Hartes
to kill the
pain und verstand.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Sie holte Luft.
An dem Schuhladen
verzog sie keine
Miene sie studierte
die Auslage kannte
sich mit allem
aus hätte sich
mit dem Verkäufer
in einem Fachgespräch
über die Kollektionen
fast angelegt und
nahm mich als
sie beschlossen hatte
heute nichts zu
kaufen an der
Hand und zog
mich Richtung Antiquariat
aber ohne es
zu erkennen ohne
Augenzwinkern es war
meins nicht ihres
und schon gar
nicht unseres. Der
Insider funktionierte nicht
mehr. Können Sie
sich vorstellen wie
mir zumute war?
Ich dachte nicht
mit Waffen arbeiten
zu müssen und
fuhr jetzt doch
die stärkste auf
schluckte die ersten
Tränen und bei
sowas muss man
sich ja immer
gleich zwanghaft zum
Affen machen darum
legte ich los:

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007To ———

Ah, wherefore, lonely, to and fro
Flittest like the shades that go
Pale wandering by the weedy stream?
We, like these, are but a dream:
Then dreams, and less, our miseries be;
Yea, fear and sorrow, pain, despair
Are but phantoms. But what plea
Avails here? phantoms having power
To make the heart quake and the spirit cower.

„Das kennst du?“
Ich knickte ein.
Es war Melvilles
verbesserte Fassung vielleicht
die er wirklich
in den 80ern
verwendet hatte die
in der Schmerz
vorkommt. Das wissen
nur John Bryant
Hershel Parker und
Harrison Hayford persönlich
und ihre zweieinhalb
Hiwis und dann
noch wir beide
und sie hatte
es vergessen jetzt
wartete ich schon
darauf dass sie
anfing mit ich
hab jemanden kennen
gelernt es hat
nichts mit dir
zu tun wir
waren uns in
letzter Zeit vielleicht
zu nah merkst
du denn nicht
die Leichtigkeit ist
weg wir haben
uns genommen weil
wir miteinander konnten
und was hab
ich jetzt am
Backen ein eifersüchtiges
Elend und was
soll ich sagen
natürlich passierte es.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Ein Ding wie
unseres war ein
derart seltenes Geschenk
dass es einem
jederzeit wieder eingesammelt
werden kann. Die
Schuld liegt im
Begehren deshalb besteht
die Folter im
Zeigen der Instrumente.
Ich werde nie
wieder jemanden finden
der Binde- von
Gedankenstrichen unterscheiden kann
und überhaupt weiß
was ein Geviertstrich
ist ich hör
schon selber wie
lächerlich das klingt
es ist aber
alles was mir
geblieben ist ich
bin ihr zu
nahe gekommen so
nahe dass die
Leichtigkeit aus der
wir bestanden stiften
ging das werde
ich nie wieder.

Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007Am Schluss der
kein Ende war
fing ich hilflos
mit ihr zu
diskutieren an warum
Melville die passions
durch die miseries
ersetzt hat obwohl
dann das Versmaß
nicht mehr stimmt
was glauben Sie
was sie zu
mir gesagt hat?

Ich schichtete Türme
aus unseren Whiskygläsern ———

Mein Gott ist
doch nur ein
Gedicht.


Bilder: Allegorya als My Inner Primitive von Carly Jane, 23. Mai 2007; Lizenz: G. Klaut.

Special thanks for leitmotifs to Neil Gaiman: Death. The Time of Your Life, November 1997.


Allegorya’s Inner Primitive, Carly Jane 2007

Written by Wolf

17. August 2007 at 11:11 pm

Posted in Wolfs Koje

Rockwell Kent Bach

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Update zu Vom Umgang mit Ungeheuern und Urtexten:

Was wir über die Moby-Dick-Illustrationen seitens Rockwell Kent wissen:

Moby-Dick, 3 Bände, Lakeside Press 1930Der Mann wurde am 21. Juni 1882 in Tarrytown Heights im Staat New York geboren und starb am 13. März 1971 in Plattsburgh, ebenfalls New York State. Dazwischen wurde er Autor, Maler und Grafiker.

Laut der deutschen Rathjen-Übersetzung bereitete Kent sich auf den Job, Moby-Dick zu illustrieren, vier Jahre lang vor – durch Museumsbesuche, einschlägige Studien, Gespräche mit Walforschern und die Fahrt auf einem Walfänger.

Das ist ein Arbeitsethos, der sichtbar dem Detailreichtum und der Ausdruckskraft dieser denkbar schlichten Technik zugute kam, und an dem sich heutige Illustratoren und deren Geldgeber gerne wieder orientieren dürfen.

Die fertigen Zeichnungen erschienen 1930 in einer auf 1000 Stück limitierten Ausgabe bei Lakeside Press, in drei Bänden wie die allererste, die Londoner, der beiden Erstausgaben 1851. Das war sechs Jahre nach Melvilles Wiederentdeckung als Schriftsteller mythologischen Ausmaßes, ja ein wesentlicher Teil seines Revivals ab 1924, und sichtlich ein Versuch, dieses Monument von Buch auf seine archaische Qualität zurückzuführen. Die Ausgabe an sich ist klassisch geworden, der Versuch also gelungen.

Seitdem wurden sie in ungezählten Ausgaben nachgedruckt und werden wie kein anderes Look & Feel mit dem Text von Melville identifiziert. Erstmals vollständig in einer deutschen Ausgabe erschienen sie erst Oktober 2004 im Rathjen, die englische Ausgabe der Wahl mit sämtlichen Rockwells ist die bei Modern Classics.

Kents Bildideen lassen immer ahnen, welche Wucht in Moby-Dick selbst steckt, und reihen sich so in die Schar der Kommentare, Bearbeitungen und Kompilationen ein, die die Unerschöpflichkeit von Melvilles Roman bezeugen. Nicht die Kanonisierung durch die Universitäten, sondern die von Kent illustrierte Ausgabe machte Moby-Dick in Amerika zu einer allgegenwärtigen Kulturikone.

Paul Ingendaay nach Friedhelm Rathjens Bildnachweis.

Was wir über Johann Sebastian Bach wissen:

Er liebte die Altstimmen nicht, Bachs Bibelvertonungen sind sowieso meistens Männergeschichten – eine der loseren Verbinden zwischen der Bibel und Moby-Dick. Bei Bach gibt’s, wenn schon Frauen, dann Sopräne. Am besten ist er instrumental und passt kurioserweise ganz gut zu Rockwell Kent (8:22 Minuten, Vollbildmodus einschalten lohnt sich).

Captain Ahab, Chapter XXX

Bilder: Lakeside-Press-Ausgabe via Larry Voyer; Captain Ahab mit der Pfeife aus Kapitel 30: Die Pfeife: Rockwell Kent Gallery, Plattsburgh State Art Museum;
Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

14. August 2007 at 2:56 am

Posted in Reeperbahn

Rettet die Moleskine

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Update zu Die weiße Walin lebt:

Ahoi Polloi, Rettet die Wale, 8. August 2007

Bild, Text, Konzept, Idee, Script, Lektorat, Grafik, Idee, Konzept, Recherche, Kreation, Programmierung, Webmaster, Ringmaster, Illustration, Layout, Design, Typografie, Marketing, Vertrieb, Human Resources, Seitenpflege, Markenpflege, Kundenpflege, Art Buying, Art Direction, Creative Direction, Kontakt, Public Relations, Übersetzung, Content Management, Moderation, Trost & Rat, Bühnenbild, Beleuchtung, Kulissenschieben, 1. + 2. Geige, Streicherensemble, Holz- + Blechbläser, Blechtrommel, Maultrommel, Klavier, Lead- + Rhythmusgitarre, Leading Vocals, Bass, Schlagzeug, Mundharmonika, Kamera, Soundtrack, Gaffer, Best Boy, Key Grip, Regie, Produktion, Casting, Catering, Peitsche, Zuckerbrot, Koch- und Backrezepte, Inbrunst, Hingabe, Zärtlichkeit, Freizeit, Blut, Schweiß, Tränen und Copyright: Ahoi Polloi, 8. August 2007; Lizenz: G. Klaut.

Written by Wolf

12. August 2007 at 12:01 am

Für Moby-Dick gibt’s keine Orden

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Über eine große weis(s)e Walin im russischen KaviarKarpfenteich

Elke macht ein Update zu: Voll der Moby
und erst recht zu Die Welt spricht Moby:

Elke HegewaldAllzu viel erfährt der virtuelle Fremdling nicht im kyrillischen Labyrinth des World Wide Web – über die Frau, bei der Herman Melvilles Weißer Wal russisch sprechen lernte. Nicht mal ein Foto ist aufzutreiben. In einem Land, in dem so viele Leute Poeten sind, ohne auch nur selbst eine Ahnung davon zu haben, werden Übersetzer wohl nicht zu Helden ihrer Leser, wenn in ihnen nicht selber ein kleiner Puschkin wohnt oder sie nicht wenigstens ihren eigenen Moby-Dick geschrieben haben. Ich versuche trotzdem mal, ein Bild von ihr zu zeichnen, sei es auch ein Schemen… wie Der Wal in Melvilles erstem Kapitel

Inna Maksimowna Bernstein, Jahrgang 1929. Eine, wenn man den spärlichen Spuren glauben darf, geistig noch sehr rege alte Dame, die stramm auf die Achtzig zugeht. Berufsbezeichnung: Übersetzerin aus dem Englischen. Wobei schon das nicht so ganz stimmt: die fremdsprachige Ausschließlichkeit ist wohl erst mit den Jahren gewachsen und die junge Bernsteinin soll sich früher auch schon mal in dänischen Übertragungen versucht haben.

Geboren ist sie in Moskau. Und ihr Elternhaus bezeichnete sie 2001 in einem Interview freimütig als nicht sonderlich literaturverbunden. Um gleich darauf – wie könnte es anders sein, wenn man Bernstein heißt – mit einer jüdischen Großmutter väterlicherseits herauszurücken, die jiddische Gedichte schrieb und darob sogar mit einem kleinen Eintrag in der Encyclopaedia Judaica verewigt ist. Worauf die inzwischen selbst betagte Enkelin nicht wenig stolz zu sein scheint.

Für die waschechte Moskwitschka Inna B. kam eigentlich für die Studien andrer Herren Sprachen nur die philologische Fakultät der Moskowskogo Gosudarstwennogo Universiteta (MGU) in Frage, was auf Deutsch die Staatliche Moskauer Universität ist. Und so geschah es, im Studienfach Romano-germanische Philologie. Die Absolventen der Filfak (Filologitscheskij Fakultet) zeichneten sich immer durch die solide bis exzellente Beherrschung fremder Idiome aus; das weiß man – hat man doch in fröhlichen Studentenzeiten selber ein paar fesche und redegewandte Austauschstudiosi von da gekannt.

Bernsteins erste veröffentlichte Übersetzung waren die humorigen Told after Supper-Geschichten von Jerome K. Jerome, den die Welt vor allem als Autor seiner berühmten – und in Deutschland als Heinz-Erhardt-Klamauk verfilmten – Drei Mann in einem Boot kennt. Es folgten Werke von Sir P. G. Wodehouse ebenso wie weitaus Ernsteres, so Erzählungen von J. D. Salinger, Thomas Malorys Le Morte d’Arthur oder Captains Courageous von Rudyard Kipling.

Cover Moby-Dick 2007, russischNicht zu vergessen unser breitstirniger Wal, der zu ihren beeindruckendsten Leistungen zählen dürfte. Und das nicht nur, weil es immerhin stolze 110 Jahre brauchte, bis die Russen endlich auch ihren Moby-Dick (erschienen 1961, wahrscheinlich im Verlag Chudoshestvennaja Literatura) hatten.

Was mich eine vom Schicksal launig geschnörkelte Parallele ziehen lässt, die mir am Wegesrand auffiel: Genau so viele Jahre ist nämlich auch Inna Bernstein jünger als Herman Melville. Und – was beide wundersam über mehr als ein Jahrhundert geradezu verbindet – sie war, genau wie Melville, 32 Jahre alt, als sie mit dem Wal kämpfte. Genug der Spinnwebereien.

Was dagegen unbedingt noch hierher gehört: Die Bernstein scheint – was die Russen wiederum deutlich von den Deutschen mit ihren Jendis und Rathjen und wie sie sonst noch alle heißen unterscheidet – mit ihrer Übersetzungsversion bis heute allein auf weiter Flur dazustehen. Jedenfalls vermerken die mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder erscheinenden neuen Moby-Dick-Ausgaben bis auf den heutigen Tag: Übersetzung aus dem Englischen: Inna Bernstein. Die vorerst letzte stammt aus diesem Jahr, 2007.

Neben immer noch neuen literarischen Übersetzungen (zur Zeit wieder mal Wodehouse beim Verlag Ostoshje) beteiligt sich die ehrwürdige alte Dame an öffentlichen wissenschaftlichen Diskussionen zu Übersetzungstheorie und -praxis, ja sogar zu Übersetzungs-“Politik”. So erfährt der geneigte Leser in dem bereits erwähnten Interview auf die Frage nach nicht übersetzbarer Prosa Interessantes, durchaus eigenwillig Bernsteinisches, das einen Elkeschen Versuch wert ist, sie hier möglichst wörtlich übersetzt zu zitieren:

Ist dem Leser ein Buch nicht verständlich, bedeutet das, es ist nicht übersetzbar. Sehen Sie, so ist bei der Übersetzung von Ulysses [gemeint ist die russische Übersetzung] nichts Gutes herausgekommen. Überhaupt ist die Übersetzung dieses Romans teilweise unter dem Druck einer politischen Konjunktur entstanden; die Amerikaner tönten damals dauernd im Radio: “Jaaa, in der Sowjetunion ist der Ulysses immer noch nicht übersetzt!” Ich denke, das ist ein Buch für Schriftsteller. Um zu verstehen, was genau Leopold Bloom am 16. Juni 1904 in Dublin gesehen hat, … muss der Leser nach Dublin fahren. Andererseits kann man andere Autoren, die dem Weg von Joyce gefolgt sind, wunderbar übersetzen. Bei Faulkner, bei den Franzosen ist der stream of consciousness einfach großartig gelungen…

Für die so zahlreichen Übersetzungen englischer und amerikanischer Literaturklassiker über viele Jahrzehnte hat Inna Bernstein nie einen Preis bekommen. Befragt, ob sie das ärgere, antwortete sie mit Würde und in weiser Gelassenheit:

Wenn man auf dieses Thema zu sprechen kommt, sage ich gewöhnlich: Ja, es war nun mal so, dass ich zwei Reihen englischer und amerikanischer Bücher übersetzte – immer in Zeiten des Kalten Krieges. Wir haben unseren Beitrag zur Annäherung der Kulturen geleistet. Und ich hätte schon nichts dagegen gehabt, für den Moby-Dick von den Amerikanern einen Orden zu kriegen. Schließlich war unsere Arbeit für sie auch wichtig.

Nun, sie haben mir keinen gegeben…

St.-Basilius-Kathedrale Moskau 2006

Bilder: ozon.ru, St.-Basilius-Kathedrale, Moskau;
Lizenz: Fair Use, Creative Commons.

Written by Wolf

11. August 2007 at 12:01 am

Posted in Krähe Elke

Das Wesen des Mannes auf seine Essenz verdichtet

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Christian hat Kapitel 26: Ritter und Knappen gelesen:

Christian WestheideSchöne Beschreibung des Starbuck-Charakters über seine physischen Merkmale, irgendwo zwischen reanimierter Mumie und drahtigem Körper (ich stelle ihn mir Iggy-Pop-artig vor, diesen Starbuck-Leib, kein Gramm Fett, durch alle Extreme der Existenz gestählt und doch vor allem verfolgt von den inneren, eigenen Dämonen). „… das Wesen des Mannes auf seine Essenz verdichtet“ – so beschreibt Melville ihn zunächst. Dann aber wird er uns als überlegter, rationaler Mann näher gebracht, lediglich mit einem Aberglauben ausgestattet, „welcher in manchen Gemütern eher der klugen Einsicht entspringt, als dem Unwissen.“

Glauben ist also Unwissen und wahrer Glauben (wie er uns im folgenden dann auch geschildert wird) Wissen? Dazu fällt mir nur, ganz Atheist, folgender Satz ein: „Glaube ist nicht verifizierbares Wissen.“ Er trifft für mich ziemlich genau die Gewissheit, mit der Gläubige von ihrem Gott oder „jenem höheren Wesen, das wir verehren“ (Heinrich Böll in der witzigen Geschichte „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“) sprechen.

Kara Starbuck ThraceNun – von Gott spricht Melville sehr viel, wenn auch die genaue Bedeutung, wenn er z.B. vom „großen demokratischen Gott“ sich wohl eher der Walt Whitmans bezieht, und seinen Gedichten wie z.B. in „Für Dich o Demokratie“ oder in „Von Paumanok kommend“, immer wieder. Das Volk und Starbuck als ein Mann aus dem Volke und die Demokratie als ihre höchste Form, sie werden in diesem Kapitel besungen. Eine Demokratie allerdings, die gerade auf einem Schiff nicht herrscht, sondern besonders unter Ahab, aber eigentlich immer zur See, eher einer streng hierarchischen Diktatur ähnelt. Der Kapitän als Alleinherrscher und absoluter Gehorsam, alles andere ist Meuterei.

Aus Cape Cod kommt der gute Starbuck, damals wohl ein kleines Fischernest, heute ein Retreat für Bostoner und New Yorker, mit Strandvillen, SUVs, Segelbötchen rosa Pulli um die Schultern gelegt – na eben white & rich America mit einer Prise Kennedy-Liberalismus. Einen Mann wie Starbuck kann man sich dort nur schwer vorstellen, keine Iggy-Pop-Körper – eher fette in kurzen Shorts seh ich da. Sei’s drum, die Zeiten ändern sich eben.

Kara Starbuck ThraceStarbuck auch ein typischer Rationalist, wenn er beschrieben wird als mutiger Mann, der aber „Wale für seinen Lebensunterhalt“ umbringen will, nicht umgekehrt. Kein Fanatiker wie Ahab, kein Getriebener, sondern einer, der Geld verdienen muss für sich und seine Familie und beim Walfang landete.

Dann hebt Melville an zu einem Gesang auf die Tapferkeit der einfachen Leute, auch eine ganz und gar whitmansche und fast uramerikanische Art. Das ganze gewürzt mit einem fast sozialistisch-internationalistisch klingenden Ton, wenn er schreibt: „Menschen mögen im Verbund von Aktiengesellschaften und Nationen abscheulich wirken; …“ Wenn er von der „unbefleckten Mannhaftigkeit“, dem Glanz und der Würde der Arbeiter („der seine Hacke schwingt oder Nägel einschlägt“) schreibt, um schließlich bei der „demokratischen Würde“ zu landen, die ohne Unterlass von Gott auf alle abstrahlt. America the Chosen Nation (heute immer noch ein Gründungsmythos, aber auch Antrieb für solche Dummköpfe wie George W.B. und einige Präsidenten vor ihm, andere Länder zu „befreien“). Das Neue Jerusalem, erwählt, die Welt mit Demokratie zu beglücken und Ebenbild einer gottgewollten Ordnung. „Volksherrschaft,… unsere göttliche Gleichheit“ – davon träumt Ismael (Melville), und sie sieht er in Männern wie Starbuck verkörpert.

Starbuck in Cape CodDer letzte Absatz des Kapitels eine Art Gebet an den Gott der Demokratie, der auch der Gott der Welt ist. Beeindruckend, wie eine Staatsform, für die so viele heute nur noch Spott und Verachtung übrig haben (ich meine nicht Al Qaida, sondern in unserem Land das ganze Gerede von „mangelnder Führung“ und die Frustration über die Langsamkeit demokratischer Entscheidungsprozesse. Und bei manchem, nicht nur rechtem Gesindel, die Sehnsucht nach dem starken Mann oder der starken Frau, die endlich aufräumt mit der „Quasselbude“ in Berlin und all den Kompromissen und dem undurchschaubaren Europa etc. Wie schön ist es da, solch einem idealistischem, beseelten Mann zuzuhören, der in der Demokratie die höchste Form menschlicher Organisation erkennt – trotz der vielen schlechten Menschen, die er auch in Kapitel 26 nicht unerwähnt lässt. Ob er allerdings mit Demokratie auch das meinte, was wir in Amerika immer wieder erschüttert betrachten müssen in Kriegszeiten, das wage ich zu bezweifeln. Starbuck jedenfalls ist der Prototyp des fleißigen, entbehrungsfähigen Demokraten und Denkers, der aber Mensch ist, weil er auch Aberglauben und Zweifel in sich trägt. Schon in dieser kurzen Charakterskizze in Kapitel 26 wird ja klar, wie sehr er zum Antagonisten für Ahab werden muss…

Edward Hopper, Cape Cod Morning

Bilder: Katee Sackhoff: Battlestar Wiki; Starbuck bei Starbucks in Cape Cod: Buckland Blues Costumes; Edward Hopper: Le Blog de Posuto, 1950; Lizenz: Fair Use, Creative Commons.

Written by Wolf

10. August 2007 at 12:01 am

The New York Rant

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Update zu Happy birthday, Herman:

Bettie Page will teach youKürzlich gelernt: Herman Melville ist kurz vor der Battery geboren, unter einer Adresse, die es heute noch gibt, 6 Pearl Street, und die bestimmt auch schon vor zweihundert Jahren nicht die billigste war, praktisch mit Blick auf die Freiheitsstatue.

Auf Google Earth kann man durch The Narrows an der Freiheitsstatue vorbei den Battery Park und Pearl Street anfliegen, von rechts winkt Brooklyn Bridge (Helmut Grokenberger sagt: “Bruckland Bridge! Beautiful!”), dafür sieht man die Freiheitsstatue überhaupt nicht, entweder weil sie zensiert ist, weil sie sich in Seattle vorstellen, dass jeder Google-Earth-Benutzer nichts eiligeres zu tun hat als Screenshots von der Freiheitsstatue lizenzfrei zu missbrauchen, oder weil sie senkrecht von oben fotografiert wurde und nur ihr Schatten auf Liberty Island übrig bleibt. Die Stadt, die nie schläft, muss doch unbequem sein, in einem früheren Leben war ich da ja schon mal, ein halber Zentner Bücher aus dem Barnes & Noble in der Fifth Avenue zeugt davon. Ferner kann man den Hudson River hinaufdüsen, um mal zu gucken, was der schon alles gesehen haben muss, bevor er Manhattan umpült. Schöne Gegenden, bezaubernd vor allem die ganzen knuffigen Leuchttürme, sieben an der Zahl, die liebevoll von Google-Earth-Benutzern bebildert sind. Wäre so einer nichts für Melville gewesen? Aber nein, es musste ja Arrowhead sein, das heute zwischen lauter Parkplätzen am Arsch von Pittsfield, Massachusetts liegt. Fünf der sieben Leuchttürme im Hudson River sehen höchst geeignet dafür aus, Bibliotheken eines Süßwassermatrosen wie zum Beispiel die meinige aufzunehmen. Keineswegs mündet der Hudson wie angenommen in die Hudson Bay, die nach dem selben Herrn Hudson heißt, aber nach einer anderen Tour. Vielmehr entfaltet der Hudson River ein paar der schönsten Panoramen Amerikas, vorbei am Bärenberg, den man aus der ersten Donald-Duck-Geschichte kennt, in der Dagobert auftritt, und entspringt in einem waldigen Gebirge, das nicht einmal der Satellit von Google Earth je durchdringen wird, da wo das Gelände Adirondack Mountains heißt und man ständig das Fähnlein Fieselschweif umherwuseln sieht. New York, jedenfalls der Staat, ist doch ganz erstaunlich viel größer als das bisschen Lower East Side, das man aus Filmen mit Hugh Grant kennt. Zwischen dem Hudson River und der gleichnamigen Bay oben in Kanada liegen noch mindestens die Niagarafälle, mit denen sich der Nordamerikaner in Ermangelung Venedigs behilft, um Flitterwochen zu halten, und an die er sich dann mit seiner Neuerwerbung nicht so richtig heranzutreten traut, weil sie beide gewandet sind wie das Michelinmännchen und die Windschutzscheibe vom Leihwagen selbst bei dem, was sie hier unter Sonnenschein verstehen, so vollgesprüht wird, dass man hinterher gar nicht mehr zurück ins Motel findet, in dem sie bis vor sechs Stunden ihre Hochzeitsnacht auf einer quietschenden Pritsche bis die Zellennachbarn an die Wand geklopft und am Morgen Norman Bates an der Rezeption so blöd gegrinst aber hey es sind 106 Meilen bis Chicago und wessen Hochzeitsnacht ist das hier. Wenn das Henry Hudson geahnt hätte. Die Nordwestpassage hat er trotzdem nicht gefunden, was ihn wiederum in tragischer Weise mit der glücklosen Reise von Melvilles Pequod verbindet, aber ich schweife ab.

Sofort zur geografischen Buchhandlung gerannt, “Grüß Gott, ham Sie einen Stadtplan von New York?” Ob es denn einer von Downtown oder mit den Außenbezirken sein solle. Ja, ein bissel außenrum wär schon recht. Schublade hinter der Theke auf, fünf Stadtpläne in allen Größen rausgeblättert, mir in die Hand gedrückt, mit dem typischen Blick: Das ist genau das, was du brauchst, nach dem man sich kompetent bis zu Ende bedient fühlt, da macht keine Servicephilosphie was dran. Den von Rand McNally und den von Freytag & Berndt zur Kasse geschleppt, einen für die Außenbezirke und das Einordnen ins große Ganze, einen zum Andiewandnageln.

Jetzt weiß ich, dass es im Central Park tatsächlich eine Statue von Alice in Wonderland gibt, und wofür sie mich aber wirklich killen werden: Die Freiheitsstatue steht gar nicht in New York, sondern schon ein paar Seemeter drüben bei den Bauernschädeln in New Jersey.

Ich werde gerade mit einer Haarbürste versohlt

Bilder: Bettie Page™, The Bettie Page; Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

9. August 2007 at 11:25 am

Posted in Rabe Wolf

Starbuck und der demokratische Gott

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Endlich trifft man mal einen vernünftigen Menschen: Kapitel 26 gehört dem Obermaat Starbuck, und es ist eins von den großen.

Armistead Maupins Starbuck-BecherSolche Vize-Chefs – Starbuck kommt in der Hierarchie der Pequod gleich hinter Captain Ahab – kennt man entweder als verbiesterte ewige Zweite (“Second winner is first loser”) oder eben als eine Art Missing Link zwischen Chefetage und Sachbearbeitung; im allegorischen Falle der Pequod: zwischen Gott (oder welch hohe Macht Ahab immer repräsentiert) und der Menschheit (lies: Mannschaft), jedenfalls zwischen Oben und Unten.

Glück für Ismael, dass er mit Starbuck an die letztere Sorte geraten ist. Melville ist über der Abfassung von Kapitel 21 wohl endlich klar geworden, dass er Ismael nicht die ganze Zeit vorausahnend durch die Weltgeschichte (Manhattan, New Bedford, Nantucket) gurken lassen kann, sondern dass der Roman irgendwann einen anständigen Konflikt braucht. Und da sich der miese kleine Dienstgrad Ismael mit seiner lausigen dreihundertstel Lay bei Gefahr des Kielholens nicht gut selbst mit Ahab anlegen konnte, scheint in Going Aboard erstmals Starbuck auf, der als einziger auf der Pequod als Ahabs Gegenspieler auftreten kann.

Sein Charakter prädestiniert ihn dazu: Starbuck ist ja sowas von das Gegenteil zu Ahabs Fanatismus. Er denkt, bevor er redet, am allerliebsten lässt er Taten sprechen, und zwar besonnene. Die Vernunft selbst, ein kühler Kopf, ein ganzer Mann. So wird man zum Namenspatron einer Kaffee-Franchisekette.

Was das Kapitel so groß macht? – Für eine schlüssige Begründung möchte ich mich da auf die anstehenden Ausführungen der Kollegin Elke verlassen, die solche Sachen immer recht anschaulich und engagiert darzustellen pflegt. In meiner eigenen Bewunderung für Leute, die mit unangestrengter Fachkenntnis ihren Job tun, und schönen Formulierungen schau ich lieber nach, wie Recht Paul Ingendaay mit seiner Apologie der Rathjen-Übersetzung hatte:

Wer einmal mit Donnerstimme oder jedenfalls so donnernd wie möglich den letzten Absatz des 26. Kapitels („Ritter und Knappen“) bei Rathjen gelesen hat, dürfte jede andere Version für ziemlich zahm halten. Inzwischen ist es für mich keine Frage mehr, daß der Rathjen-Text über weite Strecken „funktioniert“, wenn auch unter beträchtlichen Opfern: Viele Sachen sähe ich gern redigiert.

Paul Ingendaay: Walgesänge bei Gegenwind.
Vom Lesen, Übersetzen und Rezitieren sowie einigen Besonderheiten in Friedhelm Rathjens Moby-Dick

Starbuck Becher, von Verbrauchern bearbeitetKlingt ja vielversprechend. Im Direktvergleich also der letzte Absatz von Kapitel 26, Ritter und Knappen, in der Übersetzung von Rathjen:

Wenn ich also hienach gemeinsten Matrosen und Abtrünnigen und Verstoßenen hohe Eigenschaften, wiewohl dunkle, zuschreibe; tragische Tugenden um sie herumwebe; wenn sogar der Beklagenswerteste, von ungefähr der zutiefst Erniedrigste, unter ihnen allen sich zuzeiten zu den erhabenen Höhen erhebet; wenn ich jenes Arbeiters Arm mit ätherischem Licht anrühre; wenn ich einen Regenbogen über seinen unglückseligen Sonnenuntergang breiten werde; dann tritt dabei gegen alle sterblichen Kritiker für mich ein, du gerechter Geist der Gleichheit, welcher du einen großen königlichen Mantel des Menschlichen über alle von meiner Art gebreitet hast! Tritt dabei für mich ein, du großer demokratischer Gott! der du dem schwarzen Sträfling Bunyan die bleiche poetische Perle nicht verwehret hast; Du, der Du in zwiefach getriebene Blätter feinsten Goldes den stumpen und almosenen Arm des alten Cervantes kleidetest; Du, der Du Andrew Jackson aus dem Staube auflasest; der Du ihn auf ein Schlachtroß warfst; der Du ihn höher hinaufschleudertest als einen Thron! Du, der Du bei all Deinem mächtigen, irdischen Schreiten Deine ausgesuchtesten Streiter immer aus den königlichen Kammern des niederen Volkes erwähltest; tritt darin für mich ein, O Gott!

und Jendis:

Wenn ich mich also hernach nicht scheue, auch gemeinen Seeleuten und Abtrünnigen und Verstoßenen edle, wenn auch dunkle Eigenschaften zuzuschreiben; wenn ich tragische Züge um sie webe; wenn sogar der Erbärmlichste, ja gar der Allergeringste von ihnen sich bisweilen zu den höchsten Höhen aufschwingt; wenn ich den Arm dieses Arbeiters in ein ätherisches Licht tauche; wenn ich einen Regenbogen über die sinkende Sonne seines Untergangs spanne; dann stehe Du mir bei gegen all die sterblichen Kritikaster, Du gerechter Geist der Gleichheit, der Du den ungeteilten Königsmantel des Menschentums über mein ganzes Geschlecht gebreitet hast! Ach, steh mir bei, Du großer demokratischer Gott! Der Du dem schwärzlichen Sträfling Bunyan die hellweiße Perle der Poesie nicht wolltest wehren; der Du den Armstumpf des alten, in Armut gefallenen Cervantes bekränzt hast mit zweifach ausgetriebenen Blättern feinsten Goldes; der Du Andrew Jackson aus dem Staube holtest, ihn auf ein Schlachtroß warfst und höher noch als auf den Thron ihn donnernd hoch emporhobst! Der Du bei Deinen Siegeszügen hier auf Erden die Besten deiner Kämpen stets aus dem königlich gemeinen Volke hast erwählt – steh Du mir bei, o Gott!

Die Kapitelüberschrift Knights and Squires haben beide mit Ritter und Knappen übersetzt, den Originaltext tipp ich jetzt nicht auch noch ab, weil Sie den leicht selber finden.

Starbuck hätte ebenso gehandelt.

Katee Sackhoff als Starbuck beim letzten Abendmahl

Text Ritter und Knappen: Zweitausendeins resp. Hanser; Text Paul Ingendaay: Schreibheft 57, September 2001; Bilder: gay news blog, 19. August 2005; Liberal Serving, 15. Januar 2007; cobolhacker, August 2008; Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

8. August 2007 at 1:07 am

Posted in Steuermann Wolf

Voll der Moby

with 4 comments

Update zu Die Welt spricht Moby:

Lesen in der Badewanne, VintageOnline existieren etwa 50 Volltexte von Moby-Dick im englischen Original, in der deutschen Übersetzung kein einziger, was man sich mit unterschiedlich strengen Copyright-Bestimmungen in USA gegenüber Deutschland erklären mag.

Gefunden werden sie am besten, indem man einen Satz oder einen längeren zusammenhängenden Satzteil aus einer Druckversion googelt — und zwar einen Satz oder Satzteil von solcher Beschaffenheit, dass sich in ihm wahrscheinlich seit 1851 nicht viel in der Orthographie geändert hat, der in der Londoner und in der New Yorker Version von 1851 möglichst gleich klang (und in beiden vorhanden war) — und ohne nennenswerte Zitatqualitäten.

Hat man zwei derart unauffällige Textstücke gegoogelt, machen die Ergebnisse immer noch einen so großen Unterschied aus, dass die Anzahl der Suchergebnisse um +/– 20% changiert. Ein aufstrebender Magister der Anglistik kann gerne mal einen Side-by-Side-Vergleich anstellen, dann kriegt er einen Gastbeitrag. Von der maßgeblichen, philologisch durcherschlossenen Northwestern-Newberry Edition abzuweichen stiftet nur Verwirrung.

Was den vorhandenen 40 bis 55 Online-Volltexten gemein ist: Keiner bis auf einen legt Rechenschaft darüber ab, auf welche gedruckte Version er sich bezieht. Nach annähernd einem Jahr Moby-Dick™ lässt sich arbeiten mit, verweise ich mit intuitiv reinem Gewissen auf:

Zwei mir bekannte Versuche zu Volltexten in Weblog-Form wurden eher wegen Überforderung als wegen Copyright-Issues abgebrochen. Da ist noch was zu holen.

Die maßgebliche Gesamtausgabe Werke Herman Melvilles erscheint als Northwestern-Newberry Edition of The Writings of Herman Melville und bleibt bei Northwestern University Press sowie antiquarisch lieferbar.

Bild: ƒ€ñЀ®èLLÅ; Lizenz: Public Domain.

Written by Wolf

6. August 2007 at 2:56 am

Steffi scheint von Bord

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Update zu Stephan kommt an Bord:

Stefanie DrecktrahWir haben sie gemocht. Sie uns vermutlich auch. Wir haben sie unterstützt. Und sie uns. Wir haben ein Lieblingsbuch geteilt, wir sind miteinander gesegelt, wir haben diskutiert, was Freundschaft ausmacht, und ob Wale oder Dosentunfische schützenswerter sind. Wir waren uns einig.

Sie war unser Mann im Verlag, sie zeitigte nicht nur Ergebnisse auf Google, sondern gar auf Amazon, wovor wir Lesebärchen nur neidisch erblichen. Wir bangten mit ihr, als sie die Wohnung, den Internetanbieter und den Lebensgefährten wechselte. Sie hatte Freude an der Sache und immer ein schönes Foto links oben. Wir hatten einander einen Sommer, genauer: zwei halbe Sommer. Und einen Herbst, Winter und Frühling dazwischen. Sie blieb 22 Kapitel lang.

Nach langer, schwerer Faulheit ist Steffi von uns gegangen. Wir harren ihrer Wiederauferstehung. Bis dahin bleiben uns der Schatz ihrer Beiträge und ihr Mahnmal auf der Mannschaft-Seite.

I'll be a good housewife

Und wenn ich jetzt den Rest der Mannschaft einschließlich mich selbst um Luziditäten zu Kapitel 26 bitten dürfte.

Bild: Net-Games.

Written by Wolf

4. August 2007 at 6:41 pm

Posted in Kommandobrücke

Geopfert

with 2 comments

Update zu Eingesang:

John Bryant hat 2002 ein paar Gedichte von Herman Melville zugänglich gemacht, die nicht einmal in der Standardausgabe The Poems of Herman Melville von Douglas Robillard stehen – weil Melville sie nämlich in keinem seiner drei, vier Lyrikbände gesammelt hat.

Um eins davon ist es besonders schade. Immolated (was bedeutet: Geopfert) zählt, nach dem Zustand des Manuskripts zu schließen (was bedeutet: eine besondere blaue Tinte, die Melville zu dieser Zeit verwendete, auf gelbem Papier), zu Melvilles frühen Gedichten (was bedeutet: auch schon vom Mittdreißiger), wurde vor Bryant (Seite 330) nie veröffentlicht und steht heute genau dreimal online, jedes Mal in der späteren, leicht verbesserten Version.

Ungeklärt bleibt, ob Melville frei erfindet oder sich auf eine wirklich stattgehabte Opferung bezieht. Bei seinem Auszug aus Arrowhead könnte er als Kehraus etliche seiner Gedichte verbrannt haben. Das macht nichts leichter.

Es folgt als Welturaufführung die Erstfassung.

Immolated

Children of my Tempe prime,
When One yet lived with me, and threw
Her rainbow over life and time,
Even Hope, my bride, and dame to you!
O, nurtured in sweet pastoral air,
And fed on daisies, light, and dew
Of morning meadows – spare, Ah, spare
Reproach; spare, and upbraid me not
That, yielding scarce to reckless mood
Bet jealous of your probable lot,
I sealed you in a fate subdued.
Have I not saved you from the drear
Theft and ignoring which need be
The triumph of the insincere
Elect of Mediocrity?
Rest therefore, free from all despite,
Snugged in the arms of comfortable night.

Precariously Tall Once Again (Too Many Books...As Usual)

Nachweise: Text Immolated: Herman Melville, nach John Bryant: Tales, Poems, and Other Writings. Bild: A Work in Progress; Lizenz: Creative Commons.

Written by Wolf

3. August 2007 at 1:12 am

Posted in Laderaum

Happy birthday, Herman.

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Am Sonntag, den 1. August 1819, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wird Herman Melville in New York City geboren. Er ist das dritte von bald acht Kindern der Eheleute Allan und Maria Gansevoort Melvill [sic]. Die Geburt findet unter ärztlicher Aufsicht zu Hause statt, in der Pearl Street Nr. 6, nur wenige Steinwürfe von der Battery an der Südspitze Manhattans entfernt. Am nächsten Morgen berichtet der stolze Vater seinem Schwager Peter Gansevoort von der Ankunft seines zweiten Sohnes: “unsere liebe Maria bewies ihre bekannte Tapferkeit in der Stunde der Gefahr, & es geht ihr so gut wie es die Umstände & die starke Hitze erlauben – und der kleine Fremdling hat gute Lungen, schläft gut & trinkt mit Maßen, er ist wirklich ein prächtiger Knabe.”

Ahab, The Call of the Wretched Sea

Nachweise: Text: Daniel Göske, 1. Absatz aus: Herman Melville. Ein Leben, Kapitel I: “Harte Zeiten”. Kindheit, Jugend, frühe Reisen (1819–1844); Lizenz: Creative Commons. Bild: Cover-Motiv zu Ahab: The Call of the Wretched Sea, 2006, Copyright unsicher, zur Feier des Tages wiedergegeben in 300 dpi druckfähiger Auflösung; Lizenz: höchstwahrscheinlich Public Domain, im Zweifelsfall aber Creative Commons.

Written by Wolf

1. August 2007 at 12:01 am

Posted in Moses Wolf