Moby-Dick™

Leben mit Herman Melville

Archive for August 2009

O Mädchen mein Mädchen (10, 30, 50, 70, 250, 260)

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Update zu Entschluss, Amerikas Goethe zu werden
und The Sorrows of English-Speaking Goethe Fans
(und zu Lachen uns die Engländer mit ihrem großen praktischen Verstande aus und gewinnen die Welt auch irgendwie):

Es wird wohl 1999 gewesen sein: Die New Economy wusste noch nicht, dass ihre sprühende Energie ein letztes Aufbäumen war. Die florierende Softwareklitsche, in der ich als Drehbuchschreiber alt werden wollte, unternahm geschlossen einen Spontanausflug in den Englischen Garten, um die Sonnenfinsternis zu bewundern, und weil es eine Softwareklitsche war, nahm sie nicht mal den für Silvester angekündigten Y2K-“Virus” ernst. Fin de siècle war ein parodistischer Anklang an den letzten Jahrhundertwechsel; im schaulustigen Summen und Brummen des Englischen Gartens sprach mich zehn Minuten vor Eintritt der totalen Sonnenfinsternis ein durchaus ansehnliches Mädchen an, ob ich mit ihr hinter diesem Busch da drüben, wo sie einst ein prägendes Erlebnis hatte, noch einmal “Liebe machen” wollte, bevor wir alle tot seien, und ich schlug es aus. Den Menschen ging es ein letztes Mal gut.

Goethe, Mayfest, 1775, AusschnittDas hat Altvater Goethe sich zu seiner Zeit schon selbst ausrechnen können, dass am Ende des Jahrtausends sein 250. Geburtstag anstand: 1999 feierte man nebenbei auch noch Goethejahr. 2009 stelle ich weder fest, dass es irgend jemandem meiner Bekanntschaft auffallend “gut” ginge, noch dass der Buchhandel etwelche Saltos schlüge, um Goethen zum heutigen 260. zu gratulieren. Schlimm genug, dass die vollständige Coverage der Feierlichkeiten zu einem deutschen Nationalfeiertag von einem Freizeitblog kommen muss, der sich tunlicher mit dicken Fischen befassen sollte.

Etwas frischer in der Erinnerung auch der Jüngeren liegt das Mozartjahr 2006: Aus dem war auch schon im Sommer 2005 die Luft raus vor lauter Ankündigungen, wie toll alles wird, und Beteuerungen, wie zeitgemäß und mitreißend Mozart schon immer war. Und da entsinne ich mich einer Website, die Telephonklingeltöne aus Mozart-Themata zum kostenpflichtigen Download anbot; meine dadurch induzierte psychosomatische Akne klingt mittlerweile ab.

Dem Herrn Geheimrat, wie man vermuten darf, geht es gut, mit seinen 260 wahrscheinlich noch am besten von allen. Über Gedenktagen steht der drüber, allen voran über seinen eigenen. Eine Souveränität, die er mit fleißiger Vorsorge erreichen konnte: Als literarisches Debüt ein Bestseller, den man bis heute im Deutschunterricht kaputtquatschen oder wahlweise aus anderen als allein historischen Gründen lieb haben, den man sich kapitelweise telephonisch schicken lassen kann — was einen kategorialen Unterschied zu mozarteischen Klingeltönen darstellt! —, der jedenfalls zeitlos gültig geblieben ist und einen nie in Ruhe lassen wird — und im Spätwerk ein Pandämonium, das dem Sinn des Lebens ziemlich nahe kommt, so lässt sich in Frieden ruhen. Um den muss man sich also nicht verstärkt kümmern.

Wären wir zwanzig Jahre jünger, so segelten wir noch nach Nordamerika“, hat er 1819 der Aufzeichnung anheim gegeben, da war er 70. Mit 50, stellte er sich demnach vor, hätte er noch gern an der Besiedlung des Wilden Westens mitgewirkt.

Heute sind die Zeiten wieder danach, dass niemand von einigem Verstand einen Grund sieht, an seinem Geburtsort auszuharren, bis ihn die Sinn- oder die Wirtschaftskrise dahinrafft. Der amerikanische Westen ist erfolgreich besiedelt und riecht schon allenthalben nach Zusammenbruch, der Unterschied zu 1819 ist also: Weder mit 70 noch mit 50 wird jemand in Aufbruchsstimmung verfallen. Weil so eine Karriere heutzutage mit 30 gemacht ist.

Kamelopedia, Busenfreundin StrandkamelWeiter in der Rechnung: Junge Menschen werden heute unter dem Einfluss gehaltvoller Ernährung mit 10 Jahren geschlechtsreif, heiratsfähig im Sinne des Vermögens, eigene Nachkommschaft zu ernähren, werden sie mit 30 — einer psychologischen Altersschwelle, hinter der einem im Zug des gesellschaftlichen Lebens mit viel Glück vielleicht noch ein Stehplatz angeboten wird: In modernen Biographien klafft eine organisatorische Lücke von zwei Generationen.

Goethe erlebte, wie man, von der Bravo sozialisiert, sagen würde, “sein erstes Mal” mit 16 Jahren, was damals wie heute als statistisch normal und gesund angesehen wird. Und zwar mit einer drei Jahre Älteren, was als piquant angesehen wird, vor allem von beteiligten Personen um dieses Alter. Da war Goethe Jurastudent in Leipzig (was zusätzlich Naserümpfen über das herrschende Schulsystem aufwirft, in dem man kaum unter 18 sein Abi kriegt) und durfte immerhin theoretisch auf Erfüllung seiner naheliegenden Sehnsüchte hoffen. Und wie wir rückblickend wissen, ist aus beiden jungen Liebenden später noch was geworden.

Eine Definition von Normalität ist das statistische Mittel. Eine andere: das Wünschbare. Im Sinne der letzteren — gerechnet in Wertmaßstäben, die man nach diesem Vierteljahrtausend hinterfragen mag oder nicht — lebte Goethe bedeutend normaler als jeder rezente deutsche Michel, der einen Lebensunterhalt anstrebt und dazu noch unverschämt genug ist, nach einem Sexualleben in maßvollem Umfang zu schielen.

Nein, um Goethe, lebendig oder tot, muss man sich nicht sorgen. Danken wir ihm für seine durchwachsene Vorbildwirkung und wünschen wir das Glück uns selber, die wir es bitter brauchen können. Näheres dazu im Link der Woche, dem erfreulich breiten und tiefen Goethezeitportal der Münchner Uni.

Zur Fortführung einer angemessenen Goethe-Rezeption ergeht erneut die Frage von letztem Jahr: Was sind eigentlich die maßgeblichen englischen Übersetzungen und erreichbaren Ausgaben des Werther in den Fassungen von 1774 und vor allem 1787, was nicht mal der Metafilter so genau wusste?

O Mädchen mein Mädchen: Richard Tauber 1929 via Franz Lehár: Friederike, 1928 richtet sich schon an Goethes Zweite, 1770, diesmal eine drei Jahre Jüngere, der alte Feinschmecker.

O Mädchen Mädchen: Johann Wolfgang Goethe: Mayfest, 1775 (Ausschnitt);
Busenfreundin Schönkopf: Nu anonyme, 19. Jahrhundert, via Kamelopedia.

(Trivialwissen über junge Leute: Adolf Dallapozzas Enkelin heißt auf Youtube DistreSSedGirL und ist stolz auf ihren Opa.)

Written by Wolf

28. August 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Rogue’s Gallery: The Art of the Siren, #32

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Song: Andrea Corr: Caroline and Her Young Sailor Bold (3:58 minutes)
from Rogue’s Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs, and Chanteys, ANTI- 2006.

Official website Andrea Corr;
songs playlist.

Buy CD in Germany and elsewhere.

Image: Kissing Sailor, Life Magazine, New York Times Square, August 14, 1945:
Old sailor bold Glenn Edward McDuffie has been found at last! — and immediately spoofed.

Lyrics:

1. There lived a rich nobleman’s daughter
Caroline is her name we are told.
One day from her drawing-room window
she admired a young sailor bold.

2. “Oh”, she cried, “I’m a nobleman’s daughter,
my income’s five thousand in gold.
I’ll forsake both my father and mother
and I’ll marry a young sailor bold.”

3. Says William, “Fair lady, remember
your parents you are bound to mind.
In sailors there are no dependence
for they leave their true lovers behind.”

4. And she says, “There’s no one could prevent me
one moment to alter my mind.
In the ships I’ll be off with my true love
and he never will leave me behind.”

5. Three years and a half on the ocean
and she always proved loyal and true,
her duty she did like a sailor
dressed up in her jacket of blue.

6. When at last they arrived back in England
straightaway to her father she went.
“Oh father, dear father, forgive me,
deprive me forever of gold.
Just grant me one favour I ask you
to marry a young sailor bold.”

7. Her father looked up on young William
in love and in sweet unity:
“And if I be spared ’til tomorrow,
it’s married this couple shall be.”

Explanatory liner notes by ANTI-:

A 19th century Irish folk ballad, probably first recorded by Joe Heaney in the early 1960s. This is the classic story of a young woman in love with a sailor who follows him to sea, dressed as a man. The unusual twist is that it all ends so happily.

Written by Wolf

27. August 2009 at 12:01 am

Posted in Siren Sounds

Die letzte Woge bricht (Brööörrr)

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Update zu Ja, wie gesagt, sie war ja noch so jung:

Original und Fälschung (um 1818).

Alle Bildrechte: Sven “Daily Ivy” Knoch: Kreidebleich auf Rügen, 20. Februar 2009 —
dem 6. Todestag von Ulrich Roski. All things by immortal power pp.

Written by Wolf

22. August 2009 at 12:02 am

Posted in Laderaum

Weite Welt

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Update zu If you accept the pain, it cannot hurt you:

0. Links die Bäume, rechts die Bäume,
und dazwischen Zwischenräume.

1. Links die Wände, rechts die Wände,
und dazwischen Gegenstände.

2. Links die Berge, rechts die Berge,
und dazwischen Gartenzwerge.

3. Links die Schaufel, rechts der Besen,
zwischen Borsten Lebewesen.

4. Salzbergwerke, Kernkraftwerke,
Schutzanzüge, Fichtensärge.

5. Links die Kleider, rechts die Leiber,
Modehighlights, nackte Weiber.

6. Arbeitsmarkt, Zuckerbrot, Peitsche,
Regenwetter, doofe Deutsche.

7. Bananen, Mangos, Kokosnüsse,
Planung, Konsulat, Beschlüsse.

8. Pass verlängern, Seemannskleidung,
und dazwischen Ehescheidung.

9. Links die Poller, rechts die Poller,
Hafenkneipe, Kaffeekoller.

10. Kein Putzlumpen, keine Lüftung,
Raucherlunge, Schnapsvergiftung.

11. Oben Captain, unten Deppen,
Karren karren, Säcke schleppen.

12. Links die Segler, rechts die Segler,
Cockpit voller Schieberegler.

13. Links die Masten, rechts die Masten,
die kaum noch aufs Kielschwein passten.

14. Backbord See, steuerbord Hafen,
und dazwischen Inselaffen.

15. Links die Inseln, rechts die Inseln,
vollgestellt mit Palmenpinseln.

16. Links die Boote, rechts die Boote,
Svalbård—Bornholm—Lanzarote.

17. Links die Yachtern, rechts die Frachtern,
Horizont von vorn bis achtern.

18. Kalfatern, spleißen, reffen, steuern,
Lee über die Reling reihern.

19. Links das Wasser, rechts die Sandbank —
Anlegemanöver, Landgang.

Gar nicht mal so schlechte Neufassung von Wreckless Eric 1978:
The Proclaimers: Whole Wide World, aus: Life With You, 2007.

Written by Wolf

20. August 2009 at 12:01 am

Posted in Vorderdeck

Heimkehr

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Christina Dichterliebchen dreht zu Mariä Himmelfahrt poetisch die sachliche, aber linktechnisch unrettbar verrottete Ulrike von Ungefähr zum Licht:

Donna Ricci als Christina DichterliebchenDie Tiere vermehrt, die Pflanzen gefährdet.
Vieles ist besser, nichts gut.
Urlaub wird überbewertet:
Man sollte gern tun, was man tut.

Soundtrack: 17 Hippies: Frau von ungefähr, aus: Ifni, 2004.

Geldstock Arthur mit Ableger

Geldstöckchen: Arthur und Ableger haben Sehnsucht, August 2009.

Written by Wolf

15. August 2009 at 12:01 am

Posted in Galionsfigur

Gewinnspielauflösung August

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Update zu Buch im Blut:

Elke entwächst den Buchstaben und filmschafft uns alle into oblivion:

Statt Oscar: 1. Platz im August-Gewinnspiel. Glückwunsch! — Und als Preis? Barnes: Stachelschwein, Nöstlinger: Gurkenkönig, King: Carrie oder Rosendorfer: Ruinenbaumeister?

Bild, Text, Konzept, Idee, Script, Lektorat, Grafik, Idee, Recherche, Kreation, Programmierung, Webmistress, Ringmistress, Illustration, Layout, Design, Typografie, Marketing, Vertrieb, Human Resources, Seitenpflege, Markenpflege, Kundenpflege, Art Buying, Art Direction, Creative Direction, Kontakt, Public Relations, Übersetzung, Content Management, Customer Relation Management, Moderation, Trost & Rat, Bühnenbild, Beleuchtung, Kulissenschieben, 1. + 2. Geige, Streicherensemble, Holz- + Blechbläser, Blechtrommel, Maultrommel, Klavier, Lead- + Rhythmusgitarre, Leading Vocals, Bass, Schlagzeug, Mundharmonika, Kamera, Soundtrack, Gaffer, Best Boy, Key Grip, Regie, Produktion, Casting, Catering, Peitsche, Zuckerbrot, Koch- und Backrezepte, Inbrunst, Hingabe, Zärtlichkeit, Freizeit, Blut, Schweiß, Tränen und Copyright: Elke the Hochhaushex.

Written by Wolf

10. August 2009 at 12:01 am

Posted in Kommandobrücke

Lang ist die Eisenbahnfahrt, kurz ein Leben

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Update zu Denn das Herz ist durstiger als Kehle:

Es ist nicht wichtig, was wer wem verleidet.
Es ist kleindumm, wenn jemand bös beneidet.

Es ist beneidenswert, was jemand heimlich leidet.

Wir alle leben so gern im Bequemen.
Was du je grübeltest und schriest und sangst — —

Es scheint mir gut, wenn du beim Abschiednehmen
Statt um dich selbst um einige Freunde bangst.

Letzte Abfahrt aus München, Gedichte dreier Jahre, 1932.

Joachim Ringelnatz hat inzwischen lange genug mit mir zu schaffen, dass die Leute, die mich gefragt haben, wie lange Joachim Ringelnatz denn schon mit mir zu schaffen hat, gestorben sind und volljährige Kinder hätten, wenn sie im Kindsbett gestorben wären (ein krauser Vergleich, der schon seinen Sinn hat, glauben Sie mir).

Ich hätte nicht damit gerechnet, dass mir immer noch neue Lieblingsgedichte von ihm auffallen könnten; Schiff 1931 ist mir weitgehend entgangen. Doch ganz praktisch, wenn die Seitenaufteilung der wechselnden Gesamtausgaben gelegentlich umgeschichtet wird: Die Hälfte des noch letztes Jahr empfohlenen Doppelpacks gibt’s heute als Taschenbuch.

Schiff 1931

Wir haben keinen günstigen Wind.
Indem wir die Richtung verlieren,
Wissen wir doch, wo wir sind.
Aber wir frieren.

Und die darüber erhaben sind,
Die sollten nicht allzuviel lachen.
Denn sie werden nicht lachen, wenn sie blind
Eines Morgens erwachen.

Das Schiff, auf dem ich heute bin,
Treibt jetzt in die uferlose,
In die offene See. — Fragt ihr: „Wohin?“
Ich bin nur ein Matrose.

Gedichte dreier Jahre, 1932. Seinem bewährten Hamburger Freunde Muckelmann (Carl M.H. Wilkens)

Dieses schulterzuckende “Ich bin bin nur ein Matrose” findet man oft — vielleicht sogar in sich selber. Bedauern kann erleichtern. Den Besten mag nicht alles vollends wurschtegal sein, helfen können sie trotzdem nicht, und dann halt hey.

Menschen, denen ich das geschenkt hab, kennen mich heute schon gar nicht mehr, der Inhalt ist immer noch der gleiche wie in den antiken Henssel-Backsteinen. Schön, wenn man im Leben doch ein paar Konstanten behält.

Noch einer zum Mitrechnen: Letztes Jahr um diese Zeit ist Ringelnatz 125 geworden, an ein großes Bohei darum erinnere ich mich nicht; deshalb wird er am 17. November seinen 75. Todestag feiern. Oder wir. Oder ach, Sie wissen schon. Alles Gute, Ringel.

Cover Joachim Ringelnatz, Sämtliche Gedichte, Diogenes

Weil man dem Buchhandel ja alles selber wegfeiern muss:

Gewinnspiel

noch bis Sonntag!

Bild: Na, wo wird’s schon her sein.

Written by Wolf

7. August 2009 at 12:01 am

Posted in Moses Wolf

München am Meer IV: What I Heard about the Apple Barrel

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Update zu München am Meer III: Der größte Buchladen Deutschlands:

We had some heavy weather, which only proved the qualities of the Hispaniola. Every man on board seemed well content, and they must have been hard to please if they had been otherwise, for it is my belief there was never a ship’s company so spoiled since Noah put to sea. Double grog was going on the least excuse; there was duff on odd days, as, for instance, if the squire heard it was any man’s birthday, and always a barrel of apples standing broached in the waist for anyone to help himself that had a fancy.

“Never knew good come of it yet,” the captain said to Dr. Livesey. “Spoil fok’s’le hands, make devils. That’s my belief.”

But good did come of the apple barrel, as you shall hear, for if it had not been for that, we should have had no note of warning and might all have perished by the hand of treachery.

Robert Louis Stevenson: Treasure Island, Chapter 10: The Voyage, 1883.

Apfeltonne. Ernte 2009, Klaräpfel für Apfelstrudel/Apfelmus o.ä., bitte mitnehmen zu verarbeiten, Irene 4. Stock, 6. August 2009

Ernte 2009, Klaräpfel für Apfelstrudel/Apfelmus o.ä.: Irene aus dem 4. Stock, 6. August 2009;
Robert Louis Stevenson recommended online version: Edited with an introduction and notes by Franklin T. Baker, A.M., Professor of English in Teachers College, Columbia University, New York, Charles E. Merrill Co., Copyright 1909.

Written by Wolf

6. August 2009 at 7:07 am

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Perliana

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Hille Perl die Waldfee, Uwe Arens, Sony MusicHille Perl sieht mich. Mich als erstes, als die Fahrstuhltür aufgeht, beim Kramen in CDs, ein Zeichen, aber wofür bloß. Sie tritt mit Los Otros und dem Stockwerkleiter instrumentenbeladen heraus und verteilt sich ums Podium.

Die größte Kaufhausabteilung für klassische Musik Deutschlands, die beim Beck am Rathauseck, macht Matinee. Ihre erste, weil Hille Perl mit ihren beiden Jungs gestern ein richtiges Konzert hatte und heute Abend schon weiter muss. Hab ich heute früh in der Zeitung gelesen: Ui, Hille Perl. Sofort hin. Von der Großmeisterin der Viola da Gamba und Professorin für Gambeninstrumente an der Hochschule für Künste Bremen hab ich eine CD mit abseitigen Bach-Konzerten, solo. Dafür, dass es Bach ist, macht die wirklich Spaß.

Hille Perl soll wohl gothic aussehen und wirkt wie die blühende Lebenslust. Sie ist schön wie Schneewittchen und sympathisch wie deine erste Liebe. Offener, klarer Blick, den sie mit jedem im spärlichen Publikum — zwei Sitzreihen sind nicht voll geworden — einmal wechselt, ansteckendes Lächeln. Sie erinnert sehr an eine Katze, eine schwarz-weiße, in Bewegungen und Färbung. Kurzes Röckchen mit hochraffinierten Netzstrumpfhosen, gehobenes Wolford. Los Otros, ihre Unterstützung Lee Santana (nicht verwandt) und Steve Player, sind schrullige Musiknerds. Schon beim Aufbauen der Instrumente ein eingespieltes Team, Frau Perl stimmt ihre Gambe noch vor dem Herausnehmen, im Kasten, an den Feuermelderkasten gelehnt. Das wird einen Sinn haben, irgendwas mit Resonanzkörper und Raumklang. Eine Combo, die bestimmt etwas aus dem macht, was sie vorzutragen gedenkt.

Ansage: Der Stockwerkleiter braucht ein Mikro, Frau Perl spricht ihre launigen, fachkundigen Worte unverstärkt, ihre Stimme trägt, einnehmend freundlich und unprätenziös. Himmel, die Dame ist als Professorin, Großmutter und Fee eine gleich dreifache Respektsperson, dabei möchte man jeden Moment hinaufrufen, ob sie hinterher auf ein Eis mitkommt. Wetten, dass sie Vanille mag?

Es gibt Auschnitte aus ihrer neuen CD Kapsbergiana, eine Sammlung aus einem Jahrzehnte lang verschollenen Notenbuch von einem gewissen Johann Hieronymus, vulgo Giovanni Geronimo Kapsberger, das kürzlich in der Universitätsbibliothek von Yale wieder entdeckt wurde: Libro terzo d’intavolatura di chitarrone. Das sieht Frau Perl ähnlich, dass sie sich auf sowas stürzt. Zum hundertelfzigsten Mal die Vier Jahreszeiten einfiedeln mögen derweil die Powermiezen, die als Mitnahmeartikel neben der Kasse liegen.

Eine Mutter hat zwei sehr kleine Mädchen mitgebracht und lagert sich mit ihnen neben den Sitzreihen an den Heizkörper. Frau Perl winkt ihr jüngstes Publikum zu sich und fragt sie aus, ob sie denn auch ein Instrument spielen. Es entsteht die paradoxe und doch sehr passende Situation, dass Frau Perl sich auf Augenhöhe mit kleinen Mädchen kauert und dabei auf ihrem Podest stehen bleibt. Die Mädchen wollen mal Geige lernen, worüber Frau Perl sich glaubwürdig freut.

Dann nimmt sie zwischen ihren Otros Platz. Blickewechsel, Sammeln, Ernstwerden. Der erste Bogenstrich summt durch die Abteilung, dass die CDs in den Ständern aneinander vibrieren. Lerninhalt des Vormittags: Die Wannenklampfen mit den irrsinnig überlangen Hälsen heißen schon nicht mehr Lauten, sondern Theorben. Und klingen unerwartet lustig: zwei verschiedene Sätze Saiten, bestimmt eine Oktave auseinander, die sich schon auf einem einzelnen Instrument gegenseitig ins Wort fallen und klimpern und hüpfen und brummen für zwei. Frau Perls Gambe hat keinen Ständer, sie muss ihn auf ihren Stiefelschäften lagern; leider obliegt sie der Unsitte, beim Musizieren die Augen zu schließen, was schon vor Nick Hornby verboten war. Das darf nur sie.

Das ist jetzt nicht wahr, dass diese Musik von 1626 ist, oder? Das wäre jedenfalls vor der Erfindung der Polyphonie, und das schnurrt und singt und quasselt durcheinander und überrascht an allen Ecken und Enden, und davon hat es viele. Kapsberger ein früher Bach, gar Mozart, ja Bob Dylan? Nein, aber auf dem CD-Cover steht, sie haben es los otrofiziert. Gute Arbeit anscheinend.

Sie wissen offensichtlich nicht im Voraus, was sie alles spielen werden, immer wieder sprechen sie sich ab, auch während der Stücke, wenn der Dritte ein Solo drischt — man darf es getrost mit modernen Ausdrücken belegen. Das Programm sitzt noch nicht blind, aber sie verstehen sich, und wozu hat Frau Perl den besten Ruf für Improvisation. Zwinkert sie zwischendurch immer wieder den kleinen Mädchen am Heizkörper mit den kugelrunden Augen und den aufgesperrten Mündern zu oder ist das mein Wunschdenken?

So altmodisch bin ich aber dann doch, um verpasst zu haben, dass Autogrammstunden jetzt Signing heißen. Meet & Greet ist dann für U-Musiker? Das Ende war zu schnell, ist aber organisch gewachsen, man vermisst nichts, muss nicht nach Zugaben grölen, es ist wie es ist und es ist gut. Ich stelle mich hinten an das Signing, wo sich alle drei Otros um einen Stehtisch ringen und Audienz halten, und überlege eine Ausrede, warum ich ihnen keine CD abkaufen werde — und zwar eine, die nicht lautet: “weil ich die für fünf Euro und nicht für die achtzehn neunzig, die der Beck für einen Aktionspreis hält, aus dem Amazonramsch raushol”, ich Notnickel. Vielmehr lausche ich, was Frau Perl mit ihren Verehrern zu bereden hat, man versteht sie weit. Sie lacht fröhlich, stellt ehrlich interessierte Fragen, hört zu, antwortet angemessen. Darf ich die mitnehmen?

Ich hab mein blanko Reinschrift-Moleskine dabei, das trifft sich gut. Mal sehen, ob Frau Perl sich mit anderen Kunstformen außer Musik auskennt. Das nehme ich mir vor, weil ich es ihr zutraue, nicht etwa, um sie reinrasseln zu lassen. Die Seite nach dem Ahab-Cartoon ist dran. Den Wunsch, dass sie darin blättere, verdränge ich, bevor er richtig aufkommt, denn Eitelkeit ist Todsünde. Frau Perl ruft gerade nach hinten einer Bekannten zu, dass sie gerade noch die Tourdaten in ihren Computer reinschreiben konnte — “dann is er gestorben!”

“Kannst du mir was zeichnen?”

Himmel, ich habe Hille Perl geduzt. Ich komme in die Hölle. Kaum winkt von fern eine Ahnung von Internet in einem Subtext, schon duzt sich’s wie von selbst.

Frau Perl lacht hell auf. “Zeichnen is ganz schlecht bei mir”, sagt sie. “Aber er hier hat Kunst studiert” und schiebt mein Moleskine ihrem Nachbarn zu. “You studied arts”, sagt sie zu ihm, “you draw him a picture.”

“I knew it”, mault er und füllt mit Grandezza den größten Teil der Seite mit einer vierbeinigen Spirale. “It’s a Kapsberger”, erklärt er dazu und schiebt das Buch weiter. Alle kritzeln was, Frau Perl zuletzt, sie schiebt das Buch in eine zweite Runde, sie balgen sich darum wie die jungen Hunde, die Seite wird ein Kunstwerk. Frau Perl schiebt es mir in die Finger:

“Schön so?” Es ist eine echte Frage.

“Klasse”, sag ich. Wenigstens Anfassen verkneife ich mir.

“Alles Gute!” nickt mir Frau Perl zu, kaum bekomme ich mein Buch verstaut.

“Danke für eure Arbeit”, sag ich, und vorsichtshalber: “Keep the good work up.” Das sagt man doch so, oder?

Das hat der Beck strategisch gut ausgedacht, dass man erst mit Frau Perl sprechen und dann an dem Tisch mit ihren neun CDs vorbei muss. Auf der Aguirre geht es um historische mexikanische Freiheitskämpfer mit girrenden Lauten und gurrenden Celli. Soll gut sein.

Autogramm Los Otros, Samstag, 1. August 2009

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Bilder: Hille Perl by Uwe Arens/Sony Music;
Autogramm.
An ihren Videos muss noch üben: Hille Perl: Johann Sebastian Bach: Cello-Suite BWV 1011, Sarabande.

Written by Wolf

4. August 2009 at 12:01 am

Posted in Rabe Wolf

Augustgewinnspiel: Happy 190th, Herman!

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Update zu Happy 189th, Herman!:

Herman Melville hat uns so viel geschenkt.

Heute wird er 190.

Schenken wir ihm was.

Was kann einer, der rein technisch-rechnerisch nichts mehr braucht, brauchen? Lassen Sie sich was einfallen! Die nächsten Weihnachten liegen näher als die letzten, da können Sie diese empathische Fertigkeit schon wieder einüben.

  • Ein Gedicht?
  • Eine hübsch gestaltete Geburtstagskarte?
  • Ein Seemannslied?
  • Den dramatischen Versuch, den er in seinem monumentalen Gesamtwerk nie selber schrieb?
  • Eine lässliche Sachbeschädigung in Form Ihres Lieblingssatzes von ihm, mit Edding auf eine Kneipentoilette?
  • Eine Runde Schiffchenbauen, Weidenpfeifchenschnitzen, Bleistiftkritzeln, Musikmachen, Singen, Vorlesen und/oder Land Art an See, Wald und Flur mit dem eigenen Kinde als späten Trost für seinen erst abwesenden, dann versagenden Vater?
  • Eine Runde ganz doll Liebhaben mit einem significant other als spätes Vorbild, dass es wenig hilfreich fürs Lebensglück ist, wenn man seine Frau besoffen die Treppe runterschubst?
  • Ein paar Stunden Arbeit für einen sozialen Zweck als späte Anerkennung für seine zwanzig Jahre im ungeliebten Zolldienst?
  • Eine Spende an die AIDS-Hilfe als Unterstützung für ungelebte wie geoutete Schwule?
  • Johoho, und ne Buddel voll Rum?

Suchen oder denken Sie sich etwas aus, schenken Sie es ihm und erzählen Sie im Kommentar davon — was es ist, warum es ihn freuen wird und wie Sie es überreichen (der Vorteil ist: Der Mann ist tot und sieht, hört und riecht jetzt alles). Die großartigsten Ideen und Umsetzungen gewinnen ein schönes Buch, das ich übrig hab oder ohne mir einen Arm auszukugeln beschaffen kann, oder eine gebrannte CD (privat und legal). Es gibt so viele Preise, wie Sie Begeisterungsschübe bei mir auslösen. Immerhin nullt Herman Melville, da lass ich mich nicht lumpen. Sie dürfen an Ihrem Preis mitwünschen, ich streng mich auch an.

Dergleichen darf man nicht verschleppen: Zumindest die Idee sollten Herr Melville und meine bescheidene, lediglich vermittelnde Person bis Sonntag, den 9. August 2009 um Mitternacht kennen. Ans Werk.

Stadtgründungsfest München 2009, Liebst du

Bild: Liebst du?, Bayerisches Nationaltheater München;
Link siehe auch Walking Tour.

Written by Wolf

1. August 2009 at 12:01 am

Posted in Kommandobrücke